Gesundheitskompromiss neu verhandeln!

Dem Solidarsystem drohen irreparable Schäden

Wettbewerb unter den Leistungsanbietern ist richtig, er kommt allen Versicherten zugute. Wettbewerb unter den Krankenkassen aber schwächt die Solidarität der Versicherten.

von Dr. Wolfgang Wodarg, Arzt und MdB (SPD) für den Wahlkreis 1 (Flensburg-Schleswig), ist u.a. Mitglied im Ausschuss für Gesundheit

1992 wurde der Risikostrukturausgleich (RSA) eingeführt, der die "Fonds" der 250 gesetzlichen Krankenkassen verbindet und die Belastungsunterschiede in Bezug auf Alter, Geschlecht, Einkommen und beitragsfrei Mitversicherte ausgleichen sollte. Die neuen Kassen analysierten ihre Ausgabenprofile sehr genau - und stellten erschrocken fest, dass nur fünf Prozent ihrer Versicherten 80 Prozent der Ausgaben verursachten. Der RSA glich die unterschiedliche Belastung der Kassen mit chronisch Kranken bei weitem nicht aus.
Seither werben die Kassen um die Wette - und zwar um möglichst viele und möglichst gesunde Versicherte. Eine Kasse, die sich für chronisch Kranke ins Zeug legt, lockt jene Versicherten an, die hohe Ausgaben verursachen. Die traurigen Folgen sind bürokratische Hürden bei der Leistungsgewährung, ausgedünnte Betreuungs- und Beratungsstrukturen und Vermeidung spezieller Angebote für chronisch Kranke. Um dieses im Kern marode System etwas gerechter zu gestalten, wollte der Gesetzgeber den bisherige RSA im Jahr 2007 durch einen morbiditätsorientierten RSA (Morbi-RSA) ablösen. Dieser wäre aufgrund der Vielzahl einzubeziehender Daten verwaltungstechnisch aufwendig, böte den Kassen aber einen stärkeren Ausgleich für die Versorgung von Chronikern.
Künftig soll eine neu zu schaffende Gesundheitsfonds-Behörde ihre Gelder auf die Kassen so verteilen, dass Risiko-Selektion sich nicht mehr lohnt. Der Gesundheitsfonds fand anfangs auch bei der SPD breite Zustimmung, weil er die risikogemäße Verteilung des Gesamtbudgets aller Kassen übernehmen, die Privaten Krankenversicherungen (PKV) in Fond und Risikoausgleich einbinden und den Wechsel in eine zunehmend durch Steuern finanzierte Krankenversicherung einleiten könnte.
Jetzt wird der gesetzlich bereits fixierte Morbi-RSA zurückgenommen und durch die Kopplung an den neuen Fonds in die Nähe der nächsten Bundestagswahl und damit auf unbestimmte Zeit verschoben. Zudem werden die privaten Kassen aus dem Fonds und damit auch aus dem RSA herausgehalten. Der Einstieg in die Steuerfinanzierung ist eine hohle Phrase angesichts des realen Ausstiegs des Finanzministers, der der GKV gerade die Tabaksteuer in Höhe von 4,5 Milliarden Euro entzogen hat. Hinzu kommt, dass weitere entsolidarisierende Hebel sehr unauffällig angesetzt wurden: Wenn die Kassen mit dem Fonds nicht auskommen, können sie nämlich entweder einen prozentualen Zusatzbeitrag oder eine "kleine" Kopfpauschale von den Versicherten fordern.
So hat sich die CDU/CSU zur Freude der privaten Versicherungswirtschaft mit ihren beiden Hauptforderungen durchgesetzt: Die Arbeitgeberbeiträge werden festgeschrieben und wachsende Ausgaben werden in Zukunft nur von den Arbeitnehmern getragen. Die SPD hat sich zu defensiv verhalten. Die Horrorszenarien wie die Forderung nach Ausgrenzung häuslicher Unfallrisiken waren CDU/CSU-Verhandlungstricks - und politisch chancenlos. Ausgrenzungen kommen jetzt durch die Hintertür.
Was als Erweiterung der Wahlmöglichkeiten der Versicherten bejubelt wird, bedeutet Einschränkung für all jene, die auf Solidarität angewiesen sind: Den Kassen sollen mehr und neue Möglichkeiten geboten werden, sich dort zu konzentrieren, wo Nachfrage lockt. Doch wer chronisch krank und arm ist, dem schaden diese Möglichkeiten mehr als sie ihm nützen.
Wettbewerb unter den Leistungsanbietern ist richtig, er kommt allen Versicherten zugute. Wettbewerb unter den Krankenkassen aber schwächt die Solidarität der Versicherten und stärkt nur die Position der Leistungsanbieter und der privaten Versicherungen. Denn stehen jetzt die 250 Kassen dem Monopol einer Kassenärztlichen Vereinigung oder einer Krankenhauskette oder internationalen Pharma-Multis gegenüber, so führt ihr Wettbewerb zu einer Schwächung der gemeinsamen Nachfragemacht der Versicherten - und damit zu tendenziell steigenden Preisen.
Zusammenarbeit statt Wettbewerb
Der ohnehin brüchige Kompromiss zur Gesundheitsreform muss deshalb neu diskutiert werden: Um die Versichertengemeinschaft gegenüber den Leistungsanbietern zu stärken, braucht es Zusammenarbeit statt Wettbewerb. 16 Arbeitsgemeinschaften, für jedes Bundesland eine, können die Kakophonie der 250 konkurrierenden Kassen von heute ersetzen. Jede Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) bündelt die Kraft aller in der Region aktiven Kassen und übernimmt so die Budget- und Strukturverantwortung. Versicherte und Arbeitgeber zahlen in einen Landesgesundheitsfonds ein, der das Gesamtbudget aller Kassen darstellt. Die Geschäftsführung der LAG schließt mit Kliniken, Ärzteverbänden und anderen Leistungserbringern bedarfsgerechte Verträge ab und ist für Struktur und Qualitätssicherung verantwortlich. Im LAG-Aufsichtsrat kontrollieren die einzelnen Kassen die Geschäftsführung und vertreten die Interessen ihrer Versicherten - so kann sich die IKK zum Beispiel für die Handwerker, die BKK für Industrieangestellte oder die AOK für Rentner und chronisch Kranke stark machen, ohne für ihr Engagement finanziell abgestraft zu werden.
Ein Risikostrukturausgleich wird überflüssig, zwischen den Bundesländern bestehende Unterschiede können durch einen Länderfinanzausgleich neutralisiert werden, der auch Steuerzuschüsse aufnehmen sollte. Die Krankenkassen als Vertreter ihrer Versicherten erhalten die Verwaltungskosten entsprechend ihrer Mitgliederzahl aus dem Fonds.
Gesundheitspflege ist eine gesellschaftliche Kernaufgabe, die ein liberalisierter Versicherungsmarkt nicht leisten kann. Die Solidargemeinschaft kann jedoch den Wettbewerb der Anbieter nutzen, um notwendige Leistungen in guter Qualität günstiger einzukaufen. Das müssen wir beachten, wenn wir in Deutschland weiterhin stolz darauf sein wollen, dass durch Krankheit, Alter oder Behinderung niemand in Not kommt. Und eines ist gewiss: Der Erhalt der Solidargemeinschaft ist im Zweifelsfall wichtiger als der Erhalt einer großen Koalition.

Quelle: spw 150 (August 2006)