Zeit, dass sich was dreht...

Editorial zur

Unsere "Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft" hat in ihrer nunmehr 28jährigen Geschichte manche Umorientierung vorgenommen, der wir sicherlich auch ihr heutiges Bestehen verdanken.

Unsere "Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft" hat in ihrer nunmehr 28jährigen Geschichte manche Umorientierung vorgenommen, der wir sicherlich auch ihr heutiges Bestehen verdanken. Die wichtigste war diejenige, die sich Ende der 80er Jahre abzeichnete und in einer neuen Träger- und Herausgeberkonstellation Anfang der 90er Jahre ihren Aus-druck fand. Hierbei spielte der Zusammenbruch des "Sozialismus" sowjetischen Typs eine zentrale Rolle, wirkten sich doch unterschiedliche Verortungen der Linken in der "alten Weltordnung" auch auf ihre sozialdemokratischen Teile aus. Andererseits waren es auch und gerade die Veränderungen im modernen Kapitalismus, in seiner Ökonomie wie auch in den Sozialstrukturen und Lebensverhältnissen, die zu einer Neuorientierung sozialistischer Vorstellungen jenseits überkommener innerlinker Grabenkämpfe drängten. Innerhalb der Zeitschrift und der mit ihr verbundenen Kräfte entwickelte lassen sich mindestens drei pro-grammatische Diskussionsstränge identifizieren:
• zum einen aus dem "Projekt Moderner Sozialismus", das sich auf die Suche nach den Elementen des neuen Kapitalismus wie auch einer "modernen" sozialistischen Alternative begab;
• zum zweiten aus dem 1989 verabschiedeten Berliner SPD-Grundsatzprogramm und dem darin enthaltenen Kerngedanken eines nachhaltigen ökologisch-sozialen Umbaus von Wirtschafts- und Lebensweise;
• zum dritten aus dem in der zweiten Hälfte der 90er Jahre aktiven "Crossover" von Diskussionslinien der sozialdemokratischen und der grünen Linken sowie reforme-rischer Strömungen der PDS.
Diese Kontexte sind weiter aktuell und haben in den Programmdiskussionen der SPD eine äußerst produktive Rolle gespielt. Schaut man sich die Beiträge in unserer Zeitschrift wie auch andere Dokumente aus dem spw-Umfeld an, so gibt es eine Vielzahl von diskursiven und daraus abgeleiteten programmatischen Aspekten, die für diesen Zyklus stehen. Hierzu zählen etwa die Kritik der "dualistischen Wirtschaftsstruktur" aus boomender Exportwirt-schaft und davon (relativ) entkoppelter Binnenwirtschaft und die daraus abgeleiteten struk-turpolitischen Vorstellungen für eine "neue Gemeinwirtschaft" unter Einschluss kommunal-wirtschaftlicher und mittelständischer Sektoren. Ein anderes Beispiel sind die Überlegungen zur "biographischen Selbstbestimmung" in Zeiten unwiderruflich wachsender Flexibilität und einer darauf aufbauenden Neujustierung des Sozialstaates, was in Überlegungen zu ei-ner "Arbeitsversicherung" ihren Niederschlag gefunden hat.
Anfang 2000 - im Zeichen der damals boomenden "New Economy" - versuchte spw diese verschiedenen Linien und Aspekte in den Thesen "Flexibler Kapitalismus - Moderner Sozia-lismus" zur spw-Jahrestagung 2001neu zu verknüpfen. Entscheidend war dabei erstens, den "flexiblen Kapitalismus" als eine Netzwerks- und Fondsökonomie kritisch zu analysieren und mit der Idee eines "Netzwerke-Sozialismus" zu verbinden. Zum zweiten - wenn auch nicht unumstritten - ging damit die Auffassung einher, die Realisierung sozialistischer Zielvorstel-lungen viel stärker unter dem Gesichtspunkt eines "ökonomisch-sozialen Kulturkampfes" zu sehen und weniger unter dem Gesichtspunkt eines regulativen Instrumentenbaukastens.
Diese Diskurse weisen viele Berührungspunkte zu den Debatten im Forum Demokratische Linke 21 auf. Die Restrukturierung der Partei-Linken war von Beginn an verbunden mit Be-strebungen zu einer programmatischen Modernisierung. Die Konzepte der Arbeitsversiche-rung und der Bürgerversicherung als Eckpunkte einer Modernisierung des Sozialstaates so-wie die Betonung der Prinzipien einer nachhaltigen Entwicklung als notwendige Grundlage gesellschaftlicher und ökonomischer Prozesse stehen ebenso für diesen Anspruch wie die Forcierung der Debatte um ökonomische Alternativen und die Entwicklung einer linken Wachstumspolitik.
Der übergreifende Leitgedanken- ergänzend zum klassischen Wertekanon der Linken - unse-rer programmatischen Weiterentwicklung ist die "Nachhaltigkeit" bzw. die "Kultur der Lang-fristigkeit" (Jospin). Wir verstehen dies nicht nur als Alternative zur kurzfristigen Gewinnma-ximierung des Shareholder-Value-Kapitalismus, sondern wenden uns auch gegen jene, die unter dem Motto der "Nachhaltigkeit" nur die Umschichtung (und Privatisierung) von Risiken im Blick haben.
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Während der rot-grünen Regierungszeit gelang es der Linken zu wenig, erforderliche Re-formdebatten zusammenzuführen und weiterzuentwickeln. Die (mehr oder weniger) sozia-listische Linke zog sich stattdessen sich häufig auf das Feld der "sozialen Fragen" zurück. Dies ist in zweierlei Hinsicht ebenso problematisch wie auch anregend:
• Erstens fehlt es an der Vorstellung einer substanziellen Verbesserung von Arbeits- und Lebensverhältnissen und von neuen, gesellschaftlich eröffneten biographi-schen Aufstiegs- und Gestaltungsmöglichkeiten.
• Zweitens wächst die Neigung, den Einfluss der (mit dem Kapitalismus gleichgesetz-ten) "Wirtschaft" auf die Gesellschaft lediglich eindämmen zu wollen, statt eine an-dere Art und Weise des Wirtschaftens anzustreben.
Damit sind die beiden Grundmotive des spw-Relaunch eigentlich schon benannt. Das diskur-sive Feld, auf dem wir in "langen Linien" die Diskussion führen wollen, wird von vier Schwer-punkten bestimmt. Zwei davon beschäftigen sich mit der Weiterentwicklung der großen programmatischen Komplexe der "sozialen Gerechtigkeit" (und des sozialen Sektors) und der "Innovation" (und des industriellen Sektors). Die weitere Diskurslinie handelt von normativen und regulativen Vorstellungen bezüglich der Arbeits- und Lebensweise in kultureller, indivi-dueller und solidarischer Hinsicht. Hier geht es um die Verknüpfung vom Anspruch der Selbstbestimmung mit den Anforderungen an Flexibilität im Lebens- und Erwerbslauf. Eine solche Linie kann nicht im leeren Raum stehen, sondern muss mit der vierten Diskurslinie, den politisch-rechtlichen Bedingungen und Mechanismen des Wirtschaftens, verbunden werden. Genau daran krankten alle bisherigen Debatten z.B. der Familienpolitik, die sich le-diglich auf das Individuum, nicht aber auf die kollektiven Zusammenhänge der Arbeitswelt bezogen. Bei allen Diskurslinien ist das Prinzip der Nachhaltigkeit für uns ein tragendes Re-formprinzip, das den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen im Blick hat.
Feld 1: Moderne Arbeits- und Lebensweise
Bezugspunkte sind die - von Richard Sennett so bezeichneten - Werte "lebensgeschichtlicher Zusammenhang" sowie "Nützlichkeit und Qualität des eigenen Tuns" und die gesellschaftli-chen Bedingungen ihrer Verwirklichung in den heutigen Zeiten der Flexibilisierung und Fragmentierung, Beschleunigung und Entwertung. Von hier führt eine Linie zum Feld 3, also der Zukunft des Sozialstaates - und zwar sowohl mit Blick auf den sozialen Dienstleistungs-sektor wie auch die soziale Absicherung einer "biographischen Selbstbestimmung". Aber es führt auch eine Linie zum Feld 4, nämlich zum "Kollegen Proteus", zur produktiven Kompe-tenz der "Werktätigen" (soziale Innovationen), die für den Umbau unverzichtbar ist. Es geht um das Prinzip guter Arbeit und des "besser statt billiger", wie es die IG Metall kürzlich pro-pagiert hat. Von großer Bedeutung sind für uns die Geschlechterverhältnisse und das Ver-hältnis von Familie und Beruf. Auf diesem Feld werden wir auch an unsere bisherigen Veröf-fentlichungen zur Formierung von Sozialstrukturen und Milieus anknüpfen
Feld 2: Öffentliche Güter - Politische Ökonomie
Es entsteht vielfach der Eindruck, die sozialistisch orientierte Linke habe sich vom Gedanken des öffentlichen Eigentums oder gar der "Vergesellschaftung der Produktionsmittel" still-schweigend verabschiedet. Die Auseinandersetzungen um das Verhältnis zwischen öffentli-chem und privatwirtschaftlichem Sektor werden sehr fragmentiert ausgetragen. Dabei ist das Terrain unübersichtlicher geworden, denn es gibt immer weniger eine klar verlaufende Linie zwischen beiden Sektoren, sondern eine wechselseitige Durchdringung, die allerdings vor allem als privatwirtschaftliche Durchdringung des öffentlichen Sektors verläuft. Die Rückkehr der Linken auf das Terrain der Ökonomie setzt voraus, hier eine gedankliche "Ord-nung" hinein zu bringen, das Verständnis von öffentlichen Gütern, öffentlichem Eigentum und öffentlicher Regulierung zu klären. Es stellt sich die Frage, ob es eine linke Variante die-ser neuen gemischten Ökonomie (bzw. neue Zwischenformen) geben kann. Kann es bei-spielsweise eine linke Varianten von "Public Private Partnership" geben? Das Spektrum die-ses Diskurses reicht von der Kommunalwirtschaft - reformpolitisch und praktisch von extre-mer Bedeutung! - bis zu alternativen Ordnungsrahmen in der Finanzwirtschaft und der (glo-balen) Fondsökonomie. Eine kritische Analyse der politischen Ökonomie erfordert zwingend, ihre internationale Dimension in den Blick zu nehmen.
Die Verbindungslinien zu den Feldern 3 und 4 sind offensichtlich: Kein Umbau von Ökono-mie und Sozialstaat ohne öffentliche Regulierung. Wir brauchen moderne Formen gesell-schaftlichen Eigentums.
Feld 3: Sozialstaat - soziale Dienstleistungen
Hier geht es - in Verbindung mit den Diskursen 1 und 2 - um die programmatischen Vorstel-lungen zur Neugestaltung der sozialen Transfersysteme wie auch des sozialen Dienstleis-tungssektors. Wir wollen die Sozialversicherung als Modell gesellschaftlicher Regulierung und zweckgebundener öffentlicher Fonds weiterentwickeln. Dabei ergibt sich der Leitge-danke für die Transfersysteme aus dem Grundsatz der "biographischen Selbstbestimmung". Für den Dienstleistungssektor ist eine Klärung des Verhältnisses zwischen öffentlichem, ge-mein- und privatwirtschaftlichem Bereich unverzichtbar. Qualitativ und quantitativ positive Entwicklungen auf den sozialen Dienstleistungsmärkten werden - in Zusammenarbeit mit den der Linken nahe stehenden Verbänden, Einrichtungen und Unternehmen - in den Mit-telpunkt zu rücken sein. Nichts ist in diesem Zusammenhang nahe liegender, als das Thema einer neuen, alternativen Gemeinwirtschaft erneut aufzugreifen.
Feld 4: Umbau: Innovation und Investition
Hier geht es - in Verbindung mit den Diskursfeldern 1 und 2 - um die programmatischen Vor-stellungen zur Realisierung von Innovations- und Wachstumskonstellationen in Verbindung mit einem ökologisch-solidarischen Umbau der Industrie- und Handelsstrukturen. Dabei handelt es sich um eine zielgerichtete Investitionslenkung in Felder des gesellschaftlichen Bedarfs und des ökonomischen Fortschritts. Hier gibt es vielfältige Rückgriffsmöglichkeiten auf schon bestehende Ansätze. Prototypisch sei hier auf die von Hermann Scheer u.a. vor-bildlich durchdeklinierten Ansätze zur Solarwirtschaft verwiesen. Neben dem Bereich Energie und Umwelt wird der Gesundheitssektor als ein zentraler Baustein für Lebensqualität, Be-schäftigung und Prosperität zum bevorzugten Feld von Innovation und Wachstum werden. Es stellt sich die Frage, unter welchen Vorzeichen eine neue Regulierungskonstellation aus-gestaltet werden kann (siehe Feld 2). Die Interessen der Klienten und die Kompetenzen der Beschäftigten müssen hier in einer originär demokratischen Perspektive berücksichtigt und mobilisiert (siehe Feld 1) werden.
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Als integraler Bestandteil in den Feldern dieser diskursiven Vierer-Matrix steht neben dem Leitgedanken der Nachhaltigkeit auch die Frage nach den internationalen Kontexten: Für alle Diskurse und deren programmatische Konsequenzen gilt, dass sie in letzter Konsequenz im-mer im Sinne eines europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells zu sehen, dann aber auch tatsächlich unter den Bedingungen der sog. Globalisierung realisierbar sind. Hiermit kann sich Europa noch stärker als eigenständiger Faktor in einem multilateralen internationalen Gefüge etablieren und gezielte Entwicklungskooperationen mit anderen Weltregionen auf-bauen.
Wir wollen dieses Programm in einer zeitgemäßen spw bearbeiten. Meinungsstark - gegen den Zeitgeist der Sachzwänge, Kapitalrenditen und sozialer Ignoranz. Links - im Austausch mit kritischer Wissenschaft, sozialer Bewegung und anderen Parteien. In der Sozialdemokra-tie - weil nur mit einer linken Volkspartei Reformen für die Menschen möglich sind.
Die Herausgeberinnen und Herausgeber

Quelle: spw 150 (August 2006)