Schule demokratisieren, um Gesellschaft zu demokratisieren

Demokratie geht grundsätzlich davon aus, dass alle Menschen in gleichem Maße fähig sind, Entscheidungen zu treffen, und keine kleine Gruppe dazu eher im Stande ist. Das Vertrauen in den Mehrheitsentscheid erklärt sich dabei aus der Überzeugung, dass sich in politischen Diskussionen die bessere Position durchsetzt, indem sie schlüssig, einsichtig und logisch erscheint. Eine Demokratie erfordert daher, dass Menschen bevor sie wichtige Angelegenheiten rational entscheiden, Informationen und unterschiedliche Einschätzungen zu Rate ziehen und dann selbst entscheiden, ohne sich zum Beispiel von plakativen Sprüchen beeindrucken zu lassen - kurz: Eine Demokratie ist auf Menschen angewiesen, die mündig sind.
Betrachtet man die derzeitige Schullandschaft stellt man fest: Die Bundesrepublik Deutschland leistet es sich eine der entscheidendsten gesellschaftlichen Institutionen in hohem Umfang von demokratischen Rechten, Lernen und Handeln auszunehmen. In Entscheidungsfindungen wird der überwiegende Teil der betroffenen Menschen, die SchülerInnen, gar nicht einbezogen obwohl die Konsequenzen für sie zwangsweise gelten. Es herrscht eine klare Machtstruktur von der Schulleiterin bis zum Fünftklässler, in der die Höhergestellten autoritär Druck ausüben und Sanktionen verhängen können, beispielsweise durch Notengebung oder ein ausdifferenziertes Arsenal an Ordnungsmaßnahmen. Damit verbunden ist eine weitreichende Fremdbestimmung (z.B. die Wahl, was man wie lernen möchte, wird durch Lehrpläne vorgegeben), die die Schülerinnen und Schüler in ihrer freien Persönlichkeitsentfaltung und Entwicklung zu einem demokratisch handelnden Menschen stark einschränkt. Kurz: Diese Schule entmündigt Schülerinnen und Schüler! Diese Schule ist autoritär und undemokratisch!

Das Bildungswesen reproduziert gesellschaftliche Verhältnisse

Die Schule ist die einzige Institution des Staates, die alle Mitglieder der Gesellschaft durchlaufen. Sie stellt in der Regel neben dem Elternhaus den prägendsten Faktor in der persönlichen Entwicklung dar. In der Schule entsteht die Gesellschaft von morgen. Doch wie geht das von statten?Wenn wir der Schule diese zentrale Rolle in der Prägung der Gesellschaft zusprechen, drängt sich die Frage auf, wie Schule im Moment unsere Gesellschaft beeinflusst.
Schule trägt ganz entscheidend zur Meinungsbildung der SchülerInnen bei. Wie man denkt und an Themenkomplexe herantritt, wo man sich Information beschafft und wie man mit diesen umgeht, wird hier im wahrsten Sinne des Wortes geschult. Ebenso werden Inhalte und Denkhaltungen transportiert. Die herrschenden Normen, Sitten und Weltanschauungen der bestehenden Gesellschaft finden in Lehrplänen und -büchern Niederschlag. Man denke nur an den Wandel, den Geschichtsbücher durchlaufen oder an den Umgang mit Homosexualität im Sexualkundeunterricht. Auch durch Akzentuierung bestimmter Aufgabenbereiche oder die Pflicht bestimmte Fächer belegen zu müssen, reproduzieren sich Inhalte und Denkmethoden immer wieder auf´s Neue auch wenn diese Prozesse meist komplexer und subtiler ablaufen.
Hinzu tritt der Aspekt, dass Bildung momentan das Bindeglied zwischen der gesellschaftlichen Herkunft und der gesellschaftlichen Zukunft des/der SchülerIn darstellt. Welche Schule der/die SchülerIn besucht und welchen Abschluss der/ die SchülerIn in der Tasche hat, entscheidet weitgehend über die Auswahlmöglichkeiten des Arbeitsplatzes. Aus dem Arbeitsplatz ergibt sich das Einkommensniveau, daraus die gesellschaftliche Stellung und (leider) auch die gesellschaftlichen Beteiligungsmöglichkeiten. Bildungschancen hängen jedoch in ganz entscheidendem Umfang vom Bildungsgrad, Einkommensniveau, von der gesellschaftlichen Stellung der Eltern ab - in Deutschland noch mehr als in anderen Industrieländern, wie nicht zuletzt Pisa bewiesen hat: Während nur 8,4% der Arbeiterkinder ihr Abitur erreichen, schaffen es 64,7% der Kinder deren Eltern der oberen Schicht angehören. Schule sorgt dafür, dass es weiterhin gering gebildete Menschen gibt, die die "Drecksarbeit" der Gesellschaft übernehmen ohne groß aufzumucken, weil ihnen als Haupt- oder Sonderschüler aus armen Elternhaus von Anfang an klar gemacht wird, dass aus ihnen nichts dolles werden wird. Arm bleibt arm, reich bleibt reich, mächtig bleibt mächtig.
Schule übernimmt neben dieser Zementierung der Gesellschaftsstruktur momentan ebenfalls die Aufgabe, wichtige Qualifikationen für das Beschäftigungssystem zu vermitteln, die Schülerinnen und Schüler auf die Arbeitswelt "vorzubereiten". Neben inhaltlichen Aspekten (die Ausrichtung der Bildung an reinen Wirtschaftsinteressen nimmt zu), tritt auch die Vermittlung von erwünschten "Werten" wie Ordnung, Strebsamkeit, Pünktlichkeit und Gehorsam hinzu. Die erwünschte Akzeptanz von Hierarchien, Konkurrenzdenken und weitreichender Fremdbestimmung bei der Tagesgestaltung (Zeiteinteilung, Arbeitsweisen, Inhalte) sind weitere Beispiele.
Nach außen muss jedoch stets das Gleichheitsversprechen "Chancengleichheit für alle!" und der Schein "Wenn du dich nur anstrengst und ganz lieb bist, kannst du auch was erreichen" gewahrt bleiben. Die Einordnung in die gesellschaftliche Sozialstruktur aufgrund rein an Leistung orientierten schulischen Erfolgen muss als gerecht und legitim angesehen werden, um die ungerechte Gesellschaftsstruktur an sich zu legitimieren.

Schule als Ausgangspunkt für Demokratie

In der Schule begegnet man der "Demokratie" als trockenem Thema im Sozialkundeunterricht. Das höchste der Gefühle ist ein Parlamentsbesuch, bei dem desinteressierte Schülermassen durch alte Gebäude geschoben werden. Eigene Erfahrungen mit demokratischen Prozessen? - Fehlanzeige! Die derzeitige Schule lässt nicht zu, Demokratie zu praktizieren.
Schule ist für praktizierte Demokraite dafür einen idealen Ort dar, weil in ihr unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammenkommen und miteinander Wege finden müssen, zusammenzuleben. -Gemeinsame Entscheidungsprozesse könnten hier im Kleinen gemeinsam entwickelt und gelebt werden.
Angenommen, Schülerinnen und Schüler müssten tagtäglich über die Angelegenheiten ihrer Schule und ihres eigenen Lernens selbst entscheiden, ohne Druck und Angst, würde sich einiges ändern: Da sich Schülerinnen und Schüler selbst auswählen würden, was sie wie tun möchten, hätten sie ein natürliches Interesse daran, ihr Ziel zu erreichen. Motivation für ein Thema führt dazu, dass man sich intensiver und aus eigenem Antrieb, auf eigenen Wegen damit auseinandersetzt. Dadurch würde die Lernqualität allgemein ansteigen, methodische Kompetenzen und Selbstständigkeit würden gestärkt. Erfolgreich lernen und damit seinem Ziel näher kommen, kann man jedoch am besten mit Unterstützung durch andere in einem harmonischen Umfeld. Man müsste sich also zwangsläufig mit den Meinungen und Wünschen anderer auseinandersetzen und Prozesse finden als pluralistische Gruppe miteinander leben zu können. SchülerInnen würden sich die Argumente anderer anhören und sich selbst in Meinungs- und Entscheidungsprozesse einbringen. Damit lernten sie ganz selbstverständlich, demokratische Handlungsweisen für ihr Leben zu nutzen.
Schülerinnen und Schüler erkennen den Wert von Demokratie und Grundrechten nicht, weil sie es im Sozialkundeunterricht so beigebracht bekommen haben, sondern weil sie "erfahren" haben, dass sie durch selbstständiges Denken und Handeln, auf ihr Umfeld konkret Einfluss nehmen können. Durch eine demokratisch strukturierte Schule werden sie geistig und methodisch befähigt und motiviert sich kritisch an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen.

Ein fortschrittliches Bildungssystem steht für eine demokratische Teilhabe aller und einer Gesellschaft kritisch denkender, von platten Welterklärungsversuchen oder Hetzparolen immuner BürgerInnen. Auch wenn es vor dem Hintergrund einer nach wie vor undemokratisch geprägten Gesellschaft und einer unvernünftigen Wirtschaftsordnung Schwierigkeiten aufwirft, ist jetzt eine umfassende, radikale Demokratisierung von Schule nötig.

Wie viel Demokratie von der Gesellschaft, von der Politik im Bildungssystem zugelassen wird, ist Prüfstein, wie ernst es ihr mit der Demokratie insgesamt ist!