Das Peking-Projekt der Postmaoisten

In der zweiten Folge dieser Serie über das China nach Mao trugen wir unsere Bedenken vor, nachdem die erste Folge sich den Luxus staunender Sympathie geleistet hatte. Folge drei bezog sich auf

die Kriegsvermeidungsstraegie, deren früher Theoretiker Friedrich Engels in seinen letzten Lebensjahren geworden war. Die deutschen Sozis wandten sich 1914 davon ab und zogen mit Kaiser Wilhelm und Hindenburg in den Kampf gegen den Zaren, dann gegen Lenin/Trotzki. 1933 überließ die SPD Deutschland folgerichtig den Nazis, die es mit ihrem Krieg um die Weltherrschaft zugrunde richteten. Kein Imperium hat Dauer. Die Zerstörung der Sowjetunion allerdings gelang erst Adenauer und Kohl an der Seite Ihrer US-amerikanischen Freunde im Kalten Krieg mit Hilfe des zum Sozialdemokraten mutierten Gorbatschow und des vormaligen Stalinisten und Quartalssäufers Jelzin. Der Erbe ist ein wodkaferner Putin.

In China verläuft das klüger. Der chinesische Stalin hieß Mao. Danach herrschte die Viererbande. Ihr folgte die neue ökonomische Politik. Im Unterschied zum Leninschen NÖP-Modell wurde daraus der chinesische Doppel-KK: Kommunistischer Kapitalismus und kapitalistischer Kommunismus. Das klingt wie hölzernes Eisen, macht die Feinde ratlos und zieht Investoren an wie die Motten das Licht. Während in bürgerlichen Ländern der Fordismus verschwindet, kommt er im Reich der Mitte so richtig in Fahrt. Dem Kapital-Import steht ein eskalierender Waren- und Kapital-Export gegenüber. Die Sonderwirtschaftszonen greifen landesweit aus. Der Markt mit 1,3 Milliarden Menschen bietet der Kapitalmaschine noch Zukunft für Jahrzehnte. Darauf setzen auch investierende Ausländer, die allerdings die Auswirkungen bei sich daheim unterschätzen. Längst ist absehbar, daß die Überkapazitäten der Autoindustrie infolge der in Kürze zu erwartenden chinesischen Exportoffensive weiter wachsen werden. Der Abbau von Arbeitsplätzen in Europa/USA wird chronisch.

Der chinesische Erfolg liegt im Aufholprozeß. Es geht zu wie in der Bonner Republik der frühen Jahre. Doch die 2. und 3. industrielle Revolution wird unter Partei-Kommando zielbewußt vorangetrieben. Offensichtlich lenkt eine Gruppe reflexionstüchtiger Post-Marxisten die Kapitalisierung des Landes nach dem frühmarxistischen Motto Stadt gegen Land, abgewandelt in Mega-Stadt mit Umlanderweiterung. Die neue Revolution beginnt als Industrialisierung, führt zugleich zur Informations- und Wissensgesellschaft und befördert China in die Spitzengruppe. Nachbar Indien folgt in einiger Distanz.

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, wir erinnern uns, geriet darob am 15. Mai vergangenen Jahres im Wirtschaftsteil ins Grübeln: "Das gibt Anlaß, über den Zusammenhang von Demokratie und Marktwirtschaft nachzudenken." Was also, wenn statt dessen Politbüro und Marktwirtschaft erfolgreich sind? Priorität kommt, wie könnte es anders sein, der innen- wie außenpolitischen Macht-erhaltungsbalance zu. Bei Wahrung ethnischer Pluralitäten sucht die Partei eine nationale und sozialistische Tradition zu entwickeln, die Chinas jahrtausendealte Kultur mit den maoistischen und postmaoistischen Erfahrungen des 20./21. Jahrhunderts verbinden soll.

Die Sowjetunion wollte den USA offen als zweite Weltmacht begegnen; China zieht die ökonomische Expansion der politmilitärischen vor, wozu es dank seiner erstarkenden wirtschaftlichen Potenz in der Lage ist.

Nachteile, die entstehen, weil der chinesische Kapitalismus von den Krisen des Weltkapitals abhängig wird, wandeln sich in den Vorteil, daß alle Welt inklusive USA die eigene Abhängigkeit vom Zustand Chinas begreift. Wollten die Bushies mit Peking umspringen wie mit Kabul oder Bagdad, riskierten sie den eigenen Untergang, ganz abgesehen vom Status der Atom-Macht. Kurzum, von dieser Position aus ist Rot-China nicht mehr abschaffbar, wie es zuletzt Gorba-tschows Moskau war. Fragt sich nur, inwieweit China noch rot ist und bleibt.

Das geht an die Adresse der KP und ihrer inneren Verfassung. Der aufmerksam beobachtete Kurs läßt auf vitales Spitzenpersonal schließen. Da das Land nicht wie die SU vor dem Westen kapitulieren wollte, mußte es militärisch verteidigungsbereit sein, ohne mit den USA gleichzuziehen, zugleich jedoch ökonomisch zur Weltmacht aufsteigen, was die übliche sozialistische Wirtschaft überforderte. Es sieht so aus, als sei das postmaostische Peking-Projekt dem Anarcho-Neoliberalismus und seinen Christenfundis nachhaltig überlegen. Es wäre eine Variante von "überholen, ohne einzuholen". Während die USA und Israel mit Europa im Gefolge feindliche Umwelten schaffen und aggressiv mit Militär und Geheimdiensten zu herrschen suchen, zieht China plurale Bündnisstrukturen vor, die zum einen den asiatischen Komplex bilden, zum anderen mit Ex- und Importen global ausgreifen. Pekings KP schafft es, das materielle Interesse des ganzen Volkes zu stimulieren.

Bleiben drei Gefahrenpunkte: Auf Dauer kann das Führungspersonal unfähig werden wie vordem das verkalkende Moskauer Politbüro. Dagegen könnte sich ein maoistischer Rückfall wenden, der Orwellsche Dimensionen mit sich brächte. Die dritte Gefahr ist nicht nur denkbar, sondern unbewältigte Gegenwart: Das industrialisierte Asien wird sowohl ökonomisch wie ökologisch Weltspitze, der daraus folgende Wettlauf um die Ressourcen ist ohne internationale Verständigung nichts anderes als ein globalgeographischer Weltklassenkrieg. Summa summarum: China/Asien im Aufbruch. Deutschland/Europa im Abbruch. USA im Kulturbruch.