Über die Notwendigkeit einer Wiederentdeckung

Globale Landwirtschaft und die Macht kapitalistischer Agrarindustrie

So erfreulich die Tatsache an sich war, es hatte etwas Eigentümliches, streckenweise auch Befremdliches, mit welcher Ausführlichkeit und freimütigen Sachlichkeit (nicht nur) die Mainstream-Medien .

... dem Themenkomplex globale Landwirtschaft vor und während der WTO-Tagung in Hongkong im Dezember 2005 Aufmerksamkeit zollten. Kaum zu übersehen war allerdings auch, dass dies ohne nennenswertes Zutun größerer Teile der Bewegungslinken erfolgt ist. Vielmehr blieb es hier zu Lande (wie bereits in den vergangenen Jahren) vor allem attac und Resten der BUKO, einigen wenigen NGOs sowie kleinbäuerlichen Zusammenschlüssen, z.B. der Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft, überlassen, diesbezüglich überhaupt so etwas wie kritische Öffentlichkeit herzustellen, mithin zu simulieren. Die Zeiten scheinen längst vergessen, als sich ganze Generationen junger Linker nicht zuletzt an der so genannten Hungerfrage (und somit an der Macht kapitalistischer Agrarindustrie) politisierten, meist sogar radikalisierten. Exemplarisch erwähnt seien in dieser Hinsicht der 1975 erstmalig veröffentlichte Klassiker "Vom Mythos des Hungers", die Film-Doku "Septemberweizen" über die (mittlerweile verblichene) Marktmacht von Getreidehändlern und das heute noch (in vielen Abschnitten) aktuelle BUKO-Handbuch "Wer Hunger pflanzt und Überschuss erntet" (1987). Eingebettet sind diese Aufklärungsbemühungen stets in konkrete politische Arbeit gewesen, nicht nur kampagnenförmig, etwa durch die von der BUKO lancierte Kampagne "Stoppt Futtermittelimporte", sondern auch praktisch-solidarisch, sei es beim Brigadeneinsatz auf dem Feld in Nicaragua oder durch den Aufbau direkter Vermarktungsstrukturen für Kaffee und andere Produkte (Stichwort: Sandino-Dröhnung). Politischer Höhepunkt dürfte die Anti-IWF-Kampagne 1988 gewesen sein; die unmittelbaren Auswirkungen der IWF-Strukturanpassungsprogramme wurden seinerzeit insbesondere anhand der (Ernährungs-)Situation sowohl von Kleinbauern und -bäuerinnen als auch der subalternen Klassen in den Städten bzw. slum-cities verdeutlicht. An diese Kämpfe kann heute nicht mehr nahtlos angeknüpft werden. Nicht nur weil das Thema in der Zwischenzeit an Komplexität reichlich zugenommen hat, sondern auch deshalb, weil es innerhalb der radikalen Linken im Zuge der 1990er Jahre zu einem handfesten Bewusstseinseinbruch in Sachen globaler Landwirtschaft gekommen ist, oder ungeschminkter: zu regelrechter kollektiver Amnesie. Der gesamte Themenkomplex gilt als out, er wird lieber NGOs überlassen (auf die mensch gleichzeitig schimpft) oder klassischen Hilfswerken (von denen mensch eigentlich weiß, dass sie Teil des Problems sind). Im Regelfall werden besagte Kämpfe als Sinnbild einer Epoche linker Politik begriffen, um die mensch vorzugsweise einen Bogen schlägt. Gemeinhin wird dies - wenn überhaupt - mit dem Überschuss moralischen Adrenalins begründet, das anno dazumal in zahlreichen Aktionen und Kampagnen mit am Start gewesen sei.

30 Mio. Hungertote sind eine politische Herausforderung

So berechtigt die Kritik in vielerlei Hinsicht ist, die Konsequenzen, die daraus gezogen werden, sind dennoch falsch, mitunter auch zynisch: Erstens gilt es weiterhin, die barbarische, jede konkrete Vorstellungskraft sprengende Zahl von jährlich ca. 30 Mio. Hungertoten weltweit als politische Herausforderung zu begreifen, sie taugt nicht als diskursiver Einsatz, weder um Aktivismus zu erpressen, noch politische Indifferenz zu rechtfertigen. Zweitens: Landwirtschaft ist im globalen Maßstab immer noch die dominante Realität schlechthin - konkreter: Weltweit lebt etwas mehr als die Hälfte der erwerbsfähigen Bevölkerung von der Landwirtschaft, ob als (subsistenzorientierte) Kleinbäuerinnen und -bauern oder als LandarbeiterInnen. Die Konsequenzen agrarpolitischer Beschlüsse durch die WTO und anderer, gleichfalls auf Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung abzielender Vertragswerke betreffen also unmittelbar Hunderte Millionen Menschen, womöglich mehr. Dem entspricht in Europa, dass zwar die Produktion landwirtschaftlicher Rohstoffe eine ökonomisch nur noch untergeordnete Rolle spielt, dass jedoch die weiterverarbeitende Ernährungs- und Getränkeindustrie (als eine zentrale Säule des Agrobusiness) mit einem Umsatz von rund 800 Mrd. Euro und ca. vier Mio. Beschäftigten weiterhin der größte verarbeitende Sektor in der EU ist - noch vor der Automobil- und Chemieindustrie. Drittens steht globale Landwirtschaft für zahlreiche weitere Problemkomplexe. Beispielhaft genannt seien nur die massiven ökologischen (und somit sozialen) Verwerfungen im Zuge kapitalistischer Agrarindustrie oder Landflucht, zu deren Kehrseiten unter anderem die Existenz gigantischer, jeder Beschreibung spottender slum-cities im globalen Süden gehört (s.u.). Feststehen sollte demnach zumindest soviel: Der Themenkomplex globale Landwirtschaft harrt neuerlicher Aneignung durch politische und soziale Bewegungen in (West-)Europa; damit könnte auch eine (neue) Brücke zu den unterschiedlichen bäuerlichen Bewegungen rund um den Globus geschlagen werden - als dem wohl immer noch stärksten Arm innerhalb der globalen Multitude. Und doch: Es dürfte kaum bestreitbar sein, dass eine derartige Renaissance politischer Auseinandersetzung mit globaler Landwirtschaft derzeit wenig wahrscheinlich ist. Dennoch lohnt es, einen (groben) Überblick über die einzelnen damit verknüpften Facetten und Kämpfe herzustellen. Nicht nur weil die Problematik weiterhin existiert und deshalb von Zeit zu Zeit in Erinnerung gerufen werden sollte. Nein, genauso wichtig ist, dass derzeit mindestens zwei politisch bedeutsame Anknüpfungspunkte existieren. Einerseits die Proteste und Organisierungen, die sich im (aktuellen) WTO-Kontext herausgebildet haben; sie sind vor allem deshalb bedeutsam, weil ja in Hongkong kaum konkrete agrarpolitische Beschlüsse gefällt wurden, es also auch in den nächsten Jahren massive Auseinandersetzungen darüber geben wird, wo, durch wen und unter welchen (Produktions-)Bedingungen zukünftig landwirtschaftliche Rohstoffe sowie Nahrung und Getränke weltweit produziert werden. Andererseits ist der im Mai 2007 im Ostseebad Heiligendamm/Mecklenburg-Vorpommern gastierende G8-Gipfel zu nennen. Klar scheint nämlich, dass sich hier zu Lande (nahezu) die gesamte Linke - von entwicklungs- und umweltpolitischen NGOs über attac bis hin zur radikalen Linken - auf den Gipfel beziehen wird. Hierin liegt die Chance, den Themenkomplex globale Landwirtschaft innerhalb linker Zusammenhänge zumindest wieder diskurs- und somit salonfähig zu machen.

Für das Recht auf Ernährungssouveränität

Ausgangspunkt jeder Auseinandersetzung mit globaler Landwirtschaft sollte das Recht auf Ernährungssouveränität sein. Die Forderung stammt ursprünglich von via campesina, einem weltweiten Zusammenschluss von Kleinbauern und -bäuerinnen, LandarbeiterInnnen und Landlosen mit ca. 200 Mio. Mitgliedern. Ernährungssouveränität umfasst mehr als das Recht auf freien Zugang zu einer ausreichenden Menge gesunder, nahrhafter und kulturell üblicher Lebensmittel; vielmehr ist auch das Recht gemeint, Nahrung in bäuerlicher, d.h. nicht-industrialisierter Produktion herstellen zu können und somit das Recht, über die hierfür erforderlichen Produktionsmittel zu verfügen, insbesondere Land, Wasser und Saatgut. Grundlegende Eigentums- und Verteilungsfragen sind demnach durch das Recht auf Ernährungssouveränität ebenfalls adressiert. Allein: Im globalisierten Kapitalismus ist dieses Recht mehr denn je für unzählige Menschen in Frage gestellt, ja außer Kraft gesetzt; verantwortlich ist hierfür ein Bündel ganz unterschiedlicher Ursachen. 1. Seit den frühen 1980er Jahren hat der IWF im Rahmen seiner Strukturanpassungsprogramme zahlreiche Länder des globalen Südens zur Reduzierung von Lebensmittelsubventionen, zur weitgehenden Aufgabe staatlicher Infrastrukturleistungen im landwirtschaftlichen Sektor (z.B. staatliche Vertriebsstrukturen, von denen vor allem Kleinbauern und -bäuerinnen profitiert haben), zur umfassenden Öffnung ihrer Agrarmärkte und zur Ausrichtung landwirtschaftlicher Produktion auf cash-crop-Exportprodukte wie z.B. Kakao, Zuckerrohr oder Baumwolle gezwungen (hinter Letzterem stand das Interesse, dass die betroffenen Länder die für ihre Schuldentilgung erforderlichen Devisen verdienen mögen). Im Gegenzug haben die EU und die USA das genutzt, ihre systematisch erzeugten Agrar-Überschüsse loszuschlagen: Mittels Exportsubventionen wurden die Märkte der betreffenden Länder mit Getreide, Milchprodukten, Zucker, Fleisch etc. zu Dumpingpreisen überschwemmt. Folge war, dass viele Kleinbauern und -bäuerinnen (auch aus anderen Ländern des globalen Südens) ihre Produkte nicht mehr losschlagen konnten und Pleite machten. (vgl. ak 500) 2. Das im Rahmen der WTO 1995 abgeschlossene Agrarabkommen hat die durch den IWF hervorgebrachten Verhältnisse einerseits im globalen Maßstab verankert, andererseits vertieft und unumkehrbar gemacht. Ein einfaches Beispiel möge dieses Zusammenspiel illustrieren: Zwischen 1990 und 2000 wurden die Zölle auf landwirtschaftliche Produkte in den Ländern des globalen Südens von 30 Prozent auf 18 Prozent gesenkt: Diese Reduzierungen waren zu 66 Prozent IWF-Vorgaben, zu 25 Prozent dem WTO-Agrarabkommen und zu 10 Prozent anderen Freihandelsabkommen geschuldet. 3. Sämtliche Phasen der Agrar-Wertschöpfungskette sind von jeweils wenigen transnationalen Konzernen bestimmt - mit katastrophalen Auswirkungen für die kleinbäuerlichen ProduzentInnen: Die Saatgutkonzerne nutzen ihre Marktmacht, um immer höhere Preise für Saatgut durchzusetzen, so wie es das ebenfalls im WTO-Rahmen abgeschlossene TRIPS-Abkommen den Saatgut-Konzernen zusätzlich ermöglicht, qua Patentrecht die Saatgut-Abhängigkeit der ProduzentInnen permanent zu vergrößern - einschließlich Biopiraterie und weiteren, meist gentechnologisch fundierten Schikanen. (vgl. ak 499) Die großen Zwischenhändler kaufen aus Kosten- und anderen Gründen (Verpackungsstandards etc.) ihre Produkte überwiegend bei GroßproduzentInnen; Kleinbauern und -bäuerinnen haben demgegenüber immer weniger Möglichkeiten, ihre Produkte überhaupt zu vermarkten. Am Ende der Wertschöpfungskette sitzen die Supermarktketten, sie zahlen den Zwischenhändlern immer weniger, was diese wiederum den ProduzentInnen vom Preis abziehen. Konsequenz hiervon ist, dass es zu einer immer stärkeren Umverteilung zwischen ProduzentInnen und den nachgelagerten Instanzen in der Agrar-Wertschöpfungskette kommt: So hat sich zwar der Kaffee-Umsatz im weltweiten Einzelhandel zwischen 1990 und 2003 verdoppelt, die Einnahmen der kaffeeproduzierenden Länder hingegen halbiert. 4. Durch gezielte Ausweitung der auf Großplantagen betriebenen Exportproduktion (s.o.), Übertage-Goldabbau, Ölpipelines, Großstaudämme etc. - alles Maßnahmen, die nicht selten im Namen von IWF und Weltbank erfolgen - werden Kleinbauern und -bäuerinnen systematisch von ihrem Land vertrieben. Ohnehin bestehende Verteilungsungerechtigkeiten in Sachen Land werden dadurch verschärft, zumal IWF und Weltbank nichts unversucht lassen, umfassende Landreformen aus prinzipiellen (d.h. politischen) Gründen zu verhindern.

Im Zangengriff von IWF, WTO und transnationaler Konzerne

Die Konsequenzen der hier geschilderten, sich häufig überlappenden Prozesse sind vielfältig, sie lassen sich nicht auf einen Nenner bringen: 1. Hunger: Etwa 850 Mio. Menschen hungern weltweit, ca. 30 Mio. sterben jährlich, davon ungefähr 6 Mio. Kinder. Weitere Konsequenzen sind unter anderem Kleinwüchsigkeit, Blindheit und stark eingeschränkte Arbeitsfähigkeit. 80 Prozent der Hungernden sind (landlose) Klein(st)bauern und -bäuerinnen, 20 Prozent lebt in der Stadt, meist Menschen, die vom Land geflohen sind. Hunger ist stets das Ergebnis komplexer Prozesse, auf keinen Fall sollte er als Mengenproblem beschrieben werden (Stichwort: "Vom Mythos des Hungers"). 2. Die in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten forcierten Umstrukturierungsprozesse in der Landwirtschaft enden immer häufiger im weitgehenden Verlust kleinbäuerlicher Existenzgrundlagen und somit in (absoluter) Armut. Das gilt - bei allen Niveau-Unterschieden - für Kleinbauern und -bäuerinnen im Süden genauso wie im Norden. Denn überall stehen diese unter massivem Konkurrenzdruck; auch in der EU ist das endgültige Aus für die Mehrzahl kleinbäuerlicher Betriebe nur noch eine Frage der Zeit. Dies sich in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, ist wichtig. Denn der eigentliche Interessensgegensatz verläuft nicht - wie immer wieder suggeriert - zwischen Norden und Süden, sondern zwischen einerseits agrarindustrieller und andererseits kleinbäuerlicher Landwirtschaft. Während z.B. in der EU ein Großteil der Agrar-Subventionen in die Taschen agrarindustrieller Großbetriebe und der weiterverarbeitenden Nahrungsmittelindustrie (Molkereien, Zuckerraffinerien, Schlachtereien etc.) fließt, sind es im Süden allenfalls die großen cash-crop-Plantagenbesitzer, die von Marktöffnungen im Norden profitieren. Letzteres ist z.B. auf dem Zuckerweltmarkt zu beobachten: Dort stehen sich brasilianische Zuckerbarone und kleinbäuerliche ZuckerproduzentInnen (unter anderem aus zahlreichen afrikanischen Ländern) unversöhnlich gegenüber. Derartige Süd-Süd-Interessensgegensätze zu betonen, heißt im übrigen nicht, die Tatsache zu leugnen, dass die KonsumentInnen im Norden hochgradig von den Machtungleichgewichten auf den globalen Agrarmärkten profitieren, nicht zuletzt in Gestalt niedriger Preise. 3. Sowohl die radikalen Marktöffnungen als auch die Ausrichtung landwirtschaftlicher Produktion auf cash-crop-Exportprodukte haben die Importabhängigkeit der betroffenen Länder massiv erhöht: So ist z.B. in Kenia der Wert der Nahrungsmittelimporte in den ersten drei Jahren nach In-Kraft-Treten des WTO-Agrarabkommens um 30 Prozent gewachsen, in Indien sogar um 168 Prozent. Faktisch heißt das, dass aus vielen Nettoexporteuren Nettoimporteure in Sachen Nahrung geworden sind. Da im Gegenzug jedoch der Wert für die meisten cash-crop-Produkte auf den Weltmärkten massiv gesunken ist (Stichwort: terms of trade), müssen viele Länder mittlerweile beträchtliche Summen ihrer Devisen-Exportgewinne für Nahrungsimporte aufwenden. Hinsichtlich cash-crop-Produktion sei noch angemerkt, dass deren Nutzen für die Bevölkerung tendenziell gleich Null ist. Erstens werden auf den Plantagen nur wenige und obendrein schlecht bezahlte Arbeitsplätze geschaffen, zweitens ist das Land nicht für kleinbäuerliche Nahrungsmittelproduktion verfügbar und drittens kommen die dort erwirtschafteten Gewinne vornehmlich den Plantagenbesitzern zu Gute. Die gerne zitierten trickle-down-Effekte zu Gunsten allgemeiner Infrastrukturentwicklung u.ä. fallen demgegenüber eher läppisch aus.

Katastrophale Folgen der Agrar-Wertschöpfungskette

4. Nahrungsmittelproduktion und -zubereitung ist auf das Allerengste mit patriarchalen Geschlechterverhältnissen verschränkt. Konkret: Auf lokaler Ebene sind es weltweit überwiegend Frauen, die mit Nahrungsdingen zu schaffen haben. Sämtliche der hier geschilderten (Negativ-)Entwicklungen müssen demnach insbesondere von Frauen aufgefangen werden, sind also ohne Verschiebungen in den patriarchalen Geschlechterverhältnissen nicht denkbar. Erschwert wird die Gesamtsituation außerdem durch oftmals klassisch-sexistische Verhältnisse; z.B. dürfen Frauen vielerorts weder Land besitzen noch Kleinkredite aufnehmen. 5. Es ist in jüngerer Zeit vor allem Mike Davis gewesen, der die Entstehung riesiger slum-cities mit weltweit knapp 1 Mrd. (sic) BewohnerInnen auf die insbesondere durch IWF und WTO hervorgerufene Abwanderung überflüssiger landwirtschaftlicher Arbeitskräfte zurückgeführt hat - ein Prozess, der laut Davis auch unabhängig davon stattfindet, dass die Städte schon lange ihren Status als Jobmaschinen eingebüßt haben. Samir Amin, Direktor des Dritte Welt Forums in Dakar, wird diesbezüglich noch deutlicher: "Eine Forcierung der Kapitalisierung der Landwirtschaft wird nämlich nichts weniger als den sozialen Genozid der Hälfte der Menschheit nach sich ziehen. Für sie gäbe es keinen Platz mehr." Das mögen zwar drastische Worte sein, sie verweisen aber darauf, dass Landflucht im 21. Jahrhunderts anders als im Europa des 19. Jahrhundert keinesfalls bedeutet (mit tendenzieller Ausnahme von China), automatisch ein neues Auskommen zu finden. Solcherart Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen, ist wichtig. Denn sie machen deutlich, dass die "Verteidigung" kleinbäuerlicher Landwirtschaft nichts mit rückwärts gewandter Romantisierung bäuerlicher Lebensart zu tun hat (wie in linken Zusammenhängen gerne kolportiert), stattdessen jedoch mit praktischen Fragen des nackten Überlebens. 6. Industrialisierte Landwirtschaft schlägt auch ökologisch negativ zu Buche (inklusive sozialer Rückkoppelungseffekte wie Landflucht etc.). Stellvertretend seien genannt: Bodenerosion bzw. Bodenauslaugung, Versteppung, Wasserverschmutzung, Senkung des Grundwasserspiegels, Verlust von Biodiversität, Qualitätsverlust der Nahrungsmittel (nebst gesundheitlicher Folgekosten) und Waldrodungen. Schätzungen vermuten, dass z.B. in Indien jeder US-Dollar, der aus Agrarexporten erzielt wird, einen ökologischen Schaden von etwa fünf bis zehn US-Doller verursacht. Das Recht auf Nahrungssouveränität ist eingangs als archimedischer Bezugspunkt der politischen Auseinandersetzung mit globaler Landwirtschaft vorgestellt worden. Dieses Recht kann auch als Richtungsforderung verstanden werden. (vgl. Seibert/Rätz in ak 499) Denn enthalten sind nicht nur Bezugnahmen auf konkrete Kämpfe im Hier und Jetzt (einschließlich mehr oder weniger realpolitischer Forderungen, z.B. des Rechts einzelner Staaten, ihre eigenen Agrarmärkte durch Zölle zu schützen). Vielmehr gibt es auch Bezugnahmen auf weiterreichende Perspektiven. Verkörpert werden diese nicht zuletzt durch soziale Bewegungen im globalen Süden, seien es Landbesetzungen in Brasilien, koreanische Bauern und Bäuerinnen auf den Barrikaden von Cancun und Hongkong oder Baustellenbesetzungen in Indien - etwa im Kampf gegen Großstaudämme. Gregor Samsa ak - analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 502/20.1.2006