Ein gutes Jahr?

Die bürgerlichen Großgazetten haben ihre Jahresrück- und - Vorausblicke publiziert, Frau Merkel hat ihre erste Bundeskanzlerin-Neujahrsrede gehalten, der Silvesterkater ist davongeschlichen, und ..

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wir schauen in das neue Jahr. Daß ein gutes Jahr erblühe, wie so manches andre Jahr? Oder eher nicht? Im Nachdenken gehen mir die berühmten drei Fragen Immanuel Kants durch den Kopf: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?

Die Neoliberalen, das sei noch einmal erinnert, haben im Jahre 2005 mehrere deutliche Niederlagen erlitten. Die wichtigsten waren das Nein der Franzosen zu der EU-Verfassung - die Kriegseinsätze, Aufrüstung und neoliberale Wirtschaftsordnung ohne "Sozialbindung des Eigentums" in Verfassungsrang heben sollte - und der Einzug der Linkspartei in den Deutschen Bundestag, wodurch der neoliberale Konsens der anderen Bundestagsparteien eine Opposition erhielt. Zumindest war das von seiten der Wähler so verstanden und gemeint gewesen. Die sozialen Bewegungen hierzulande können sich auch das erste Sozialforum in Deutschland, das im Sommer 2005 in Erfurt stattgefunden hatte, hoch anrechnen. Zugleich sind die Neoliberalen weiter stark in den Institutionen: auf den Kommandohöhen von Wirtschaft und Politik, in den Medien, an den Universitäten, im öffentlichen Diskurs. Und so machen sie weiter, angesichts des augenscheinlichen Bröckelns ihrer Hegemonie sogar beschleunigt und vor allem auf jenen Feldern, um die es bei der Ablehnung der Verfassung ging.

Das erste Sichwort ist "EU-Dienstleistungsrichtlinie", bekannt auch als "Bolkestein-Richtlinie", so benannt nach dem früheren EU-Kommissar, der das hatte ausbrüten lassen. Im Kern geht es um die Nivellierung der Bedingungen für das Anbieten von Dienstleistungen im weitesten Sinne auf dem untersten Niveau, das heißt Zurückdrängung von nationalen Schutzrechten und Lohndumping per EU-Richtlinie. Das Ganze hatte vor Monaten bereits auf dem Tisch gelegen.

Dann gab es eine breite Mobilisierung, die nicht nur Gewerkschaften, sondern auch Handwerksmeister und Kleinunternehmer einschloß, die ihrerseits in ihrer Existenz durch derlei Dienstleistungswesen bedroht sind. Auch Journalisten der verschiedensten Medien beteiligten sich an der öffentlichen Anprangerung der asozialen Folgen einer solchen Richtlinie. Dann erklärten Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac, sie würden einer solchen Richtlinie nicht zustimmen und verwiesen sie zurück an die Kommission. Es wurde der Eindruck erweckt, das "Herkunftslandprinzip", also die Außerkraftsetzung der nationalen Sozial- und Schutzgesetzgebung für Dienstleistungen, die im eigenen Lande angeboten werden, würde herausgenommen.

Mittlerweile liegt das Papier wieder auf dem Tisch; die Journalisten sind nicht mehr betroffen, weshalb sie derzeit eher still sind, und ansonsten wird das "Herkunftslandprinzip" mit einigen kosmetischen Veränderungen drapiert wieder als große Markterweiterung propagiert. Die neoliberale Mehrheit in den Ausschüssen des Europäischen Parlaments hat auch die schönheitschirurgischen Eingriffe wieder rückgängig gemacht, und so soll das Europäisches Parlament darüber befinden. Von der Bundesregierung ist nichts Ernsthaftes zu diesem Thema zu hören. Die Unternehmerverbände tirilieren. Im Kern geht es um eine grundsätzliche Weichenstellung der Entwicklung der Europäischen Union, die bereits mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 vorweggenommen wurde: die EU als "Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital Â… gewährleistet ist", aus dem die Steuerpolitik und "die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer" aber ausdrücklich ausgenommen sind. Bleibt die EU also ein Konstrukt, das in erster Linie von Wirtschaftsinteressen, das heißt den Macht- und Einkommensinteressen der großen Unternehmen bestimmt ist? Oder gelingt eine Sozialunion? Das alles kann ich wissen, weiß ich jetzt. Aber darf ich hoffen, daß eine europaweite Mobilisierung gegen dieses Treiben gelingt und die Richtlinie zu Fall bringt?

Ähnlich ist es mit der Friedensfrage. Der Irak-Krieg ist noch nicht zu Ende, da rückt der Krieg gegen den Iran bereits auf die Tagesordnung. Das Atomprogramm des Iran ist nicht völkerrechtswidrig, auch wenn der gesamte Komplex der Anreicherung installiert worden ist. Völkerrechtswidrig wäre die Produktion von Atomwaffen. In der Diplomatie des Westens aber wurde die vorgebliche "EU-Vermittlung" bereits zu einem Moment der USA-Politik: die Eingrenzung des Programms zu fordern und mit dem Feststellen von deren Nichterfüllung den USA politisch-diplomatisch den Kriegsgrund zu liefern. Man hätte natürlich grundsätzlich diskutieren können, ob der Iran überhaupt ein Atomprogramm braucht, oder ob dieses Land mit seiner Sonneneinstrahlung nicht ein geborener Kandidat für die Anwendung von Solartechnologie hätte sein können. Das aber wurde wohlweislich nicht diskutiert. Da ist schon die europäische Atomlobby vor.

Gut informierte Personen sagen nun, der Militärschlag der USA gegen den Iran wird im März erfolgen. Und es werde kein Krieg mit Bodentruppen sein, sondern man werde die entsprechenden Anlagen aus der Luft angreifen und zerstören wollen. Das Land ist eingekreist. US-Truppen befinden sich längst nicht mehr nur in Pakistan und auf den Flotten im Indischen Ozean, sondern auch in Afghanistan, auf Stützpunkten in Zentralasien und im Irak. Logistisch und waffentechnisch also kein Problem. Das wissen wir. Und die Friedensbewegung?

Es ist wieder das Problem wie bei Saddam Hussein: Eine Solidarität mit dem Ajatollah-Regime, das Frauen steinigen läßt und für Folter und Mord verantwortlich ist, verbietet sich von selbst. Aber die Opfer werden wieder Tausende Menschen aus der Zivilbevölkerung sein, nicht die Herrschenden in Teheran. Darf man das in Kauf nehmen? Die widerlichen Äußerungen des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad zu Israel und zur Leugnung des Holocaust taten das ihre zur Anheizung der Spannungen. Wollte er den USA absichtlich den Kriegsgrund liefern, um auf diesem Wege sein Regime innenpolitisch wieder zu festigen? Geht es um ein großmäuliges Führungsgehabe in der islamischen Welt?

Das hatte ja schon Saddam Hussein vorgemacht: erst das Geprahle von der "Mutter aller Schlachten", und dann hockte er im Erdloch. Oder hat das auch mit den Wahlen im Irak und beabsichtigter Einflußnahme auf die dortigen Schiiten zu tun? Das Gefühl macht sich breit, der Märztermin für den nächsten angekündigten Krieg der Neoliberalen wird zur Realität. Dagegen sollte man etwas tun, auf friedliche Konfliktaustragung drängen. Aber wird die Friedensbewegung gegen diesen Krieg etwas vermögen?

Im September 2005 hatte ich in Istanbul eine junge, sehr selbstbewußte Türkin getroffen. Sie erzählte, ihr Großvater stamme aus Bagdad. Und er hatte ihr, als sie ein kleines Kind war, immer von den Schönheiten der Stadt erzählt. Als sie jetzt dort war, hat sie davon nichts mehr gesehen. Die Amerikaner haben die Stadt zerstört. Nun spart sie, sagte sie im September, um nach Isfahan zu fahren. Sie will es sehen, bevor die Amerikaner die Stadt anfliegen. Ich fürchte, sie wird jetzt rasch fahren müssen.

 

in: Des Blättchens 9. Jahrgang (IX) Berlin, 9. Januar 2006, Heft 1

aus dem Inhalt:
Ursula Malinka: Alles hat ein Ende Â…; Erhard Crome: Ein gutes Jahr?; Max Hagebök: Wunderliches 2006; Thomas Kuczynski: Die Brosamen sind verteilt; Brigitte Struzyk: Mit Rücksicht auf gewisse Nebenumstände; Eckhard Mieder: Herr G., die Uckermark und der ADAC; André Herzberg: Lokaltermin; Peter Braune: You are wanted!; Krzysztof Pilawski, Warschau: Kaczyn´skis im Spagat; Kai Agthe: Königliche Kulturstadt; Uri Avnery, Tel Aviv: Der Rattenfänger Hameln; Olaf Brühl: Cecilias Triumph