Die Perspektive der vernünftigen Gesellschaft

in (28.12.2005)

Die Irrationalitäten des Kapitalismus lassen sich leicht aufzeigen. Aber wie weit trägt die Vernunft als Maßstab einer anderen Gesellschaft? Es stellt sich die Frage nach linken Perspektiven.

Friedrich Engels vertrat die Ansicht, die deutsche Arbeiterbewegung sei die Erbin der deutschen klassischen Philosophie (MEW 21, 307). Dieser Anspruch auf Erbschaft war mit der positiven Assoziation verbunden, dass die Arbeiterbewegung ernst nehmen und in die Wirklichkeit bringen würde, was in der philosophischen Tradition nur geistig-ideell gedacht blieb und was das Bürgertum selbst nicht nur nicht willens war zu verwirklichen, sondern mit der nationalsozialistischen Selbstradikalisierung vollends verraten würde. Der Arbeiterbewegung wurde auf diese Weise intellektuelle Überlegenheit über das Bürgertum bescheinigt. Mit einer neuen Form der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion könnten Ziele verwirklicht werden, die im Rahmen bürgerlicher Herrschaft allenfalls Ideen blieben.

Das Erbe, das Engels hier für die Arbeiterbewegung reklamiert, ist ambivalent. Tut es der Arbeiterbewegung das an, was Locke als wohltuende Wirkung des Erbes auf die bürgerlichen Söhne erwartete, sie nämlich an die von den Vätern geschaffenen Verhältnisse zu binden? Bestünde die Perspektive der sozialistischen Arbeiterbewegung in nicht mehr als darin, zu verwirklichen, wozu das Bürgertum nicht in der Lage war? Zu diesem Erbe gehört der Begriff der Vernunft, er prägt das Verständnis einer emanzipierten Gesellschaft: diese soll vernünftig eingerichtet sein und die Vernunftnormen Freiheit und Gleichheit verwirklichen. Doch Marx hat das schon längst ironisch kommentiert: es sei eine Albernheit der Sozialisten, den Sozialismus als Realisation der von der französischen Revolution ausgesprochenen Ideen der bürgerlichen Gesellschaft zu begreifen. Der Tauschwert sei eben schon das realisierte System von Gleichheit und Freiheit, und diese würden sich in der konkreten Bewegung als Ungleichheit und Unfreiheit ausweisen (MEW 42, 174). Heute ist es durchaus plausibel, von der Arbeiterbewegung nicht zu erwarten, dass sie die einzige legitime Erbin wäre, wahrscheinlich nicht einmal, dass sie eine Erbin dieses besonderen Erbes oder ein historisches Subjekt sei, das zu erben fähig wäre. Aber auch um das Erbe scheint es nicht gut bestellt. Hat es noch ein kritisches Potential, das sozialen Akteuren eine Identität als Linke und eine Perspektive auf eine andere Form der Vergesellschaftung gewährt, die handlungsleitend sein könnte, weil sie einige der Basisprobleme lösen könnte, die "diese Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht" (MEW 23, 49), offenkundig nicht lösen können?

1. Theorie

Vernunft steht im Zentrum der Aufklärung, der Wissenschaften, der Emanzipationsvorstellungen des Bürgertums. Vernunft meint zunächst einmal ein klares und deutliches Denken in einem logischen, Schritt für Schritt, mit geometrischer Methode entfalteten Zusammenhang, der für alle anderen nachvollziehbar sein soll. Das klingt lapidar, doch war diese Forderung nach Vernunft eine ungeheure Herausforderung. Sie stellte die Vernunft gegen die Macht der Kirche, den christlichen Offenbarungsglauben und das Gottesgnadentum weltlicher Herrschaft. Die katholische Kirche hatte in vielen Teilen Europas das Monopol auf die Deutung der Bibel. Offenbarung war das, was die Kirche als das Geoffenbarte behauptete. Die Kirchenhierarchie konnte also, indem sie sich auf die Bibel berief, ihre eigenen Interessen im Namen der Religion verfolgen. Dies war aus der Sicht der Aufklärer von alltagspraktischer Bedeutung. Denn die Priester kontrollierten das kollektive Wissen, verfügten über die Kompetenz des Schreibens, förderten oder blockierten die Wissenschaften und den Zugang zu diesem Wissen. Sie hatten überall, wo Gemeinden bestanden, Predigten gehalten und Beichten abgenommen wurden, die privilegierte Möglichkeit, die gesellschaftliche Kommunikation zu repräsentieren, die kollektiv verbindlichen Regeln zu definieren und das Wissen von unten anzueignen. Die sozialen Konflikte nahmen die Form theologischer Auseinandersetzungen an, doch war die Scholastik der Priester von der realen Praxis der Menschen getrennt. Die Auslegung des Wortes Gottes war das Ergebnis hierarchisch kontrollierter dogmatischer Deutungsbemühungen von Klerikern. Die Laien, also die einfachen Menschen mit ihrem Alltagsverstand, konnten und sollten dies nicht verstehen. Sie sollten einfach nur glauben und für gewiss halten, was ihnen der Klerus als Wahrheit verkündet. "Satzungen und Formeln ... sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit" (Kant 1988, 216) Gegenüber dem der vernünftigen Einsicht entzogenen, machtgestützten Dogmatismus beansprucht die Vernunft, dass alle Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit heraustreten und vernünftige Einsichten teilen können. Das Vernünftige ist das von allen Nachvollziehbare und Einsehbare. Es ist das Allgemeine, weil allen Gemeinsame. Vernunft und Gleichheit schienen eins.

Vernunft hat eine eigene Dynamik. Die Vernunft bescheidet sich nicht bei der Erkenntnis eines Einzelnen; wenn sie nicht resigniert und unvernünftig wird, will Vernunft auch dieses Einzelne wiederum in seinem Zusammenhang begreifen. Vernunft begnügt sich also nicht damit, das Vernünftige an einem Gegenstand zu erkennen, sondern sie will auch verstehen, in welcher Weise die Dinge auf vernünftige Weise miteinander verbunden sind. Vernunft geht mit der Unterstellung einher, dass zwischen den Sachverhalten in der Welt, zwischen den menschlichen Handlungen eine vernünftige und deswegen für jeden Menschen begreifbare Beziehung herrscht. Wenn es etwas Nichtvernünftiges oder etwas Unvernünftiges geben sollte, so wird die Vernunft sich bemühen, auch dies derart zu analysieren, dass es in einem Zusammenhang steht, der sich uns als vernünftig begreifbarer Zusammenhang erschließt.

Diese Logizität der Vernunft ist durchaus affirmativ, denn sie hat konformistische Wirkungen. Sie nötigt die Individuen, sich der Kette der vernünftigen Zusammenhänge und Begründungen zu beugen. Das, was als vernünftig und für alle einsehbar erkannt ist, stellt einen zwingenden logischen Zusammenhang dar, den wir individuell nicht ändern können. Individuen wären verrückt und würden sich gegen die Vernunft stellen, wenn sie behaupteten, die Zusammenhänge seien anders und von uns beliebig nach unserem Willen oder Wunsch zu verändern. Vernunft ist ein weicher Zwang, aber dennoch handelt es sich um ein Zwangsverhältnis. Entsprechend stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Vernunft, nach dem Verhältnis von Vernunft und Gefühlen. Die Vernunft erscheint in ihrer zwingenden und auch noch die Gefühle erklärenden Art als nüchtern, kalt und unbarmherzig. Demgegenüber erscheinen die Gefühle als spontan, weich, warm, sie scheinen uns ein gewisses Maß an Freiheit zu gewähren, die die Vernunft mit all ihrer Einsicht zu nehmen scheint. Die zwingende Macht von Vernunft und Wahrheit hat aber nicht nur diese ausgrenzende Wirkung. Da soziale Akteure wissen, dass sie sich durch das Nadelöhr der Vernunft fädeln müssen, stellen sie ihre Interessen als jeweils rationale dar. Das vermehrt die Macht der Vernunft, weil in sie nun Interessen und Argumente von vielen Seiten investiert werden. Doch was vernünftig ist, ergibt sich nicht mehr einfach aus dem Gegensatz zu Dogmatismus, sondern aus Konflikten in und um die Vernunft. Vernünftig sein tendiert dazu, einem analytischen Genauigkeits- und Vollständigkeitsfetisch zu entsprechen. Vernunft selbst bekommt etwas Irrationales, Zwanghaftes, Pedantisches, denn mit dem vernünftigen Argumentieren muss nun versucht werden, jeden Aspekt und jedes Argument der anderen aus der jeweils eigenen Perspektive noch zu reformulieren. Nichts darf ausgelassen werden, um erfolgreich das eigene Interesse vernunftgemäß verfolgen zu können.

Mit ihrer zwingenden Logik tendiert Vernunft zum System. Alles wird in einen logisch erschließbaren Zusammenhang gestellt. Das nicht Erkannte ist lediglich das noch nicht Erkannte. Die Vernunft verspricht, dass, könnten wir lange genug forschen, wir am Ende das jetzt noch nicht Erschlossene und Nicht-Verstehbare im vernünftigen Zusammenhang begreifen würden. "An jedem geistigen Widerstand, den sie findet, vermehrt sich bloß die Stärke [der Aufklärung]. Das rührt daher, dass Aufklärung auch in den Mythen noch sich selbst wiedererkennt. Auf welche Mythen der Widerstand sich immer berufen mag, schon dadurch, dass sie in solchem Gegensatz zu Argumenten werden, bekennen sie sich zum Prinzip der zersetzenden Rationalität, das sie der Aufklärung vorwerfen. Aufklärung ist totalitär." (Horkheimer/Adorno 1947, 28). Nichts kann sich der Aufklärung, nichts kann sich der Vernunft entziehen. Horkheimer und Adorno weisen hier auf die performative Logik der Vernunft hin, die wie eine Zwickmühle funktioniert: entweder gibt es keine Argumente für eine Handlungsweise, dann sollte sie unterlassen werden - oder sie ist begründbar, und dann ist sie auch der Macht der Vernunft unterworfen. Noch die Kritik an der Vernunft bedarf der Argumente und bestätigt damit die totalitäre Logik der Vernunft. Vernunft gewinnt immer. Vernunft zielt auf eine von ihr erkannte Ordnung der Dinge, die am Ende mit sich identisch ist. Es handelt sich um einen ängstlichen Geist, der auf Ordnung aus ist. Wenn er nicht erwarten kann, dass es sich um erkennbare Zusammenhänge oder zurechnungsfähige und zu Argumenten fähige Sprecher handelt, dann kommt es zu Diskriminierung und Ausschluss. Die diskriminierende und ausschließende Praxis ist eine, die von der Vernunft und ihrer inneren, zwanghaften Dynamik zur Identität ausgeht. Ausschluss ist deswegen auch kein einfacher Ausschluss in ein Jenseits der Vernunft - ein Jenseits, das mit der Vernunft keine Berührung hat und deswegen in keinem Konflikt mit der Vernunft steht. Die Vernunft könnte nicht akzeptieren, dass es ein solches Reich gibt, zu dem sie keinen Zugang hat. Der besondere Zugriff der Vernunft auf das von ihr noch nicht Begriffene ist der einschließende Ausschluss. Damit ist die Verfügung und Kontrolle verbunden, das Begehren, dieses Andere doch auch noch in seiner Unvernunft zu erkennen und es unter die Begriffe der Vernunft zu bringen, so dass es seine bedrohliche Bedeutung verliert. Das, was sich der Identität der Vernunft entzieht, wird als Natur ausgeschlossen und diskreditiert. Es gilt aus dem Blickwinkel der Vernunft als minderwertig, weil es als unbeherrscht, instinktmäßig, tierisch, kindisch erscheint. Aus der selbstbezüglich-tautologischen Sicht der Vernunft erscheint es als nicht vernünftig. Von dieser Logik des naturalisierenden Ausschlusses wurde vieles erfasst: "Massen" und ihre Bewegungen, die Frauen, denen über Jahrhunderte eine mindere Vernunftfähigkeit bescheinigt und die Teilnahme an den öffentlichen Geschäften verweigert wurde und die heute immer noch besser sein müssen als die Männer, um vielleicht gleich viel zu gelten; die Juden wie die Schwarzen, weil sie dem Tierreich zugerechnet wurden; die Muslime, die als nicht demokratiefähig gelten, weil sie "anders" sind und es ihnen an Rationalität mangelt; die Wahnsinnigen, die als verrückt, und bestimmte Kategorien von Tätern, die als im personalen Sinn nicht zurechnungsfähig und autonom gelten, die gefährlichen Überzeugungen folgen und unberechenbar sind, die deswegen dauerhaft in Sicherheitsgewahrsam genommen, die in besondere Lager und Geheimgefängnisse eingesperrt, die gefoltert werden können. Es ist eine Streitfrage, ob diese Ausschlüsse alle aus dem Prinzip dieser einen modernen Vernunft folgen und für diese konstitutiv oder mit den Mitteln der Vernunft selbst wieder behoben werden können, weil sie ihr äußerlich sind.

Erinnern wir uns noch einmal an diese Kontroverse, in deren Zentrum die Perspektive der Emanzipation steht, und die weniger entschieden wurde, als dass sie von anderen historischen Notwendigkeiten in den Hintergrund gedrängt wurde. Foucault (1974, 7ff) begreift die vernunftgemäße Logik des Ausschlusses als konstitutiv. Er unterscheidet drei Weisen des Ausschließung: a) Das Verbot, über bestimmte Gegenstände zu sprechen, das Ritual der Umstände, unter denen gesprochen werden darf, das Recht bestimmter Subjekte zu sprechen: wer darf wann über was sprechen. Wer verstößt, wer die impliziten und formellen Regeln nicht versteht oder anerkennt, wird leicht als unvernünftig gelten. Die Vernunft haben diejenigen, die die Regeln der eingeschlossen Rede aufstellen; was wären sie, wenn sie nicht verbieten und alle sprechen könnten. b) Die Grenzziehung und Verwerfung: allein durch den einschließenden Ausschluss des Wahnsinns bildet sich Vernunft; nur durch die negativ bewertende und ausschließende Unterscheidung eines ihr nicht Entsprechenden als Anderes kann sie sich selbst als Vernunft begreifen. Es geht nicht um ein romantisches Verhältnis zum Wahnsinn, sondern um die Logik der Unterscheidung selbst. Die Frage stellt sich, ob Vernunft und Wahnsinn heute immer noch in einem Konstitutionsverhältnis zueinander stehen. Foucault antwortet positiv, die Grenze bestehe fort und werde nur neu gezogen. Ein ganzer psychotherapeutisch-medizinischer Wissensapparat habe sich entwickelt, der es Ärzten erlaubt, die Worte zu hören, und Patienten, sie hervorzuholen. c) Die dritte Prozedur der Ausschließung wird vom Willen zur Wahrheit angetrieben, der die Grenze zu dem zieht, was als das Falsche gilt. Um die Wahrheit hat sich ein Apparat gebildet, der organisiert, wie ein Wissen in der Gesellschaft eingesetzt, wie es gewertet, wie es sortiert, verteilt und zugewiesen, ob und auf welche Weise es sagbar wird und die Macht der Wahrheit für sich hat.

Habermas (1990, 20) zufolge sei es die Position von Foucault, dass bei einer konstitutiven Ausschließung es keine Kommunikation zwischen Innen und Außen gebe. "Es gibt keine gemeinsame Sprache der am Diskurs Teilhabenden mit den protestierenden Anderen." Dies geht am Kern von Foucaults Kritik der Vernunft vorbei. Das Andere wird von der Vernunft nicht in eine wortlose, schweigende und neutrale Umwelt verbannt. Foucault interessiert vielmehr, wie in bestimmten Apparaten auf der Grundlage bestimmter Sprecherpositionen und konkreter Umstände im ständigen Sprechen über und mit dem Anderen die Vernünftigkeit der Vernunft erzeugt wird und sich die Verfahren der Ausschließung vollziehen. "Offensichtlich ist der Diskurs keineswegs jenes transparente und neutrale Element, in dem die Sexualität sich entwaffnet und die Politik sich befriedet, vielmehr ist er ein bevorzugter Ort, einige ihrer bedrohlichen Kräfte zu entfalten" (Foucault 1974, 8). Es geht um die Macht des Sprechens und Wahr-Sagens selbst. Habermas muss hingegen einen radikalen Schnitt zwischen dem Innen des Sprechens und dem Außen des Ausgegrenzten unterstellen, um in die Sprache eingebaute Bedingungen zur rationalen Verständigung und uneingeschränkten Inklusion behaupten zu können. In der modernen Vernunft sei eine egalitäre Logik der Inklusion wirksam, an die alle Ausgeschlossenen anschließen. Indem sie die Vernunftnormen der Einsicht, der Gleichheit und Autonomie einklagen, können sie damit rechnen, dass sie irgendwann einmal die bürgerliche Öffentlichkeit derart transformieren, dass sie offen für die Rationalitätsgesichtspunkte der bislang Ausgeschlossenen sein wird. Frauen wären dann gleichberechtigt, niemand würde rassisch diskriminiert, Stigmatisierung von Behinderten oder Kranken würde nicht mehr stattfinden.

Habermas reagiert auf ein Dilemma, das alle reflektierten Vernunftkritiker beschäftigt hat. Es ist nicht vorstellbar, grundlegend Ausgeschlossene direkt sprechen zu lassen. Wenn man das Schweigen der Irren selbst aussagen will, so Derrida gegen Foucault, "ist man bereits zum Feind und auf die Seite der Ordnung übergetreten, selbst wenn man in der Ordnung sich gegen die Ordnung auflehnt und sie in ihrem Ursprung in Frage stellt. Es gibt kein trojanisches Pferd, mit dem die Vernunft (im allgemeinen) nicht fertig würde." (Derrida 1972, 61). Will man nicht mit der Ordnung paktieren und die autoritären Folgen der Vernunft vermeiden, so wird man dies allerdings auch nicht mit Irrationalität besiegeln wollen. "Haß gegen starren Allgemeinbegriff stiftet einen Kultus irrationaler Unmittelbarkeit, souveräner Freiheit inmitten des Unfreien." (Adorno 1966, 20). Anders als durch Vernunft lassen sich die Dinge nicht erschließen. Das ist eine aporetische Konstellation: mit und durch Vernunft kommt es zu ausschließender Gewalt; die Reaktion darauf, Ablehnung der Vernunft, wäre irrational, das Andere aber direkt sprechen zu lassen, lässt die Vernunft erneut triumphieren. Adorno hat es als die Herausforderung einer kritischen Theorie verstanden, die sich in der Tradition der Aufklärung sieht, diese autoritäre Dynamik der Vernunft selbst zu bewältigen. "Daß der Begriff den Begriff, das Zurüstende und Abschneidende übersteigen und dadurch ans Begriffslose heranreichen könne, ist der Philosophie unabdingbar und damit etwas von der Naivität, an der sie krankt. Sonst muß sie kapitulieren und mit ihr aller Geist... Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen." (Adorno 1966, 21). Die Aporie so auszubeuten, dass man gegen Adornos Forderung nach Utopie und Naivität sich realitätstüchtig mit der Herrschaftslogik der Vernunft arrangiert, ist voreilig. Habermas tendiert dazu. Wenn, wie er sagt, angesichts der demokratischen Transformation der bürgerlichen Öffentlichkeit das Volk keine Gegenkultur mehr benötige; wenn die Frauen sich auf die egalitären Vernunftnormen berufen können und heute in vielen Ländern Antidiskriminierungsregeln, Quoten und Maßnahmen des Gendermainstreaming sowie Gleichstellungsbüros existieren; wenn der Rassismus menschenrechtlich sanktioniert ist - so ist doch leicht festzustellen, dass sich der Ausschluss ständig von neuem reproduziert. Selbst wenn es also zu Fortschritten käme, gibt es doch gleichzeitig die Permanenz der Rückentwicklung. Hängt das logisch zusammen oder ist es Zufall? Zufällig wäre es, wenn man sagen könnte - und der modernisierungstheoretische Alltagsverstand sagt genau das -, es passiere hier und da und sei im Einzelfall ein bedauerliches Überbleibsel oder eine Regression, aber es werde schon noch überwunden und berühre nicht das Wesentliche der Gesellschaft, ihr normatives Grundverständnis und ihren Hauptentwicklungszug. Doch es ist erklärungsbedürftig, warum nach vierhundert Jahren Aufklärung und zweihundert Jahren Menschenrechten die Ausgrenzung auf der Grundlage Geschlecht oder Rasse oder Armut und Arbeit sich ständig erneuert. Erklärungsbedürftig ist nicht nur die Bedingung der Möglichkeit des ständigen Rückfalls, sondern mehr noch der zähen Wiederholungen, mit der Frauen stets wieder benachteiligt, Individuen stets wieder rassistisch diskriminiert werden, sich die Muster schlechter Arbeit, geringer Einkommen, mangelhafter Ernährung und geringer Bildung immer wieder reproduzieren. Die Regelmäßigkeiten dieser Prozesse können nicht als etwas betrachtet werden, das nur beiläufig geschieht. Wäre das Argument, dass es sich nicht um einen logischen, sondern um einen statistischen Zusammenhang handelt, so muss dagegen gehalten werden, dass gerade dies in der bürgerlichen Gesellschaftsformation, in der alles vom Gesetz der großen Zahl und der Bildung von Durchschnitten beherrscht ist, der logische Zusammenhang ist: diese Gesellschaftsformation ist bestimmt von Verhältnissen, in denen sich statistische Regelmäßigkeiten quasi-naturgesetzlich durchsetzen. So gesehen findet beides statt. Die Vernunft ist konstitutiv mit dem Ausschluss verbunden. Doch dieser Ausschluss findet nicht einmalig, linear, personal und ohne Gegenwehr statt. Die Vernunft ist keine Instanz der ausgrenzenden und endgültigen Repression. Vielmehr kommt es zu einer elliptischen Bewegung der Vernunft: dazu gehört der Ausschluss, der Widerstand, der Prozess langsamer, hinhaltender, vorsichtiger, bedächtiger Inklusion und die erneute Ausgrenzung. Es geht um diese Bewegung. Das Entscheidende ist, dass die Barriere der Ausgrenzung als solche vor der Macht der Vernunft nicht einfach fällt; dass die Vernunft auch nicht einfach nur Ausgrenzung wäre. Die Vernunft ist diese Bewegung. Doch diese Bewegung findet auf der Seite der Ausgrenzung statt.

2. Praxis

Die Vernunft ist nicht nur ein Erkenntnis-, sondern auch ein praktisches Vermögen, sie ist ein natürliches Vermögen der Menschen, das ihrer Selbsterhaltung dient. Die vernünftige Einsicht in einen Zusammenhang ermöglicht es, ihn nachzubilden. Die Vernunft ermöglicht, Dinge deswegen zu erkennen, weil wir sie gemacht haben. Es ist die Fähigkeit, etwas zu planen, zu gestalten, zu verändern; an den Dingen neue Aspekte zu erkennen und sie für die Herstellung von etwas Neuem zu verwenden. So können wir mit Vernunft auch erkennen, was sich noch nicht zu einem vernünftigen Zusammenhang fügt und können den Kreislauf der Vernunft - Erkennen, Planen, Herstellen, Erkennen - verbessern. Vernunft ist demnach nicht nur eine ideelle Rekonstruktion der Welt als System, sondern Vernunft wird objektiv, gegenständlich. Dies gilt nicht nur für Gegenstände, sondern auch für das menschliche Zusammenleben. Wenn wir Gegenstände entwerfen und herstellen, dann stellen wir dabei gleichzeitig bestimmte soziale Verhältnisse her. Verhältnisse, unter denen Menschen arbeiten, denken und fühlen. Diese Verhältnisse können wir selbst wiederum nach vernünftigen Gesichtspunkten prüfen und - wenn wir zu dem entsprechenden Ergebnis kommen - umgestalten. Der Zweck des Erdenlebens der menschlichen Gattung sei, so Fichte, "alle Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einzurichten" (Fichte 1806, 64).

Das menschliche Zusammenleben ist durch eine ontologische Praxis gekennzeichnet. Die Welt ist nicht einfach als unveränderliche natürliche Umwelt gegeben. Die Menschen erzeugen in ihrer gemeinsamen Tätigkeit ihr eigenes Leben, ihre soziale und ihre natürliche Welt. Gegen den anschauenden Materialismus, der das Verhältnis der Menschen zur Natur von der Geschichte trennt, betonte Marx die Immanenz auch dieser äußeren Welt. Die den Menschen umgebende sinnliche Welt sei nicht ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding, sondern das Produkt der Tätigkeit einer ganzen Reihe von Generationen. "Selbst die Gegenstände der einfachsten 'sinnlichen Gewißheit' sind ihm nur durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Verkehr gegeben." (MEW 3, 43) In diese welterzeugende Praxis geht immer schon die historisch konkrete Form der Vernunft ein, denn die Menschen machen Pläne und gestalten die Wirklichkeit nach diesen Plänen. "Was aber den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss." (MEW 23, 193). Wenn etwas nicht so ausfällt, wie die Menschen es geplant haben, versuchen sie, zu erkennen, warum es nicht gelungen ist und bemühen sich, es zu verbessern. Diese sich immer weiter rationalisierende Praxis erstreckt sich von den Gegenständen auf die Gesamtheit der Verhältnisse, sie zielt auf eine vernünftig gestaltete Welt, also eine Welt, die nach den Zwecken und konkreten Begriffen der Menschen bestimmt ist; in der sich ihre Autonomie zur Geltung bringt. Autonomie heißt, dass sich die Individuen die von ihnen begriffenen Gesetzmäßigkeiten für eigene Zwecke zunutze machen können; sie von den Dingen und den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mehr derart übermächtigt und zur Konformität gezwungen werden, so dass sie ständig gegen ihre Einsicht handeln müssen; dass ihre Pläne nicht ständig durchkreuzt werden.

Seitdem die Menschen ihre Praxis nicht mehr allein durch Gott und Teufel beobachtet wissen, sondern sich mit der Entstehung der modernen bürgerlichen Gesellschaft Institutionen systematischer Selbstbeobachtung - wie Ökonomie und Statistik, Politikwissenschaft oder Soziologie - ausgebildet haben, rückt überhaupt die Möglichkeit in den Blick, auch die Gesellschaft als ein Ganzes von Verhältnissen zum Gegenstand vernünftiger Gestaltung zu erheben, weil wir wissen, dass wir sie ohnehin gestalten. Seit der Aufklärung war dies ein, wenn nicht das zentrale Ziel emanzipatorischer Bewegungen, das verschiedene Namen erhielt: Demokratie, Sozialismus, Kommunismus. Für die Emanzipation entsteht hier aber ein grundlegendes Problem. So konnte lange erwartet werden, die rationale Gestaltung der Gesellschaft würde von einem staatlichen Zentrum aus vorgenommen werden können. Dies war eine von Hegel über Lassalle bis Max Weber vertretene Vorstellung, wonach der Staat die Verkörperung der Rationalität und des Wissens sei. Vernunft gilt als Einsicht in die Notwendigkeit und erzwingt am Ende Konformität aus Einsicht. Gegenüber der Rationalität einer Bürokratie, die auf der Grundlage von spezialisierten, fachgeschulten Beamten, formalen Verfahren, kontinuierlicher Wissenssammlung in Akten, Stetigkeit der Verwaltung, definierten Kompetenzen in einer Hierarchie operiert, scheint es dann keine Alternative mehr zu geben. "Eine leblose Maschine ist geronnener Geist. Nur, dass sie dies ist, gibt ihr die Macht, die Menschen in ihren Dienst zu zwingen und den Alltag ihres Arbeitslebens so beherrschend zu bestimmen, wie es tatsächlich in der Fabrik der Fall ist. Geronnener Geist ist auch jene lebende Maschine, welche die bürokratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen darstellt. Im Verein mit der toten Maschine ist sie an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden, wenn ihnen eine rein technisch gute und das heißt: eine rationale Beamten-Verwaltung und -Versorgung der letzte und einzige Wert ist, der über die Art der Leitung ihrer Angelegenheiten entscheiden soll." (Weber 1972, 835). Max Weber spricht hier ganz als liberaler Bürger. Die Weltgeschichte spitzt sich für ihn auf die Alternative zu: entweder rational-bürokratischer Versorgungsstaat oder Freiheit des Marktes und der Unternehmer, die mit ihrem geschäftlichen Wissen auch dem geschulten Fachbeamten immer überlegen sein würden. Sozialismus als Verstaatlichung der Produktionsmittel konnte aus seiner Sicht nur die Beseitigung des letzten Restes von Freiheit und die Vollendung des Gehäuses der Hörigkeit bedeuten.

An dieser Überlegung ist aber etwas anderes wichtig als die Kritik am Etatismus. Schon seit langem hat sich quer durch die politischen und gesellschaftstheoretischen Lager die Einsicht durchgesetzt, dass der Staat nicht der überlegene Kopf und das steuernde Zentrum der Gesellschaft sein kann. Weber hat aber das Problem der Vernunft selbst auf schmerzliche Weise zugespitzt. Er macht nämlich auf die ontologische Implikation aufmerksam, dass eine vollständige rationale Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in ein Zwangsverhältnis umschlagen würde. Wenn am Ende alles rational durchdrungen und gestaltet ist, dann fügt es sich so eng ineinander, dass sich das vernünftig Gestaltete selbst als ein Naturzusammenhang darstellt, ein von Menschen hergestelltes Uhrwerk, das keine Handlungsfreiheiten zulässt, weil alles im Detail festgeschrieben ist. Dies nährt den Glauben an Fortschritt, Perfektibilität und an einen letzten Zustand der Geschichte, in dem alles aufgeht: die vollendete Tautologie. Was sich aber nicht fügt, wird erneut als nicht-autonom, als unfrei, als vor-aufgeklärtes Überbleibsel diskriminiert, könnte sogar Objekt von 'vernünftiger' Gewalt werden, die beseitigt, was der Verwirklichung der Vernunft entgegensteht. Gegenüber dieser Paradoxie einer Unfreiheit, die aus der vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft resultiert, gegenüber dem Zwang der Rationalität bietet im Anschluss an Weber der Liberalismus und Neoliberalismus bis heute die Freiheit des Unternehmers und die Freiheit der Irrationalität an. Gegen sog. rationalistische Plantheorien - zu denen von den Neoliberalen auch das liberale Modell des Gesellschaftsvertrags gezählt wird - wird die Marx partiell nahe stehende praxisphilosophische These vertreten, der zufolge sich die Zivilisation als Lernprozess vieler Generationen bildet. Aus den getrennten Handlungen der Individuen, die nicht wussten, was sie taten, hätten sich zweckmäßige Einrichtungen ergeben, die die wilden Instinkte der Menschen unter Kontrolle hielten. Menschliche Vernunft konnte sich nur mit und innerhalb des Rahmenwerks entwickeln (Hayek 1991, 70). Während Marx allerdings aus diesem historischen Prozess die Schlussfolgerung zieht, dass die Menschen nun aus den Verhältnissen heraus beginnen könnten, die Verhältnisse rational zu gestalten, unter und mit denen sich ihre Vernunft weiter entfalten wird, und damit einmal die bis in die Gesellschaft fortwirkenden Gesetze der Natur hinter sich zu lassen, zieht Hayek die Konsequenz, der Evolutionsprozess solle nicht durch rationale Eingriffe gestört werden. "Was wir versuchten, war eine Verteidigung der Vernunft gegen ihren Mißbrauch durch jene, die die Bedingung für ihre wirksame Funktion und ihre Weiterentwicklung nicht verstehen. Es ist ein Appell an die Menschen zu erkennen, dass wir unsere Vernunft sinnvoll gebrauchen müssen; und dass wir dazu jenen unentbehrlichen Rahmen des Nicht-willkürlichen und Nicht-rationalen erhalten müssen, das die einzige Umgebung ist, in der die Vernunft sich entwickeln und erfolgreich wirken kann" (ebd., 86). Der Markt ist die evolutionäre Institutionalisierung eines evolutionären Mechanismus des Nicht-rationalen. In evolutionstheoretischer Sicht verläuft der Prozess der Menschheitsentwicklung nach dem Muster von Variation, Selektion und Stabilisierung. Vernunft ist keine übergeordnete Instanz der Steuerung, sondern würde die Menschen nur lernunfähig machen, weil sie versuchten, etwas planen und steuern zu wollen, worüber sie nicht genügend Information haben. Die einzige Form, wie man sich auf Kontingenz einstellen kann, ist die Form des Marktes, der als evolutionäre Errungenschaft vom Staat geschützt und hergestellt werden muss. Individuen sind aufgefordert, sich der Freiheit des Marktes zu stellen und mit der Kontingenz umzugehen. Zu dieser Freiheit gibt es keine Alternative. Das heißt, alles Gelernte schnell zu vergessen, sich nicht an die eigenen Lebenserfahrungen zu binden, flexibel auf neue Gegebenheiten einstellen. Von den Neoliberalen wird im Namen vernünftiger Selbsterhaltung gefordert, sich selbst aufzugeben, wenn man sich im sozialen Kampf am Markt erhalten will. Es ist der vollständig rationalisierte Mensch, der seine Eigenschaften nur noch als ein Portfolio betrachtet, das gegenüber den veränderten Marktlagen jeweils geschickt ausgespielt werden muss, um erfolgreich zu sein. Noch seine Identität betrachtet das Ich von einem vernünftigen Standpunkt aus als Wettbewerbshindernis. Seine Eigensinnigkeiten muss es in seinem Verhältnis zu sich selbst abschleifen und ausgrenzen, soweit sie ihm nicht als Profil für eine Marktnische dienen. Gegenüber dem Markt müssen sich einzelne und ganze Bevölkerungsgruppen schließlich auch ganz rational befragen, ob sie überhaupt verdienen zu leben, da sie sich nicht behaupten können. Wer die Evolution, also den Markt als ihr höchstes Resultat, stört, hat mit dem autoritären Staat zu rechnen.

Weber und Hayek ziehen eine Art Resümee aus dem Emanzipationsprojekt bürgerliche Vernunft: diese Vernunft hat im Namen freier Einsicht und Autonomie damit angefangen, alles in ein zusammenhängendes und logisch nachvollziehbares System zu bringen, dem sich nichts entziehen soll. Die Folge war Ausgrenzung alles dessen, auf das der Verdacht des Nicht-Vernünftigen, des Nicht-Identischen fiel. Am Ende aber wird die Vernunft selbst zu einem Zwangsverhältnis. Sich ihm zu entziehen geht nur um den Preis - auch dies ist ein Merkmal der bürgerlichen Aufklärung -, die Ansprüche der Vernunft zu senken. Die einzige Freiheit, die angeboten wird, ist die Irrationalität einer Unternehmergesellschaft, die sich dem Markt als Naturgesetz und Endpunkt der Geschichte unterwirft. Schon Kant hatte diesen Weg vorgezeichnet: Zur Aufklärung werde nicht mehr erfordert als Freiheit, und zwar, wie er ein bisschen devot versichert, die "unschädlichste unter allem, was nur Freiheit" heißen mag, nämlich "von seiner Freiheit in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen... Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht" (Kant 1988, 217). Vernunft wird begrenzt auf den schmalen Bereich des öffentlichen Räsonierens vor der Leserwelt der Gelehrten, während ausdrücklich die privaten, geschäftlichen Dinge und die von der Regierung festgelegten Zwecke des Gemeinwesens davon ausgenommen werden.

3. Die Demokratisierung der Vernunft

Da sowohl das Projekt des Bürgertums als auch die das Erbe des Bürgertums antretende sozialistische Arbeiterbewegung mit ihren Versuchen in den autoritären Staat einmündeten, ist es vernünftig, sich in einer emanzipatorischen Perspektive kritisch-reflexiv zur Vernunft als dem Maßstab der historischen Entwicklung zu verhalten. Dies hat unter Stichworten wie Poststrukturalismus oder Postmoderne zu einem neuen Zyklus der Auseinandersetzungen um die Vernunft geführt (vgl. Neumeister 2000). Die radikale emanzipatorische Kritik an der Vernunft wurde in vielen Hinsichten absorbiert, wenig überraschend wurde sie in erneuerter Form zu einem festen Bestandteil des bürgerlichen Selbstverständnisses, das sich immer schon bemüht hat, der Vernunft die Grenzen zu weisen. Die Alternative ist heute nicht mehr hier irrationalistische Ablehnung der Vernunft durch das Bürgertum oder dort die Kritik an der Zerstörung der Vernunft und die Verteidigung des Erbes (vgl. Lukács 1962). Ironische Distanz und vorsichtiger Umgang mit Vernunft sind verbreitet. Kritisiert wird das Modell teleologischer menschlicher Praxis, es habe sich als falsch erwiesen. "Die geschichtliche Entwicklung müsse man in den Griff bekommen und sie den menschlichen Zwecken entsprechend gestalten, um so die Vorteile, die in früheren Zeiten gottgegeben und einer kleinen Minderheit vorbehalten zu sein schienen, auszubauen und durch Umstrukturierungen der Gesamtheit nutzbar zu machen. Radikal-politische Kritik, also der Griff nach den Wurzeln der Dinge, war nicht allein auf Veränderung bedacht, sondern der Wandel sollte so gesteuert werden, dass es zu geschichtlichen Fortschritten käme. Ebendieses Vorhaben ist heute offenbar gescheitert" (Giddens 1997, 19). Gescheitert sei das Projekt, in und durch Vernunft zu einem finalen und perfekten Zustand zu gelangen, in dem alles rational begriffen und gelenkt wird. "Ein politisches Programm des Radikalismus muss anerkennen, dass die Konfrontation mit dem hergestellten Risiko nicht der Devise ‚Mehr vom selbenÂ’ folgen kann; eine grenzenlose Erkundung der Zukunft auf Kosten des Schutzes der Gegenwart oder der Vergangenheit ist ausgeschlossen" (ebd., 31). Giddens will, ebenso wie schon Hayek, glauben machen, die Vernunft zu verwirklichen sei allein ein Ziel des Sozialismus gewesen. Der von ihm proklamierte Radikalismus nimmt die Vernunft auf das Maß der bestehenden Verhältnisse zurück. Vermeiden lässt sich die autoritäre Dynamik der Vernunft wiederum nur dadurch, dass keine vernünftige Zukunft mehr gewollt wird.

Giddens hofft, dass die Ansprüche der Vernunft und die mit ihr verbundenen Gefahren durch Demokratisierung moderiert werden. Historisch sieht er ganz richtig einen Gegensatz zwischen einer Vernunft, die aufgrund überlegener Erkenntnis Autorität für sich beanspruchte - wer in ihrem Namen sprach, hatte die Macht des Allgemeinen für sich -, und der Gleichheit, die allen die Mitsprache erlaubte. Das entscheidende Argument der Theorien der reflexiven Moderne geht dahin, dass Vernunft heute selbst keine unbefragte Autorität mehr darstellt. Fortschritte der Wissenschaft und die durch Vernunft gelenkte Einflussnahme auf Gesellschaft und Natur führen nicht zu einer einzig möglichen richtigen Praxis. Giddens denkt hier durchaus materialistisch-praxis-philo-sophisch. Die vernünftigen Einsichten und Argumente gehen in die soziale Praxis ein; sie erzeugen neue Kenntnisse und neue Handlungsmöglichkeiten, den Bedarf nach weiteren Kenntnissen und öffnen damit unabschließbar den Horizont für immer neue Ungewissheiten. In dem Maße, wie wir aufgrund vernünftigen Verstehens wissen, wird dieses Wissen Bestandteil der praktischen Welt und führt zu Veränderungen der Praktiken der anderen Menschen; wir greifen in natürliche Zusammenhänge ein, und daraus entstehen Folgen, die wir nicht antizipieren konnten und die uns zu neuem und noch komplexerem Handeln nötigen. Es stellt sich also durch Vernunft keine Transparenz der Welt her. Transparenz würde bedeuten, dass alle Menschen auf Grund des Vernunftvermögens auf die gleiche Weise handeln würden, wenn die gleichen Bedingungen existierten. Doch genau das können wir nicht erwarten, diese Art von Rousseauismus hat sich als nicht haltbar erwiesen. Und das ist nicht nur der Tatsache unterschiedlicher Lebensbedingungen geschuldet, sondern auch ein Ergebnis der Demokratisierung und selbstkritischen Pluralisierung der Vernunft. Von vielen Seiten her machen die Individuen Gebrauch von der Vernunft. Die Vernunft ist keine letzte Richterinstanz, die im Zweifelsfall deswegen angerufen werden könnte, weil sie monologisch über die eine objektive Wirklichkeit verfügt. Vernunft ist vielmehr eine Form, durch die die soziale Praxis hindurch muss. Was Wissenschaftler und Experten sagen, wird sofort von vielen Gegenexperten und gutinformierten Laien der Kritik unterzogen. Vernunft ist damit konfrontiert, dass vernünftiges Wissen zu mehr vernünftigem Wissen führt und die Komplexität und Kontingenz des Wissen steigert: wir wissen in immer umfassenderen Hinsichten, dass mit neuen Erkenntnissen alles anders sein könnte. Diesem Fallibilismus können sich weder Alltagsverstand noch Wissenschaften entziehen. Der Eintritt in die Kommunikation über das vorhandene Wissen erzeugt neue Gesichtspunkte, neue Kenntnisse, neue Zusammenhänge. Die Vernunft wird kontingent, keine Instanz führt sie zu einer substantiellen Einheit noch zusammen - aber ist sie dann noch vernünftig? Auf ungeahnte Weise hat die scharfe Kritik an der Vernunft und der mit ihr konstitutiv verbundenen Ausschlüsse die Vernunft geöffnet, demokratisiert und pluralisiert. Doch es wäre voreilig, die Macht aus dem Blick zu verlieren. Gerade wenn alle Praktiken durchs Nadelöhr der Vernunft hindurch müssen, fädelt sich auch die Macht hindurch. Regiert die aufgeklärte öffentliche Meinung die Welt, dann ist es auf "die Dauer der Mächtige, der die öffentliche Meinung regiert" (Helvétius 1976, 451). Die Mächtigen legen fest, was im demokratischen Prozess sich als vernünftig behauptet und die Verhältnisse praktisch gestaltet. Es entstehen folglich in und durch Demokratisierung hindurch herrschende und beherrschte Formen der Vernunft.

Die rationalitätstheoretischen Bemühungen von Habermas lassen vor diesem Hintergrund ein doppeltes Ziel erkennen: a) er will einen kohärenten Vernunftbegriff entwickeln, der der Offenheit der Vernunft Rechnung trägt, ohne noch der Vernunftutopie der Aufklärung mit ihren fragwürdigen Konsequenzen anzuhängen; b) er will sicher stellen, dass die Macht, die sich im Medium der Vernunft entfalten kann, unter demokratische Kontrolle kommt. Individuen handeln, dieses Handeln soll sich nach wissenschaftlich-technischen Gesichtspunkten als wahr, nach moralischen Gesichtspunkten als richtig rechtfertigen lassen. Auch moralisches Handeln ist seiner Ansicht nach wahrheits- und begründungsfähig. Wenn Individuen ihr Handeln rechtfertigen, erheben sie Geltungsansprüche, die, weil es sich um sprachliches Handeln handelt, eben auch bestritten werden können. Dies macht es unmöglich, dass eine Person die Maßstäbe ihres Handelns der Diskussion entzieht. In der alltäglichen Kommunikation, in der diskursiv über Wahrheit, moralische Normen und Kunstwerke gestritten wird, werden auch die Maßstäbe selbst verhandelt. Diese sind nicht an einer substantiellen Vernunft ausgerichtet; was vernünftig ist, soll sich aus der Diskussion zwischen zurechnungsfähigen Sprechern ergeben, die bereit sind, in der Kommunikation die von ihnen in ihren sprachlichen Äußerungen erhobenen Geltungsansprüchen zu begründen. In diesem diskursiven Austausch werden die verschiedenen Formen der Rationalität von Wissenschaft, Moral und Kunst immer wieder in den Strom der Alltagssprache zurückübersetzt, die das gemeinsame linguistische Band der Angehörigen der Kommunikationsgemeinschaft ist. Doch Habermas sieht eben an dieser zentralen Stelle eine destruktive Dynamik wirken. Es sind gerade die Expertenkulturen, die sich elitär abspalten und sich der kommunikativen Rückbindung an die alltäglichen Verständigungsverhältnisse entziehen. Dies hat zur Konsequenz, dass auf der einen Seite die Experten ihr Handeln von verallgemeinerbaren, also vernünftigen Maßstäben ablösen. Auf der anderen Seite wird das Alltagsbewusstsein fragmentiert, denn in die alltäglichen Verständigungsverhältnisse wird nicht wie selbstverständlich das Rationalitätspotential ausdifferenzierter Wissensbereich eingespeist (vgl. Habermas 1981, Bd. 2, 488, 521). Mit seinem inklusiven Vernunftkonzept hofft Habermas, die Vernunftpotentiale einer posttraditionalen Alltagskommunikation sichtbar zu machen, die der Verödung des Alltagsbewusstseins widersteht. Dies geschieht, wenn zivilgesellschaftliche Akteure sich das Begründungsniveau der wissenschaftlich-technischen Experten wieder erschließen, indem sie diese mit moralischen Argumenten zwanglos dazu zwingen, die von ihnen erhobenen Geltungsansprüche zu begründen.

Mein Einwand zielt vor allem auf zwei Aspekte des Arguments. 1) Habermas zufolge lautet die Reihenfolge: erst handeln Individuen, nachträglich rechtfertigen sie ihr Handeln und die moralischen Maßstäbe ihres Handelns. Damit kommt die Rechtfertigung immer zu spät. Tatsachen sind schon geschaffen. 2) Dies ist um so bedeutender, weil bei Habermas wie bei Kant der Bereich der Wirtschaft und des staatlich-administrativen Handelns von Rechtfertigungsdiskursen freigestellt sind. Allein über Diskussionsprozesse in der Öffentlichkeit, also nur indirekt, kann auf das Handeln in jenen Bereichen Einfluss genommen werden. Doch in dieser wie immer kurzen oder langen Zeitspanne, die zwischen der Aneignung der Arbeit anderer oder einer politischen Maßnahme und der Rechtfertigung vor der Öffentlichkeit vergeht, kommt es zu dem schnellen Gewinn, auf den das Kapital spekuliert, und zu den vollendeten Tatsachen, die zur Prämisse weiterer Politik werden. Die Vernunft ist doppelt entmächtigt. Sie darf nicht auf das Ganze der Gesellschaft einwirken; und sie kann die Praxis der Menschen nicht organisieren. Sie ist derart entsubstantialisiert und zum Verfahren formalisiert, dass sie keine Ziele mehr hat, sondern nur noch nachträglich nach Gründen fragen darf. Doch im ontologischen Sinn ist die Welt immer schon praktisch gestaltet; beherrschte und ausgebeutete Individuen wurden genötigt, an der Erhaltung von Verhältnissen mitzuwirken, unter denen sich ihre Abhängigkeit und Unmündigkeit reproduzieren. Sie haben jeweils schon ihr Leben oder ihre Lebenszeit verloren und nichts kann sie trösten.

4. Mit Vernunft über Vernunft hinaus

Eine Alternative zur Tradition der Aufklärung gibt es nicht. Emanzipation muss in Begriffen der Vernunft gedacht werden. Doch soll es nicht zu autoritären Konsequenzen kommen, und soll die Dynamik der Vernunft auf die praktische Gestaltung aller Lebensverhältnisse nicht eher willkürlich begrenzt werden, dann ist dies offenkundig nur möglich, wenn in einer historisch konkreten Weise die Einsätze der Vernunft, die Konflikte um die Vernunft und ihre konkreten Gebrauchsweisen bestimmt werden und die Vernunft sich selbst radikalisiert. Das Versöhnliche an Vernunft ist, dass sie sich anti-autoritär auch noch gegen sich selbst verhalten und Selbstbescheidungen nicht akzeptieren kann. Was dies bedeutet, ist nicht umfassend ausgearbeitet, aber es gibt Vorschläge dazu, die durch eine desorientierende Kritik an der Vernunftkritik verdunkelt wurden. Ich schlage vor, Adornos Konzeption von negativer Dialektik nicht als eine pessimistische Selbstpreisgabe der Vernunft, sondern als Versuch zu verstehen, rationalitätstheoretische wie gesellschaftstheoretische Zweifel am Vernunftbegriff und seinen gesellschaftlichen Folgen in einer Weise fruchtbar zu machen, dass das praxisphilosophisch-materialistische Projekt einer vernünftig gestalteten Welt aufgeklärt fortgesetzt werden kann. Adorno trieb die in der bürgerlichen Tradition von Hobbes und Spinoza bis Hegel angelegte Teleologie der Vernunft kritisch auf die Spitze. Diese Teleologie besteht darin, dass die Vernunft alles aus sich heraus hervorbringen will und alle Momente des gedanklichen und realen Seins sich zu einem zusammenhängenden System fügen sollen. Adorno sah in dieser Dynamik der Vernunft ein bürgerliches Bedürfnis, nämlich Sicherheit und Ordnung herzustellen. Die Angst vor dem Chaos, der Natur, den Gefühlen, dem Anderen drängt bürgerliche Vernunft dazu, "aus sich heraus die Ordnung zu produzieren, die sie draußen negiert hatte... Solche widersinnig-rational erzeugte Ordnung war das System: Gesetztes, das als Ansichsein auftritt" (Adorno 1966, 32). Bei all ihren Versuchen, sich zum System zu fügen und abzuschließen, gelingt dies der bürgerlichen Vernunft nicht. Was zwanghaft ausgegrenzt wird, um das System zu ermöglichen, kommt zurück im Scheitern der immer neuen philosophischen oder soziologischen Bemühungen, doch noch ein letztes und endgültiges System zu schaffen, eine tiefste Grundlage für eine letzte und unwiderlegbare Wahrheit zu finden. So setzt sich gerade im Prozess der Konstruktion all der Systeme, die immer wieder scheitern, die Nichtidentität frei.

Aus der Perspektive der Emanzipation kann es weder um die Selbstunterordnung der Vernunft unter einen Bereich des Irrationalen noch darum gehen, das endgültige System zu schaffen. Dies sind Aspekte des Erbes, die nicht anzutreten sind. Adorno schlägt etwas anderes vor: Durch den Begriff über den Begriff hinausgelangen. Die systematische Entfaltung der Widersprüche des Systems soll verständlich machen, dass die gesellschaftliche Praxis immer wieder in bestimmten Bewegungen verläuft, die sich allein als Dialektik erschließen: die Vernunft ist emanzipatorisch und ausschließend; die Gleichheit ist unverzichtbar und doch die Form, in der allein sich soziale Ungleichheit behauptet; Demokratie ermöglicht die Beteiligung aller und macht sie gleichzeitig durch ihre innere Logik unmöglich. Diese Widersprüche lassen sich nicht einfach beiseite stellen und ignorieren. Sie lassen sich aber auch nicht logisch durch noch so kluge Deduktionen beseitigen, sie sind kein Denkfehler, sondern konkreter praktischer Widerspruch. Es geht also nicht darum, die Widersprüche technisch-logisch aufzulösen, sondern das in ihnen zu entbinden, was zur widersprüchlichen Bewegung führt. Diese erfahrenen Bewegungen konkreter Widersprüche sind der Ausgangspunkt und der Anlass dafür, die Verhältnisse in Frage zu stellen, die sie erzeugen. Das aber bedeutet, dass das Projekt der Emanzipation nicht darin besteht, die Teleologie eines reibungslos gefügten Systems herzustellen. Das unterscheidet Adorno von anderen Vertretern des westlichen Marxismus. Das emanzipatorische Ziel ist nicht Totalität, sondern deren Überwindung. "System ist die negative Objektivität, nicht das positive Subjekt" (Adorno 1966, 31).

Adornos vernunftkritische Strategie basiert auf der Annahme, dass die Zwanghaftigkeit der Vernunft, die Geschlossenheit, die Unterordnung des Vielfältigen und des Anderen in der Zwanghaftigkeit des sie bestimmenden Identitätsprinzips begründet ist. Dieses identitäre Moment steckt von Anbeginn in der Herrschaftslogik der europäischen Aufklärung und kulminiert in der bürgerlichen Gesellschaft. Das Identitätsprinzip ist die Logik des Äquivalententausches, des Markts. Gerade also das, was die Neoliberalen seit Weber als Freiheit anbieten, erweist sich genau verstanden als die Quelle des Zwangs und der Zwanghaftigkeit der Vernunft, einer Vernunft, die die Dinge und Menschen in etwas Drittem, einem zum Fetisch gerinnenden Allgemeinen gleichsetzt, um über sie verfügen zu können mit dem Zweck der Selbsterhaltung aller - eine Selbsterhaltung, die eine gesellschaftliche Arbeitsteilung als vernünftig erscheinen lässt, die Wenige privilegiert und herrschen lässt. Ihnen scheint Vernunft vorbehalten, weil Vernunft aus dem natürlichen Impuls der Selbsterhaltung hervorgeht und ihr dient. Sie herrschen im Namen der Selbsterhaltung aller. Um die Natur zu beherrschen, zwingen sie die Gesellschaft in die Form von Natur, der sich die Individuen immerfort anpassen sollen: "Sei vernünftig!" Aber was wäre, wenn das Reich der Notwendigkeit durch Vernunft soweit zu überwinden wäre, dass sich den Individuen die Frage der Selbsterhaltung nicht mehr stellt? Es würde nicht allein Herrschaft überflüssig machen, sondern die Vernunft daraus befreien, eine Funktion des mit sich identischen Allgemeinen, der Selbsterhaltung, zu sein. Die bislang in die Logik des Ganzen hineingezwungenen einzelnen Praktiken, die sich der Teleologie des Erhalts fügen müssen, werden zur Vielfalt freigesetzt und könnten geprüft werden, ob sie gewünscht sind. Das Zusammenleben wäre nicht durch ein Prinzip zwanghaft totalisiert, sondern ohne Maß (vgl. Demirovic 2004).

Gramsci hat sich diesen Zustand derart vorgestellt, dass Menschen nicht mehr regiert würden, die Ausübung der intellektuellen Kompetenzen wäre nicht mehr besonderen Berufen vorbehalten, die in der Erhaltung und Gestaltung von Herrschaft eine besondere Funktion übernehmen und das geltende Allgemeine, also Vernunft, repräsentieren. Eine dieser Funktionen ist es, die Vernunft disziplinär-arbeitsteilig für sich selbst unerreichbar zu machen und das Weltverständnis der abhängig-beherrschten Menschen derart zu desorganisieren, dass jede andere Art des Universellen verhindert wird. In der Fragmentierung des Alltagsverstands sind die Expertenkulturen und Medien heute weit fortgeschritten; sie besteht in einer extremen Ungleichzeitigkeit der Weltsicht. Gramscis Ziel war es im Anschluss an Marx, die Mittel zur geistigen Produktion des Universellen zu universalisieren. Das Ergebnis würde die Bildung einer kohärenten Weltauffassung sein. Droht dies, die Maßlosigkeit dieser Assoziation der freien Individuen zurückzunehmen? Über dieses Spannungsverhältnis wird weiter nachzudenken sein. Aber es scheint, dass eine andere Konstellation entsteht: unter den Bedingungen der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise stehen eine herrschende Vernunft und ein inhomogener, beherrschter Alltagsverstand einer homogenisierten, quasi naturgesetzlichen sozialen Welt gegenüber, die sie nicht beherrschen; demgegenüber wird eine kohärente Vernunft praktisch in einer vielfältigen Welt.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1973

Demirovic, Alex (2004): Freiheit und Menschheit, in: Jens Becker, Heinz Brakemeier (Hrsg.): Vereinigung freier Individuen. Kritik der Tauschgesellschaft und gesellschaftliches Gesamtsubjekt bei Theodor W. Adorno, Hamburg

Derrida, Jacques (1972): Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main

Fichte, Johann Gottlieb (1806): Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, in: ders.: Werke, Bd. VII, Berlin 1971

Foucault, Michel (1974): Die Ordnung des Diskurses, München

Giddens, Anthony (1997): Jenseits von Links und Rechts, Frankfurt am Main

Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt am Main

Habermas, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt am Main

Hayek, Friedrich August v. (1991): Die Verfassung der Freiheit, Tübingen

Helvétius, Claude-Adrien (1976): Vom Menschen, Berlin

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1947): Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987

Kant, Immanuel (1988): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders., Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie, hrsg. von Hermann Klenner, Berlin

Lukács, Georg (1962): Die Zerstörung der Vernunft, in: Werke, Bd. 9, Neuwied

Neumeister, Bernd (2000): Kampf um die kritische Vernunft. Die westdeutsche Rezeption des Strukturalismus und des postmodernen Denkens, Konstanz

Weber, Max (1972): Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen

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Dieser Aufsatz erschien zuerst in: Prokla - Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft: 'Die Zukunft ist links!' Nr. 141, Dezember 2005