Aus dem Abseits in die kontrollierte Offensive

Gewerkschaften als politische Akteure in Deutschland

Im Sommer 2005 einen Text über die Gewerkschaften als politische Akteure zu schreiben ist keine vergnügungssteuerpflichtige Angelegenheit. "Wozu noch Gewerkschaften?" Dieser Frage hat Oskar Negt nicht umsonst ein kleines Buch gewidmet. Antworten geben die Gewerkschaften selbst nur leise. Ihre seit einigen Jahren sehr unkomfortable Situation hat sich nicht gebessert. Die Mitgliederentwicklung ist unverändert besorgniserregend, durch die VW-Affäre ist gewerkschaftliche Interessenvertretung insgesamt desavouiert und auch die Positionierung des DGB und der Einzel-Gewerkschaften im nun mit dem präsidialen Segen versehenen Bundestagswahlkampf ist alles andere als einfach.
Eine Wahlempfehlung wird es für keine Partei geben und auch die Unterstützung einzelner Parteien wird anders ausfallen als in den letzten Wahlkämpfen. Der Gedanke der Einheitsgewerkschaft wird stark betont, allerdings führt das in ein strategisches Dilemma. Denn jede Bewegung rechts weckt Begehrlichkeiten links und dieser Spagat muss erst einmal ausgehalten sein. Für die öffentliche Wahrnehmung scheinen DGB und Gewerkschaften in der sich nun abzeichnenden politischen Positionierung allerdings nicht mehr interessant, sie finden zumindest öffentlich kaum noch statt.
Sollte die Bundestagswahl den allseits prognostizierten Ausgang nehmen, dann wird das politische Geschäft für die Gewerkschaften vordergründig wieder normaler oder gar einfacher. Denn was ist von einer schwarz-gelben Regierung anderes zu erwarten als Grausamkeiten? Von "enttäuschter Liebe" wie bei der Sozialdemokratie wird nicht die Rede sein können.
Doch auch in diesem Zusammenhang sind Probleme eher auf der anderen Seite des politischen Spektrums zu erwarten. Wie mit einer PDSWASG-Bundestagsfraktion umzugehen sein wird, in der GewerkschafterInnen nicht nur zahlreich sind sondern die auch in ihren Positionen eine fast schon ungekannte Nähe zu erkennen gibt, ist eine offene Frage. Sie muss von den Vorständen des DGB und insbesondere seiner großen Mitgliedgewerkschaften schnell beantwortet werden.
WASGPDS hin oder her - auch mit einer Fraktion im Bundestag, die eigene Politik-Ansätze wieder stärker unterstützt, wird die Situation für die Gewerkschaften nicht einfacher. Unterstützung ist nur das eine, realistische Aussichten auf Regierungsbeteiligung und Umsetzung der eigenen Konzepte ist das andere. Von der Seriösität manches alten oder neuen Spitzengenossen gar nicht zu reden! Auch mit der PDSWASG im Parlament sind die Gewerkschaften in der Defensive und sie sind dafür in Teilen selbst verantwortlich.
Trotzdem gibt es keinen Grund für den gebückten Gang, für Demut oder Verzagtheit. Denn die Gründe für das inzwischen immer gewerkschaftsfeindlichere Klima im Land liegen nicht nur bei den Organisationen selbst. Sie haben viel mit grundsätzlich unterschiedlichen Wertemodellen und Politikansätzen zu tun. Und damit, dass wir uns in einer neuer Phase des Kapitalismus befinden. Ist es am Ende vielleicht so, dass die Gewerkschaften deswegen so in der Kritik stehen, weil sie unverändert skeptisch und ablehnend auf Reformvorhaben aller Parteien und anderer Verbände reagieren, deren Sinnhaftigkeit, Seriösität und Erfolgsaussichten in der Tat hoch fragwürdig sind - aber eben dem entsprechen, was der Mainstream von Ökonomen, Journalisten und anderen fordern?
Auffällig ist, mit welcher Vehemenz nunmehr seit Jahren verbal auf die Gewerkschaften eingeschlagen wird. Gewerkschafts-bashing ist zur Mode geworden. Ärgerlich ist, dass die Gewerkschaften darauf nicht mit Geschlossenheit reagieren und sich den politischen Gegner, freundlicher gesagt den Sozialpartner, vornehmen. Stattdessen wird sich an der Politik abgearbeitet, erfolglos zumal, oder gleich untereinander die Klinge gekreuzt oder zumindest doch der Stift - etwa wenn Vorsitzende glauben, sich öffentliche Zornesbriefe schreiben zu müssen.
Und doch: Wer als ebenso erfolgloser wie belangloser Politiker der "Westerwelle-Liga" mal wieder eine schnelle Schlagzeile braucht, der attackiert mit rüden Worten ("Plage") Sommer oder Bsirske oder Peters stellvertretend für alle aktiven GewerkschafterInnen. Die Redaktionen springen in der Regel gerne darauf an, denn mit Gewerkschaften hat man dort nichts mehr am Hut Noch ärgerlicher als die Kritik als solches ist ihre Undifferenziertheit.
Denn das, was den Gewerkschaften und vor allem ihren Mitgliedern aus Politikermündern und Journalistenfedern entgegenschlägt, wird der überaus wertvollen täglichen Arbeit von Tausenden von Betriebsräten in gar keiner Weise gerecht - VW hin oder her. Dass diese Arbeit - dank der Mitbestimmung problemlösungsorientiertes Co-Management - nicht zuletzt auch Unternehmen am Laufen hält, spielt schon gar keine Rolle. Allerdings weist dieser Umstand auch schon auf eines der Probleme der Gewerkschaften hin: die Wahrnehmung ihrer Vorstände als fundamentalistische politische Blockademacht unterscheidet sich erheblich von der Realität der lösungsorientierten und problembewussten Arbeit von Betriebsräten.
Diesen Zustand mag man so lange beklagen wie man will - man ändert ihn dadurch alleine nicht. Es ist also allemal zielführender, sich etwas ausführlicher mit dem Umfeld zu befassen, in dem der DGB und die Gewerkschaften wie jede gesellschaftspolitisch wichtige Kraft heute agieren.
Das politische Umfeld oder der späte Sieg des Otto Graf L.
Dank Franz Müntefering ist es im August 2005 wieder opportun, die einzige wirklich bedeutsame "K-Frage" zu stellen: welche Wirkungen hat der konkurrenzlos gewordene, globalisierte, deregulierte und marktradikale Kapitalismus nach 1989 entfaltet?
Mit dem Ende der Systemkonkurrenz hat in der Tat eine neue Zeitrechnung begonnen. Sie bedeutet für die Menschen im ehemaligen Ostblock Demokratie und Marktwirtschaft und die Befreiung von diktatorischen Regimen. Doch Begriffe wie Globalisierung und Digitalisierung stehen auch für eine entfesselte, vom Adjektiv "sozial" mehr und mehr entledigte Marktwirtschaft. Zusammenfassen lassen sich die Veränderungen mit der häufig zu lesenden Umschreibung, dass wir uns auf dem Weg von der Industrie- zur Wissensgesellschaft befinden. Eine Entwicklung, die auf gesellschaftlicher Ebene durch Begriffe wie Individualisierung und Flexibilisierung komplettiert wird.
Bis zum Ende der 1990er-Jahre war diese Entwicklung mit viel Optimismus verbunden. Doch mit dem Platzen der "new economy bubble" hat sich ein jäher Stimmungs-Umschwung eingestellt. Da wurde zuerst mit enormem Werbeaufwand ein Volk an die Börse getrieben und nun steht es im Regen, alleingelassen und verunsichert.
So stehen wir heute allen Agenden und sonstigen Angeboten zum Trotz immer noch vor einem hohen Berg ungelöster Probleme. Sie sind alle nicht über Nacht über unser Land hereingebrochen, es fehlte insbesondere der Regierung Kohl der Mut, sich ihnen zu stellen. Betrachtet man heute die Lösungsangebote der Parteien, so stellt man fest, dass die Unterschiede zwischen dem sozial- und wirtschaftspolitischen Programm von SPD und CDU/CSU kaum noch wahrzunehmen sind. Weniger was die Papierlage als was das konkrete politische Handeln angeht. Ausnahmen beim Thema Mitbestimmung oder den Arbeitnehmerrechten ändern daran wenig.
Wir haben es bereits mit einer faktischen großen Koalition der Volksparteien zu tun, denn die SPD hat zum Beispiel bei der Gesundheitsreform oder den Arbeitsmarktreformen Kompromisse mit der Union gemacht, die ursprünglich einmal richtige Reformansätze entstellt haben. Das Problem der SPD ist es, dass sich die Spitzen der Union à la Jürgen Rüttgers aus der Verantwortung stehlen wenn der Wind zunimmt und die Sozialdemokratie die Dresche kriegt.
Die Argumentation, die uns seit Jahren vorgekaut wird und immer die gleichen Lösungen vorschlägt, lautet wie folgt: "Die Voraussetzungen für einen baldigen Wirtschaftsaufschwung haben sich verschlechtert: (...) Rückgang der Auslandsnachfrage bei stagnierender und zuletzt wieder rückläufiger Binnennachfrage, Verschlechterung des Geschäftsklimas und der Zukunftserwartungen der Wirtschaft, Einschränkung der gewerblichen Produktion, Anstieg der Arbeitslosigkeit und Insolvenzen (...).
(Es) sind zwar wichtige Schritte in die richtige Richtung unternommen worden. (...) Die Skepsis hinsichtlich einer grundlegenden Problemlösung konnte (jedoch) dadurch nicht überwunden werden.
Inhaltlich muss die Politik vor allem darauf ausgerichtet sein, dem Privatsektor in der Wirtschaft wieder mehr Handlungsraum und eine neue Zukunftsperspektive zu verschaffen; und innerhalb des Staatssektors muss sie die Gewichte von der konsumtiven in Richtung der investiven Verwendung verlagern...
Es kann im wirtschaftlichen und sozialen Bereich derzeit keine wichtigere Aufgabe geben, als die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, durch neues Wirtschaftswachstum wieder mehr Beschäftigung und auch eine allmähliche Lösung der öffentlichen Finanzierungsprobleme zu ermöglichen und damit schließlich alle Bürger am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt teilnehmen zu lassen...
Wer eine solche Politik als 'soziale Demontage' oder gar als 'unsozial' diffamiert, verkennt, dass sie in Wirklichkeit der Gesundung und Erneuerung des wirtschaftlichen Fundaments für unser Sozialsystem dient. 'Sozial unausgewogen' wäre dagegen eine Politik, die eine weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit und eine Finanzierungskrise der sozialen Sicherungssysteme zulässt, nur weil sie nicht den Mut aufbringt, die öffentlichen Finanzen nachhaltig zu ordnen und der Wirtschaft eine neue Perspektive für unternehmerischen Erfolg und damit für mehr Arbeitsplätze zu geben...
Die Konsequenz eines Festklammerns an heute nicht mehr finanzierbare Leistungen des Staates bedeutet nur die weitere Verschärfung der Wachstums- und Beschäftigungsprobleme sowie eine Eskalation in den Umverteilungsstaat, der Leistung und Eigenvorsorge zunehmend bestraft und das Anspruchsdenken weiter fördert - und an dessen Ende die Krise des politischen Systems steht."
Diese Zitate sind nicht aus der Agenda-Erklärung von Gerhard Schröder vom 14. März 2003 oder aus den Manifesten und Programmen der Parteien für die Bundestagswahl 2005. Sie stammen vielmehr aus der Feder von Otto Graf Lambsdorff unter Mitwirkung u.a. von Hans Tietmeyer, genauer aus dem "Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" und datieren vom 9. September 1982.
Mit dem Konzept hat Graf Lambsdorff das Ende der sozial-liberalen Koalition eingeleitet und damit eine neue Politikausrichtung formuliert, die auch von der rot-grünen Bundesregierung angewendet wurde und wird und den Überlegungen der Arbeitgeberverbände sehr nahe kommt. Denen ist es egal was sie anrichten, Hauptsache die eigenen Interessen kommen voll zum Zug.
Ihrer Durchsetzung dienen auch andere, öffentlichkeitswirksamere Maßnahmen und Ansätze: Vor allem mit der "Initiative neue soziale Marktwirtschaft", die mit dem griffigen Slogan "Chancen für Alle" wirbt, sind die Arbeitgeber sehr erfolgreich. Mit einem Etat von 100 Millionen Euro für zehn Jahre, gestützt auf die Expertise des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, und unterstützt von namhaften "Botschaftern" quer durch alle Parteien, Sport und Unterhaltung, hat diese Initiative entscheidend dazu beigetragen, die Politik in unserem Land nach den Vorstellungen des schon genannten Lambsdorff-Papieres grundlegend zu verändern.
In diesem Umfeld müssen die Gewerkschaften es zwangsläufig schwer haben. Stehen sie doch für die von Ex-Bundespräsident Johannes Rau eingeklagten Werte, die nicht an der Börse gehandelt werden. Und für die Verbindung von Humanisierung und Ordnungspolitik, von Lebens- und Arbeitswelt, die sie für wichtiger nehmen als reine Gewinnmaximierung.
Um sich mit der Kritik an ihrem Tun nicht auseinandersetzen zu müssen ist es für die Meinungsmacher aller Orten einfacher, einen Sündenbock zu suchen. Naheliegend ist es dann, sich die Gewerkschaften vorzunehmen. Ab durch die neue Mitte mit Solidarität und Gerechtigkeit heißt es flächendeckend in den Äußerungen der großen Reformatoren.
Doch was ist der Preis dafür? Wie sieht es wirklich aus mit der Bilanz der liberalen Politikwende? Flapsig gesagt: Deregulierung und Privatisierung lassen die Lichter ausgehen, in den USA ist das an der Tagesordnung. Und auch wenn der Strom noch aus der Dose kommt ist auch die Bilanz in Deutschland alles andere als rosig. Die Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung ist hoch wie nie, Investitionen sind zu niedrig, die Infrastruktur verfällt, der Ton und Umgang in der Ellenbogengesellschaft ist schroffer denn je.
Am gravierendsten - auch für das gesellschaftliche Klima - kann sich auswirken, dass der in den Bankrott getriebene Staat seine Kernaufgaben nicht mehr wahrnimmt. Einen armen Staat können sich jedoch nur die Reichen leisten. Und die PISA-Ergebnisse oder der 2005 veröffentlichte zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung belegen, dass in unserem Land die soziale Herkunft nach wie vor entscheidend die Bildungschancen vorherbestimmt.
Unter dem Strich bleibt also festzuhalten: Keines der vom Grafen Lambsdorff benannten Probleme wurde gelöst, sie haben sich im Gegenteil weiter verschärft. Die Wiedervereinigung hat dazu viel beigetragen, ist aber auch nicht der alleinige Grund. Operation misslungen, aber der Patient ist immer noch nicht ganz tot. Doch anstatt über die Therapieform und Medikamentierung einmal grundsätzlich neu nachzudenken und vielleicht auch den ein oder anderen Fehler zu korrigieren, wird einfach die Dosis erhöht: noch weniger Steuern, noch mehr Selbstbeteiligung, noch mehr Druck auf "die Abzocker" und die Richtung der Politik bleibt gleich.
Die Rolle der Medien
Überraschend ist es schon, dass das Versagen der Politik, auch ihr offensichtliches "over spinning", in den Redaktionsstuben niemanden mehr zum Nachdenken darüber angeregt, ob der eingeschlagene Weg denn der richtige ist. Liegt das daran, dass die Redaktionen genug mit den eigenen Problemen in der Branche zu tun haben? Oder daran, dass eine neue Generation von Journalisten an der Arbeit ist, die mit der Ideologie der Deregulierung und entfesselter Marktwirtschaft aufgewachsen ist? Ist der "Generation Golf" und den folgenden das Werte-Korsett wirklich so fremd, das dieses Land einmal geprägt hat? Haben wir es also mit einer Mischung aus Ahnungslosigkeit, Existenzangst und Überzeugungstäterschaft zu tun?
Die Uniformität der Meinungen, der Etikettierungen, des Schubladendenkens und auch der (Vor)Urteile ist jedenfalls erschreckend. Dafür gibt so manche Reaktion auf Franz Münteferings ein schlechtes Beispiel ab. Verwiesen sei als Beispiel auf Herrn Münchau, der am 27. April 2005 in der Financial Times Deutschland "Strategien für den Bürgerkrieg" gegen die Kritiker des Neoliberalismus formuliert hat.
So bleiben viele Fragen ohne Antwort: Sind nicht die Chefredakteure und Kommentatoren, die seit Jahren - als würden sie geheimen Absprachen folgen - Deregulierung predigen, auch der Aufklärung und dem Allgemeinwohl verpflichtet? Wer definiert eigentlich dieses Allgemeinwohl? Nur die Ex-Kanzler und Alt-Bundespräsidenten, die regelmäßig einen Ruck propagieren, den es nur geben kann, wenn wir uns vom "Sozialklimbim" verabschieden?
Und mehr noch: Woran liegt es, dass eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen von zwei Jahrzehnten der Deregulierung nicht stattfindet? Hat denn der Politikwechsel à la Graf Lambsdorff das Land nach vorne gebracht? Was bringt uns denn der Rückzug des bankrotten Staates tatsächlich? Warum werden Seiten mit "Florida-Rolf" gefüllt und nicht mit der Skandalisierung der Tatsache, dass trotz Steuersenkung und Bürokratieabbau deutsche Unternehmen Tausende von vor allem hoch innovativen Arbeitsplätzen ins Ausland verlagern oder ganz ungeniert damit drohen?
Diese Fragen werden nicht einmal mehr gestellt und das ist das eigentlich erschreckende an der schönen neuen Medienwelt. "Fakten-Fakten-Fakten" sollen und wollen die Medien liefern. Warum aber blenden sie dann alle aus, die der herrschenden Meinung von der Deregulierung widersprechen? Ausnahmen bestätigen diese Regel. Warum nimmt denn kaum jemand zur Kenntnis, dass es in anderen Ländern viel höhere Arbeitskosten gibt als in Deutschland? Warum lesen wir nie etwas über die Entwicklung der Realeinkommen, sehr wohl aber über die unverantwortlichen Tarifforderungen? Warum will niemand wahrhaben, dass die Steuern in Deutschland im internationalen Vergleich niedrig sind? Oder dass auch in Ländern mit kürzeren Arbeitszeiten nicht die Lichter ausgegangen sind? Wie soll weniger Kündigungsschutz oder mehr Druck auf Arbeitslose neue Jobs liefern, wenn ganze Regionen zu "Arbeitsmarkt-Brachen" (Christian Tenbrock in "Die Zeit") geworden sind?
Die Qualität gerade der sozialpolitischen Berichterstattung in den Medien lässt jedenfalls viel zu wünschen übrig. Vieles ist von Ideologie geprägt, mangelnde Sorgfalt spiegelt sich in kleinen Fehlern wieder, z.B. wenn die renommierte FAZ fälschlicher Weise den Vorsitzenden der IG BCE, Hubertus Schmoldt, zum Mitglied des Bundestages erhebt. Und noch ein Aspekt: Von Agenturen und Initiativen vorproduzierte Artikel und Beiträge mehren sich - kein Wunder bei der Finanzkraft der Initiative neue soziale Marktwirtschaft.
Statt aus der Lebenswelt berichtet auch die Tagesschau lieber vom Aktienparkett, von Quartalsergebnissen und nicht von Arbeitsplatzbilanzen. Da darf dann mit mehr oder weniger bebender Stimme täglich der Reporter darauf hinweisen, dass Unternehmen X im letzten Quartal statt 500 Millionen nur 350 Millionen Euro Gewinn gemacht hat und daraufhin die Analystin von der Rating-Agentur Y eine Warnung ausgesprochen hat, in deren Folge wiederum der Kurs der Aktie eingebrochen ist. Der Dax und auch der Geschäftsklimaindex haben sich für ein ganzes Land zur Fieberkurve entwickelt. Ob diese Berichterstattung wirklich angemessen und wichtig ist?
All das wäre ein kleineres Problem, wenn wir nicht in einer Mediendemokratie leben würden. Die Medien setzen Themen und machen Karrieren, sie beschleunigen sogar Gesetzgebungsverfahren. Und sie spielen natürlich eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung von Politik und damit auch bei dem Versuch, auf Vorgaben der Politik zu reagieren. Wegen ihrer gewachsenen Bedeutung müssen sich dann aber auch Journalistinnen und Journalisten nach ihrer Verantwortung für das Land fragen lassen.
Der "Terror der Ökonomen"
Deregulierung der Wirtschaft und Degenerierung des Denkens gehen Hand in Hand. Die "Geschwätzigkeit von Professoren" - so titelte einmal die Süddeutsche Zeitung zugegeben in einem anderen Zusammenhang - leistet dazu einen großen Beitrag.
Die Direktoren der führenden Wirtschaftsinstitute ergehen sich in ihrer Kassandra-Rolle. Sie sind Stars in vielen Talk-Shows, finden aber nur Gehör, wenn sie mal wieder besonders brutale Vorschläge machen oder in besonders tiefem Farbton Schwarzseherei betreiben. Der Un-Sinn hat Methode und freut die Christiansens der Republik. Ob professorale Prognosen zutreffen oder nicht spielt meistens keine Rolle. Was schert mich denn auch mein Geschwätz von gestern? Hauptsache, die Präsenz in den Medien ist gesichert. So sind die Regeln auf dem Basar der Eitelkeiten.
Doch selbst der Laie weiß: Wirtschaft hat viel mit Psychologie zu tun. Warum sollten die Menschen aber ihren so heftig kritisierten "Konsum-Boykott" abbrechen, wenn ihnen immer wieder erzählt wird, dass sowieso kein Wachstum kommt, die Arbeitslosigkeit hoch bleibt und insgesamt keine Chance auf Besserung in Sicht ist. Man muss kein Instituts-Direktor zu sein um zu wissen, dass so das Angstsparen nicht überwunden wird.
Es wäre demnach einmal lohnend genau zu untersuchen, wie gut die Prognosen unserer Experten sind und was diese geschäftstüchtigen und publicitybewussten Wirtschaftsweisen eigentlich anrichten. Aber vom Professoren-Thron herab lässt sich ja auch bequem und sicher von Flexibilisierung, Niedriglohn und mehr Druck schwadronieren. Einem Wachmann mit einem Stundenlohn von deutlich unter fünf Euro wird danach nicht der Sinn stehen.
Die Sündenböcke - Anmerkungen zu Lage und Image der Gewerkschaften
Der DGB und die Gewerkschaften können sich mit ihren Positionen kaum gegen eine Politik und veröffentlichte Meinung behaupten, für die Wachstum alles ist, die wie das Kaninchen auf die Schlange auf Zahlen hinter dem Komma bei Prognosen und Schätzungen starrt. Gegen eine Politik vor allem, die vor Inkonsistenz nur so strotzt. Da werden Steuern gesenkt, um die Binnen-Nachfrage anzukurbeln. Gleichzeitig aber die Abgaben für Sozialversicherungen erhöht und Sparpakete beschlossen, die den positiven Effekt mehr als aufzehren.
Ist also die Kritik an den Gewerkschaften auch deswegen so heftig, weil sie im siebten Jahr rot-grün immer noch unbequeme und richtige Fragen stellen? Weil sie als eine der letzten großen gesellschaftlichen Gruppen die Unterstützung für eine Politik des genauso maß- wie planlosen Sozialabbaus verweigern, was die Kirchen zum Beispiel nicht mehr leisten? Weil sie nicht die "Reparaturkolonne der Politik" (Berthold Huber) sein wollen? Einer Politik, die so offensichtlich gescheitert ist?
Wer solche Fragen nicht beantworten will, braucht Ablenkung und Diffamierung, die hohe Zustimmungsraten in den Umfragen verspricht. Der Sozialstaat wird erst zum Gewerkschaftsstaat umetikettiert und dann zum Abschuss freigegeben. Oder für die bankrotten Kommunen wird die Tarifpolitik von Ver.di verantwortlich gemacht, nicht aber die Steuerverweigerung der Unternehmen und die sie befördernde Politik der Bundesregierung.
Dagegen sein ist nicht alles
Bei aller Kritik an Politik, Medien und Wissenschaft haben aber die schlechte öffentliche Performance der Gewerkschaften und ihre Image-Probleme auch mit ihren eigenen Defiziten zu tun. Oft wird es den eh schon wenig geneigten Berichterstattern zu einfach gemacht. Schlagzeilen gibt es dann, wenn führende Gewerkschafter mit Inhalt und Tonfall ihrer Worte wieder nur dem Klischee der Blockierer und Nein-Sager entsprechen.
Gewerkschaften gelten als Blockierer, Bremser und ewige Nein-Sager. Sie sind gegen alles und wenn sie überhaupt für etwas sind, dann für alte Werte und vermeintlich nicht mehr angebrachte und zeitgemäße Politikansätze. Dieses Image haben die Gewerkschaften nicht ohne eigenes Zutun bekommen - mag das ökonomische, politische und mediale Umfeld noch so schwierig sein. Ihre Reflexe auf wie immer geartetes Regierungshandeln sind leicht berechenbar, weil immer gleich: in aller Regel eine Mischung aus Rabulistik, Drohung und Muskelspiel. Es wird abgelehnt und nicht gestaltet - doch immer nur dagegen zu sein ist zu wenig. Das haben viele in den Gewerkschaften verstanden und vor allem wollen das auch die Mitglieder nicht. Sie erwarten eine lösungsorientierte Arbeit, wie sie sie von ihren Betriebsräten in aller Regel kennen.
Allerdings lagen Betriebsräte und Gewerkschaften mit Warnungen und Kritik oft genug auch richtig. Etwa, wenn sie vor den zwischenzeitlich so gehypten Arbeits-Modellen der new economy gewarnt haben, vor der Selbst-Ausbeutung und auch Selbst-Überschätzung von Firmengründern und vermeintlichen Visionären. War der Hinweis nicht richtig, dass gemeinsamer Pizza-Verzehr um Mitternacht kein Ersatz für geregelte Arbeitsbeziehungen ist? Heute lesen wir auch in renommierten Tages- und Wochenzeitungen immer wieder Artikel über die "Praktikanten-Republik". Ist das nicht die Pervertierung dessen, was in der "new economy" seinen Anfang nahm? Zumindest ganz schief können die Gewerkschaften nicht gelegen haben, denn in einigen start ups gab es spätestens dann Betriebsräte, als die Aktienkurse im freien Fall waren und die Beschäftigten trotz aller Dynamik auf die Straße gesetzt wurden. Überhaupt ist es ein interessantes Phänomen zu sehen, dass Gewerkschaften dann wieder Zulauf haben, wenn Jobs gefährdet sind.
Auch wenn sie oft zu Recht mahnen und warnen, ihre Probleme haben die Gewerkschaften schon länger. Dafür ist der Mitgliederverlust nur ein, aber ein ganz wichtiges, Indiz. Er resultiert aus dem Strukturwandel (Stichworte Stahl, Textil oder Bau) und der aus ihm folgenden hohen Arbeitslosigkeit. Zweiter wichtiger Faktor ist die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse. Doch diese Erklärungen greifen wie der Hinweis auf die Fehler bei der "großen Politik" - Stichwort Protest gegen die "Agenda 2010" - zu kurz. Wer Mitglied einer Gewerkschaft wird, muss ein Prozent seines Bruttolohnes an Beitrag leisten. Da entscheidet eben ein nüchternes Kosten-Nutzen-Kalkül, das konkrete Angebot im Betrieb, am Arbeitsplatz, ob jemand eintritt oder nicht.
Gerade bei gut ausgebildeten jungen Menschen und insbesondere bei Frauen haben die Gewerkschaften Rekrutierungs-Probleme. Sie sind wenn dann noch in der "alten Ökonomie" stark. Frauen und Angestellte sind in den Gewerkschaften weniger repräsentiert als es ihrem Anteil an allen Beschäftigten entspräche. Vor allem "die mit den weißen Kragen", die Wissensarbeiter, anzusprechen - das funktioniert immer noch nicht gut genug. Weder der Ton noch das Angebot sind offenbar angemessen. Klassische Milieus sind verschwunden, in denen auch die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft qua Geburt vorgegeben war.
Für die Gewerkschaften ist es ein Teufelskreis: mit schwindenden Mitgliederzahlen werden auch die finanziellen Möglichkeiten knapper. Eine denkbar schlechte Voraussetzung, um die vielen "weißen Flecken" zu beseitigen, also Betriebe, in denen Gewerkschaften gar nicht vertreten sind. Ohne Ansprache vor Ort lassen sich aber keine neuen Mitglieder werben. Ein Problem, das sich wegen des Strukturwandels und der Abnahme von Betriebsgrößen noch verschärft und auch mit neuen Medien nur sehr begrenzt auffangen lässt.
Aus diesen Schwierigkeiten heraus gibt es keinen Königsweg. Klare politische Ziele, klare Botschaften und ein gutes Angebot sind jedoch unverzichtbar. Themen wie Weiterbildung, lebensbegleitendes Lernen, eine flexible Arbeitszeitpolitik oder die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind es, die in Zukunft das gewerkschaftliche Angebot ergänzen müssen. Zeit wird zum Beispiel gerade für gut ausgebildete Beschäftigte zu einem knappen Gut. Das in einer qualitativ ausgerichteten Tarifpolitik aufzugreifen, die Zeitwohlstand neben materiellen stellt, ist eine der wichtigsten aktuellen Herausforderungen.
Auch wenn es nicht modern klingen mag: Was gut ist für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ist auch gut für das Land und seine Wirtschaft. Es geht also um eine Verbindung der Interessen der Unternehmen und der Beschäftigten. Denn natürlich haben Gewerkschaften und konkret die Betriebsräte ein hohes Interesse am Erfolg "ihrer" Unternehmen. Eine den Interessen beider Sozialpartner gerecht werdende Verbindung von Flexibilität und Sicherheit, eine Gestaltung von Arbeitsbedingungen, die Innovationen fördern, und ein Ausbau der Mitbestimmung auch in global tätigen Konzernen sind Ansätze für moderne industrielle Beziehungen.
Ziel des DGB und der Gewerkschaften ist es insgesamt, die Modernisierung der Bundesrepublik mitzugestalten. Modernisierung setzt Reformen voraus, das haben die Gewerkschaften ganz genau verstanden. Aber eben keine Reformen, die Probleme nicht lösen und nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer belasten. Denn erstens erleben wir seit Jahren genau dieses mit der Konsequenz, dass die Probleme sich weiter verschärfen. Und zweitens haben die Gewerkschaften mit dem Titel "Mut um Umsteuern" schon Anfang Mai 2003 sehr wohl konstruktive Vorschläge zu den unterschiedlichsten Themen eingebracht.
Vor allem ein im DGB erarbeitetes Modell bedarf besonderer Aufmerksamkeit: Schon Anfang 2003 wurde der Vorschlag gemacht, für alle Einkommen einen Freibetrag in der Soziaversicherung einzurichten und die dafür notwendigen Finanzmittel durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer aufzubringen. Heute ist diese Idee Stehsatz auch bei den oben so gescholtenen Ökonomen und im Wahlprogramm der CDU findet sich der Hinweis auf eine Umfinanzierung weg von Abgaben hin zu mehr Steuern. Es ist so tragisch wie bezeichnend, dass im DGB heftig das eigene Modell torpediert wurde.
Über die Freibeträge hinaus haben sich der DGB und die Gewerkschaften dafür ausgesprochen, die Wirtschafts- und Finanzpolitik neu auszurichten, die sozialen Sicherungssysteme solidarisch zu erneuern, die notwendige Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zu nutzen und zu fördern, Tarifpolitik und Mitbestimmung innovativ weiterzuentwickeln und das Thema Innovation und Bildung stärker in den Mittelpunkt von Reformpolitik zu stellen. Dieses Programm lässt sich unter der Überschrift "sozial gerechte Modernisierung" zusammenfassen.
Schließlich vertreten die Gewerkschaften die Interessen der abhängig beschäftigten Menschen und nicht nur ihrer immer noch sieben Millionen Mitglieder. Ziel ihres Handelns ist es, die Arbeits- und Lebensbedingungen so positiv wie möglich zu gestalten. Dazu gehört es auch, sie vor den Risiken der globalisierten Wirtschaft zu schützen. Und dafür zu sorgen, dass sie die Chancen nutzen können, die diese Wirtschaft ohne Frage auch bietet.
Natürlich gewinnen auch internationale Einflussfaktoren an Bedeutung für die nationale Politikgestaltung - von der Globalisierung allgemein bis hin zu sehr konkreten Richtlinien der EU-Kommission. Aber: die deutsche Politik vermittelt seit Jahren den Eindruck, unsere Gesellschaft sei bloß Opfer dieser Entwicklungen. Das ist Unsinn, wir profitieren von der Globalisierung und können sie genauso gestalten wie den demographischen Wandel. Nur ist die Frage, ob die bisher angewendete Rezeptur der Deregulierung dafür geeignet ist. Im Zeitalter des "Politainment - der Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft" (Andreas Dörner) zählen aber nur noch die einfachen Antworten. Diese Entwicklung wird von beiden Seiten, also Politik und Medien, befördert. Verkaufe wird von den spin doctors allemal wichtiger genommen als politische Inhalte. Das Programm reduziert sich auf bedruckte Schuhsohlen. Der in Berlin tätige und verselbständigte politisch-journalistische Komplex lässt Zweifel oder gar Kritik an seinem Handeln nicht zu.