Sind die Gewerkschaften noch zu retten?

Gewerkschaftsmitgliedschaft im Wandel und die Folgen für die politische Strategie

Die Gewerkschaften werden uneinheitlich wahrgenommen: Einerseits wird allerorten der Mitgliederverlust - und damit ein Repräsentanzverlust - konstatiert bis beklagt, andererseits genießen gewerkschaftliche Aktionen eine verhältnismäßig große öffentliche Wahrnehmung. Hierzu trägt die enge Bindung der Politik an die Meinungsbildung in und zwischen den Gewerkschaften bei. Die tatsächliche Zahl und die soziale Struktur der Mitglieder gerät dabei nicht selten aus dem Blick. Und Strategien zum Erhalt und zur Modernisierung gewerkschaftlicher Interessenvertretung werden eher verdunkelt als aufgehellt.
Wir wollen uns daher, ausgehend von empirischen Daten zur sozialen Struktur der Gewerkschaftsmitglieder über mögliche Strategien einer zeitgemäßen Mitgliederpolitik Gedanken machen. Unsere These ist, dass bisher die Gewerkschaftsmitgliedschaft eher eine "Schönwetterveranstaltung" war, die nicht unwesentlich politisch motiviert wurde. Dies strategisch fortzusetzen - was wir die "Stärkung der Stärken" nennen - halten wir aus Gründen des Wandels im Beschäftigungssystems und des Generationenwechsels für nicht möglich. Vielmehr könnte der Weg eines bewussten Aufgreifens der strukturellen Schwächen in der Gewerkschaftsmitgliedschaft gegangen werden. Dies nennen wir die "Bekämpfung der Schwächen". Für unsere Recherchen nutzen wir die für die Bevölkerung der Bundesrepublik repräsentativen Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Hier werden in jährlich wiederholten Befragungen sowohl objektive Strukturdaten - aus der Perspektive der Betroffenen - als auch subjektive Einstellungen ermittelt.
1. Entwicklung und Struktur der Gewerkschaftsmitglieder
Im Jahr 1985 geben gemäß SOEP hochgerechnet 7,878 Mio. Personen an, Mitglied einer Gewerkschaft zu sein. Bis zum Jahr 1993 steigt diese Zahl - überwiegend vereinigungsbedingt - auf 12,03 Mio., um dann wieder auf 8,627 Mio. in 2003 zu sinken. 75,5% der Gewerkschaftsmitglieder waren 1985 abhängig beschäftigt. Im Jahr 2003 waren es noch 65,8%. Der Anteil der nicht Erwerbstätigen, der Arbeitslosen und Rentner an den Gewerkschaftsmitgliedern betrug in 1985 19,1%, im Jahr 2003 waren es 30,2%. Der Anteil der Rentner stieg von 14,1% in 1985 auf 22,8% in 2003. In den Jahren 1985 bzw. 2003 betrug der Anteil der Arbeiter 40,9% bzw. 27,9%, der Angestellten 23,4% bzw. 27,3%, der Beamten 11,2% bzw. 10,6%. Der Anteil der gelernten Facharbeiter (eine für die praktische Organisationsmacht wichtige Gruppe) sank von 20,4% in 1985 auf 13,9% in 2003. Auch der Anteil der Auszubildenden und Praktikanten (eine Reserve für zukünftige gewerkschaftliche Partizipation) sank von 4,2% auf 2,5%.
Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder ist also im Zeitverlauf (1985 bis 2003) insgesamt leicht gestiegen, im Vergleich zu dem hohen Wert nach der Wiedervereinigung aber dramatisch gesunken. Dabei gab es deutliche Verschiebungen in der Struktur der Gewerkschaftsmitglieder zu Lasten der Beschäftigten und zu Gunsten der Nicht-Erwerbstätigen, Rentner und Arbeitslosen. Innerhalb des Segmentes der Beschäftigten nahm der Anteil der Arbeiter und insbesondere der gelernten und Facharbeiter im Zeitverlauf deutlich ab. Der Anteil der Angestellten nahm zu, der Anteil der Beamten blieb dagegen nahezu konstant. Der Anteil des öffentlichen Dienstes an den Gewerkschaftsmitgliedern ist überproportional hoch.
Der gewerkschaftliche Organisationsgrad kann unterschiedlich bestimmt werden: Aber nur der Nettoorganisationsgrad (NOG) lässt ernsthafte Aussagen über die Verankerung der Gewerkschaften in den Betrieben und damit über ihre tatsächliche Kampfkraft zu. Der NOG bezeichnet den Quotienten aus den abhängig beschäftigten Gewerkschaftsmitgliedern und den abhängig Beschäftigten insgesamt. Der NOG ist im Zeitverlauf deutlich gesunken, obwohl die Mitgliederzahlen absolut gestiegen sind. Er sank von 25,15% im Jahre 1985 auf 17,62% in 2003. Wie wir in unseren Recherchen zudem sahen, sank die relative Anzahl der Erwerbstätigen im primären Sektor (Grundstoffindustrie und Landwirtschaft) und sekundären Sektor (verarbeitendes Gewerbe) im Zeitverlauf (1985 bis 2002), wohingegen es im tertiären Sektor (Handel, Banken, Versicherungen und produktionsnahe Dienstleistungen) und quartiären Sektor (sonstige Dienstleistungen, Erziehung und Wissenschaft sowie öffentliche Verwaltung) Zuwächse gab. Diese Tendenz ist auch bei den Gewerkschaftsmitgliedern erkennbar. Allerdings finden wir hier deutliche Verschiebungen. Der Verlust der Erwerbstätigen im sekundären Sektor war bei den Gewerkschaften stärker ausgeprägt als bei den Erwerbstätigen insgesamt. Hierbei ist zu bedenken, dass sich die Gewerkschaften nach dem Krieg ganz wesentlich aus diesem Sektor speisten, was man noch für das Jahr 1985 mit einem Anteil von 54,9% der erwerbstätigen Gewerkschaftsmitglieder erkennen kann. Der quartiäre Sektor dagegen verzeichnet einen bemerkenswerten Zugewinn an Gewerkschaftsmitgliedern. Während 1985 24,1% der erwerbstätigen Gewerkschaftsmitglieder dort tätig waren, finden wir in diesem Bereich im Jahr 2002 dort bereits 33,3% der Gewerkschaftsmitglieder. Diese Verschiebung in der Mitgliederstruktur speist sich ganz wesentlich und überproportional aus dem Wachstum des öffentlichen Dienstes.
Der Schrumpfungsprozess bei den beschäftigten Gewerkschaftsmitgliedern ist nicht die Folge einer quantitativen Erosion des Beschäftigungssystems: Der Anteil der Beschäftigten bei den Übrigen (= Nicht-Mitgliedern) hat um 4,4 % zugenommen, bei den Gewerkschaftsmitgliedern um 9,7 % abgenommen. Besonders deutlich ist der Verlust bei den Arbeitern (-13%), der nur teilweise durch einen Zugewinn bei den Angestellten ausgeglichen wird (ein Zuwachs um 3,9 %, bei den Übrigen waren es 6,2%). Dramatisch ist der Zuwachs der nicht Erwerbstätigen, Arbeitslosen und Rentner (11,1%), die bei den Übrigen sogar leicht abgenommen haben (-1,1): Insbesondere die Nicht-Erwerbstätigen haben in ihrer Bedeutung abgenommen (von 17,1% auf 8,7% der Befragten), wohingegen die Rentner (23,4% zu 27,6%) und die Arbeitslosen (4,1% zu 7,2%) in ihrem Anteil gestiegen sind.
Der Anteil der Facharbeiter hat bei den Übrigen im Zeitverlauf geringfügig abgenommen, während er bei den Gewerkschaftsmitgliedern deutlich gesunken ist. Das Wachstum des Anteils der Angestellten bei den Gewerkschaftsmitgliedern vollzieht mit schwächerer Ausprägung das Wachstum bei den Übrigen nach. Die Beamten sind relativ konstant vertreten; ein leichtes Sinken beim einfachen und mittleren Dienst steht einer Steigerung beim gehobenen und höheren Dienst gegenüber.
55,1% der Gewerkschaftsmitglieder sind 2003 voll erwerbstätig, 1985 waren es 72,3% der Mitglieder. Zum Teil ist diese Veränderungen auf die Zunahme des Anteils der teilzeitbeschäftigten Mitglieder (1985: 4,47%, 2003: 10,17%) und der geringfügig Beschäftigten zurückzuführen, zum anderen auf die deutliche Zunahmen der nicht erwerbstätigen Gewerkschaftsmitglieder von 19,9% in 1985 auf 29,5% in 2003.
Es liegt die Vermutung nahe, dass diese Verschiebung in der Mitgliederstruktur die Veränderung im Beschäftigungssystem insgesamt widerspiegelt. Das ist aber nur zum Teil der Fall: In der Tat hat der Anteil der voll Erwerbstätigen an den Befragten insgesamt (die Bevölkerung ab 17 Jahre) von 42,1% in 1985 auf 37,3% in 2003 abgenommen. Der Anteil der nicht Erwerbstätigen ist mit ca. 46% nahezu konstant geblieben. Der Wandel in der Struktur der Gewerkschaftsmitglieder überzeichnet also zum einen den Wandel der Erwerbsstruktur, zum anderen weicht er hinsichtlich des Anteils der nicht Erwerbstätigen davon ab. Ursache sind der wachsende Anteil der Arbeitslosen an den Gewerkschaftsmitgliedern und die Altersstruktur (siehe unten) bzw. der Anteil der Rentner.
Wir erkennen also nicht nur eine Verschiebung im Beschäftigungssystem hinsichtlich der Erwerbstätigkeit, sondern auch hinsichtlich der sektoralen Zugehörigkeit. Der traditionell gewerkschaftlich wichtige, sekundäre Sektor sinkt in seiner Bedeutung, während der quartiäre Sektor deutlich zunimmt. Der tertiäre Sektor hinkt sogar leicht zurück. Die Verschiebung der Struktur der Gewerkschaftsmitglieder im Zeitvergleich vollzieht nicht einfach diesen Wandel in der Beschäftigtenstruktur insgesamt nach. Wir konstatieren einen überproportionalen Verlust bei den Arbeitern, einen unterproportionalen Anstieg bei den Angestellten und eine leichte Verschiebung bei den Beamten zugunsten der höheren Dienstgruppen. Der Trend bei den Nicht-Erwerbstätigen, Arbeitslosen und Rentner ist geradezu gegenläufig. Nicht nur der NOG sinkt also im Zeitverlauf, sondern die Bedeutung des tertiären und quartiären Sektor wächst deutlich auf 60% der erwerbstätigen Gewerkschaftsmitglieder. Es wäre also falsch, eine Erosion der gewerkschaftlichen Organisationsmacht, die sich im NOG ausdrückt, auf den Wandel des Beschäftigungssystems zu schieben.
Wie sieht nun die Sozialstruktur der Gewerkschaftsmitglieder im Jahr 2003 aus?
Ganz deutlich ist eine Überalterung der Gewerkschaftsmitglieder im Vergleich zu den übrigen Befragten bis zum 56. Lebensjahr zu konstatieren. Insofern nicht ausreichend jüngere Mitglieder gewonnen werden können (siehe unten), wird das in wenigen Jahren zu einem dramatischen Strukturproblem führen, bereits jetzt sind 55% der Gewerkschaftsmitglieder 47 Jahre und älter. Männer sind in den Gewerkschaften deutlich überrepräsentiert, ebenso Angehörige des öffentlichen Dienstes. Letzteres widerspiegelt sich auch in der Größe der Betriebe, in denen die Befragten beschäftigt sind.
Die Privatwirtschaft ist im Gegensatz zum öffentlichen Dienst - hinsichtlich der Beschäftigten - mittelständisch geprägt. Wenn 64,6% der beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder in Betrieben über 200 Beschäftigten tätig sind, ist das eindeutig der Ausdruck des überproportionalen Anteils des öffentlichen Dienstes (37,5% gegenüber 24,0% der Übrigen) bei den Gewerkschaftsmitgliedern.
Wie erleben die Gewerkschaftsmitglieder ihre Beschäftigung im Unterschied zu den Übrigen?
Bei dem Vergleich der beruflichen Erwartungen der Gewerkschaftsmitglieder und der übrigen Erwerbstätigen fällt auf, dass die beruflichen Erwartungen hinsichtlich der Suche nach einer neuen Stelle bzw. des Arbeitsplatzverlustes oder des Berufswechsels bei den Mitgliedern besser sind als bei den Übrigen. Lediglich der berufliche Abstieg wird als wahrscheinlicher empfunden.
Trotzdem: 58,1% der Gewerkschaftsmitglieder machen sich große Sorgen um die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung (bei den Übrigen sind es 54,5%). Aber nur 23,3% der Gewerkschaftsmitglieder machen sich um die eigene wirtschaftliche Situation große Sorgen (bei den Übrigen sind es 24,3%). Und nur 17,8% der Mitglieder machen sich große Sorgen um die Arbeitsplatzsicherheit (Übrige: 15,6%).
In den Zufriedenheiten mit verschiedene Lebensbereichen unterscheiden sich Mitglieder von Nicht-Mitgliedern kaum und nur in drei - allerdings auffälligen - Punkten: Die Mitglieder sind zufriedener mit dem Haushalts-Einkommen und der Freizeit als die Nicht-Mitglieder, und unzufriedener mit dem Zustand unserer Umwelt.
Determinanten der Gewerkschaftsmitgliedschaft
Eine Faktorauswertung zeigt, dass das Alter den stärksten Einfluss auf die Mitgliedsentscheidung hat, gefolgt von der Beschäftigung im öffentlichen Dienst, dem Geschlecht, der Betriebsgröße und der benötigten Ausbildung. Der typische Gewerkschaftler ist älter als 40, männlich, arbeitet in Westdeutschland in einem Betrieb über 200 Beschäftigte und hat eine abgeschlossene Berufsausbildung. Wahrscheinlicher (mit 37,5%) als der Durchschnitt der Beschäftigten (24,0%) arbeitet er/sie zudem im öffentlichen Dienst.
Diese statistische Betrachtung enthält wenig Informationen darüber, wie sich die Mitglieder hinsichtlich Eintritt und Austritt verhalten. Deshalb haben wir dieses Verhalten im Vergleich der Jahre 2001 zu 2003 untersucht, falls die Befragten in beiden Jahren geantwortet haben. Für den Vergleich der Jahre ergeben sich 1,9 Mio. Austritte und 1,2 Mio. Eintritte, also im Saldo ein Verlust von 700 Tausend Mitgliedern (Todesfälle und sonstige statistische Ausfälle nicht gerechnet, im Vergleich der hochgerechneten Fallzahlen erhalten wir ein Saldo von 800 Tausend Befragten).
Erwartungsgemäß treten Jüngere eher ein und Ältere eher aus. Für alle Jahrgänge ist der Saldo aber negativ. Die Erwerbstätigkeit ist - ebenfalls erwartungsgemäß - eher ein Grund zum Eintritt, während die Nicht-Erwerbstätigkeit ein Grund zum Austritt ist. Die Beschäftigung im öffentlichen Dienst begünstigt den Eintritt. Hinsichtlich der Betriebsgröße ist das Bild nicht eindeutig, da sowohl kleine als auch größere Betriebe einen höhere Zahl von Eintritten haben, im Saldo sind aber auch hier alle Größenklassen negativ. Im Hinblick auf die benötigte Ausbildung sind sowohl geringe als auch hohe Qualifikationen bei den Eintritten deutlich bevorzugt.
Die beruflichen Zukunftserwartungen in den Jahren 2001 bis 2003 lassen sich mittels Faktoranalyse zu drei Komponenten zusammenfassen:
* Umstieg: neue Stelle suchen, Arbeitsplatz verlieren, anderen Beruf ausüben, beruflicher Abstieg im Betrieb, Wechsel Vollzeit-Teilzeit.
* Aufstieg: beruflicher Aufstieg im Betrieb, Weiterqualifizierung, außertarifliche Gehaltserhöhung.
* Ausstieg: Erwerbstätigkeit aufgaben, Rente und Vorruhestand.
Diese Komponenten nun können wir zur Mitgliederentwicklung 2001 bis 2003 in Beziehung setzen. Demnach gibt es praktisch keine Korrelation zwischen Umstieg und Mitgliedschaft, aber eine leicht positive Korrelation zwischen Aufstieg und Mitgliedschaft und eine leicht negative Korrelation zwischen Ausstieg und Mitgliedschaft. Negativ erlebte Veränderungen im Sinne eines Arbeitsplatz- oder Berufswechsels oder auch des erwarteten Abstiegs im Betrieb scheinen so gut wie keinen Einfluss auf die Mitgliedschaft zu haben, wohingegen sich der erwartete Aufstieg im Sinne einer erhöhten Eintrittsbereitschaft und der Ausstieg im Sinne einer erhöhten Austrittsbereitschaft auswirkt. Das alles natürlich vor dem Hintergrund, das die Saldi zwischen Eintritt und Austritt in fast allen strukturellen Bereichen negativ sind. Wir können dies u.a. so interpretieren, dass durch stärkere Identifikation mit der eigenen beruflichen Stellung die Neigung zu gewerkschaftlichem Engagement zu wachsen scheint und die Mitglieder von ihren Gewerkschaften mehr zu sein erwarten, als eine reine Lohnmaschine.
Die Gewerkschaftsmitgliedschaft speist sich also nicht aus prekären Beschäftigungsbedingungen. Ein Verlust derselben vollzieht sich eher unabhängig von der Veränderung dieser Bedingungen. Bessere Bedingungen sind dem Eintritt wohl förderlicher als schlechtere Bedingungen. Insbesondere der erwartete oder tatsächliche Verlust des Arbeitsplatzes scheint sich zuweilen befördernd auf den Austritt auszuwirken, der berufliche Abstieg im Betrieb dagegen befördernd auf den Eintritt. Zusammengenommen haben diese negativen Veränderungen kaum Einfluss auf das Eintrittsverhalten. Anders ist es mit dem beruflichen Aufstieg (Eintritt) oder dem erwarteten Ausstieg (Austritt, allerdings nicht flächendeckend, sonst gäbe es nicht so viele Nicht-Erwerbstätige unter den Mitgliedern).
Eine rein politische Entscheidung ist die Mitgliedschaft aber auch nicht, wobei Sorgen um die allgemeine wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung wohl eine Rolle spielen. Das geringere Interesse für Politik bei den Eingetretenen im Unterschied zu den Ausgetretenen ist altersbedingt: Das Interesse für Politik ist bei den Älteren deutlich ausgeprägter als bei den Jüngeren. 29,2% der 17 bis 26 Jährigen sagen 2003, dass sie sich stark bis sehr stark für Politik interessieren, bei den 47 bis 56 Jährigen sind es 43,6%. Das erklärt, warum bei den eintretenden eher Jüngeren das Interesse für Politik geringer ist als bei den austretenden eher Älteren. Insgesamt ist das Interesse für Politik bei den Gewerkschaftsmitgliedern deutlich stärker ausgeprägt als bei den Übrigen: 48,6% der Gewerkschaftler/innen äußern 2003 ein starkes bis sehr starkes Interesse, bei den Übrigen sind es 40,3%. Dies gilt, wenn auch in geringerem Maße ebenfalls für die jüngeren Gewerkschaftsmitglieder, die verglichen mit ihrer Generation immer noch ein höheres politisches Interesse angeben. Wir können also vermuten, dass zumindest in der Vergangenheit politische Motive beim Gewerkschaftseintritt (neben traditionalen Faktoren) eine Rolle spielten. In der Regel ist eine schlechte individuelle wirtschaftliche Lage nicht der entscheidende Faktor für die Mitgliedschaft. Insofern die Jüngeren politisch weniger interessiert sind und gute individuelle wirtschaftliche Lagen weniger werden, erklärt das schlüssig den Mitgliederschwund und die Überalterung der Gewerkschaften. Wir haben Hinweise darauf gefunden, dass bei den im Vergleich zu den Älteren politisch weniger interessierten Jüngeren (die gleichwohl als Gewerkschaftsmitglieder stärker interessiert sind als ihre Altersgenossen) ein unmittelbares Ungerechtigkeitsempfinden eine Rolle bei den Eintritten spielt.
2. Folgerungen für die politische Strategie
Wir können sagen, dass angesichts der Altersstruktur, die auf einen Eintritt in konjunkturell besseren Zeiten schließen lässt, der Überrepräsentanz des öffentlichen Dienstes sowie der für die Mitglieder höheren Arbeitsplatzsicherheit angenommen werden kann, dass die Gewerkschaftsmitgliedschaft - zumindest in der Vergangenheit - eher eine "Schönwetterveranstaltung" war. Die Gewerkschaften sind getragen von älteren Arbeitnehmern in Normalarbeitsverhältnissen, die in ihrer Beschäftigung zudem wenig bedroht sind.
Aber was bedeutet dieser Befund nun für die künftig gewerkschaftliche Strategie?
Der sektorale Wandel der letzten 25 Jahre findet in der strukturellen Zusammensetzung der Gewerkschaftsmitgliedschaft keinen oder nur wenig Niederschlag. Die unzureichende Repräsentanz von Frauen, jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Beschäftigten in kleinen und mittleren Betrieben machen dies deutlich. Ebenso die Verschiebung der Beschäftigungsmöglichkeiten zwischen den Sektoren, die in den Gewerkschaften nur unvollständig repräsentiert wird.
Zum anderen wird deutlich, dass die neuen Risiken prekärer Beschäftigung offensichtlich gewerkschaftlich kaum organisiert werden. Der Abbau von Arbeitnehmerrechten und berufliche Unsicherheit treibt Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eben nicht automatisch den Gewerkschaften in die Arme.
Da der Schrumpfungsprozess der Mitgliedschaft und das Sinken der Repräsentanz der Beschäftigten durch die Gewerkschaften (gemessen am NOG) dramatisch sind, stellt sich die Frage nach den Reaktionsmöglichkeiten der Gewerkschaften. Es kommen zwei strategische Optionen in betracht:
(1) "Strategie der Stärkung der Stärken":
Zum einen könnten sie versuchen, die bisherige Entwicklung in ihren positiven Aspekten verstärkt zu nutzen: Sie müssten dazu die Probleme des Beschäftigungssystems stärker politisieren und sich damit an diejenigen wenden, die von den negativen Folgen (noch) nicht so stark betroffen sind. Die Mitgliederwerbung und -betreuung konzentriert sich auf die Klientel, in denen die Gewerkschaften heute immer noch stark sind. Dies sind vorwiegend Männer, die in Großbetrieben, insbesondere auch in Betrieben des öffentlichen Dienstes arbeiten, überdurchschnittlich qualifiziert sind und die Vorzüge vergleichsweise sicherer Beschäftigungsverhältnisse genießen.
(2) "Strategie der Bekämpfung der Schwächen":
Zum anderen könnten die Gewerkschaften versuchen, gerade die Defizite aufzugreifen. Auffällige Defizite bestehen bei der jüngsten Altersgruppe (17 bis 26 Jahre), bei den geringfügig Beschäftigten, den Beschäftigten in kleinen Unternehmen, Arbeitnehmer/innen ohne Ausbildung oder mit abgeschlossener Fachhochschulausbildung. Für diese Gruppen müssten spezifische Angebote entwickelt werden, wobei das geringere politische Interesse der Jüngeren ebenso zu berücksichtigen ist wie die prekären Beschäftigungsverhältnisse der geringfügig Beschäftigten und der Arbeitnehmer/innen in kleinen Unternehmen. Die wahrgenommene Arbeitsplatzunsicherheit 2003 ist in KMU nämlich höher als in größeren Unternehmen. Diese Strategie bedeutet die Hinwendung zu neueren Branchen (größtenteils ohne gewerkschaftliche Tradition), jüngeren Arbeitnehmern und vor allem Arbeitnehmerinnen.
Beide Ansätze sind durchaus ernst zu nehmen. Die Gewerkschaften haben die Wahl zwischen diesen beiden Strategien, die sich teilweise ausschließen, da sie entweder an den "politisierten" Normalarbeitsverhältnissen ansetzen oder an einer erlebten Erosion derselben. Unabhängig davon müssen sich die Gewerkschaften wirtschaftlich auf einen kontinuierlichen Schrumpfungsprozess ihrer Mitglieder einrichten.
Die Strategie der Stärkung der Stärken verspricht einfachere und schnellere Erfolge. Die soziale Struktur der Mitglieder und der Zielgruppe sind weitgehend identisch. Dies macht eine widerspruchsfreiere Interessenvertretung möglich. Für Arbeitnehmer ab 40 ist es noch nicht zu spät, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Aufgrund ihrer politischen Einstellungen sind sie leichter ansprechbar.
Auf der anderen Seite bedeutet diese Strategie auch die Spaltung der Arbeitsgesellschaft in einen gewerkschaftlich vertretenen relativ abgesicherten Bereich und nicht durch gewerkschaftliche Teilhabe regulierte Wirtschaftsbereiche, in denen Beschäftigung häufig prekär ist. Auf lange Sicht kann dies keine tragfähige Strategie sein, bedeutet doch der Rückzug der Gewerkschaften auf einige Inseln der Ökonomie letztlich ihren Untergang durch Aussterben.
Bei der Durchsetzung einer Strategie der Bekämpfung der Schwächen sehen wir zwei Kardinalprobleme:
* Die Klientel (Jüngere, Frauen, Beschäftigte in KMU, Beschäftigte in einfachen und / oder prekären Beschäftigungsverhältnissen) ist schwer zu gewinnen als die bisherige Klientel (relativ gut situierte, politisch interessierte qualifizierte Arbeitnehmer in größeren Unternehmungen mit Normalarbeitsverhältnissen sowie im öffentlichen Dienst). Der Aufwand ist beträchtlich höher, die Betreuung schwieriger und der wirtschaftliche Effekt aus den Mitgliedsbeiträgen niedriger.
* Eine Orientierung an der schwierigen Klientel kann die traditionellen Mitglieder vergraulen, weil gewohnte Standards der Normalbeschäftigung möglicherweise verlassen werden müssen um den veränderten Beschäftigungschancen zunächst einmal eine tarifliche Struktur zu geben. Die Gewerkschaften müssen sich auf die Kultur der Brachen einlassen, die bisher als schwierig und beschäftigungspolitisch sündhaft empfunden wurden. Das wird aber wohl nicht ohne - negative - Folgen für die gutsituierten Noch-Mitglieder bleiben.
Soll die Erschließung neuer gewerkschaftlicher Zielgruppen gelingen, müssen Sie sich politisch, wie organisatorisch diesem Ziel entsprechend neu aufstellen.
Auf der politischen Ebene bedeutet dies:
* Durch Identifikation mit der eigenen beruflichen Stellung scheint die Neigung zu gewerkschaftlichem Engagement zu wachsen. Dies bedeutet, dass die deutschen Gewerkschaften gerade in den neuen Dienstleistungsberufen ohne lange Tradition sich die Förderung eines Berufsstolzes auf die Fahnen schreiben müssen. So muss sichergestellt werden, dass beispielsweise die Diskussion über einen Niedriglohnsektor von den dort Beschäftigten nicht als stigmatisierend empfunden wird.
* Mitglieder erwarten von ihren Gewerkschaften mehr zu sein, als eine reine Lohnmaschine. Es geht nicht nur um die Lohnhöhe, sondern auch und gerade um Gerechtigkeit. Dabei spielt, wie unsere Auswertung gezeigt hat, die Frage des innerbetrieblichen Karriereauf- oder -abstieges eine wichtige Rolle für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deshalb könnte auch von betrieblichen oder tariflichen Regelungen, die individuelle Entwicklungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten schaffen, eine große Attraktivität ausgehen. Die Gewerkschaften würden somit vom Garanten eines möglichst hohen Marktwertes der Arbeit zu einem Garanten der Marktfähigkeit der Arbeit werden.
Organisatorisch bedeutet die Strategie der Bekämpfung der Schwächen, sich ganz bewusst auf eine Spaltung der Arbeitsgesellschaft einzustellen. Diese Spaltung vollzieht sich heute schon in jeder Fabrik mit ihrer Kernbelegschaft und den aus industriellen Dienstleistern und Leiharbeitnehmern bestehenden Peripheriebelegschaften. Es ist schwer vorstellbar, dass es gelingt, beide Gruppen von der gleichen Gewerkschaft oder gar noch durch den gleichen Gewerkschaftssekretär zu vertreten. Hier gilt es die Tradition der Organisation in Branchengewerkschaften kreativ zu nutzen.