Entpolitisierung des Rechtsextremismus

Je mehr die großen Parteien an Stimmen verlieren, desto stärker neigen sie dazu, den Wählerinnen und Wählern...

Je mehr die großen Parteien an Stimmen verlieren, desto stärker neigen sie dazu, den Wählerinnen und Wählern einen gesunden Menschenverstand und eine politisch motivierte Wahlentscheidung abzusprechen. Nach den Erfolgen rechtsextremer Parteien bei den Landtagswahlen im Saarland, in Sachsen und Brandenburg sowie - dort, wo sie angetreten sind - auch bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen wird behauptet, rechtsextreme Parteien würden nur aus "Trotz" gewählt. Es handele sich um einen sozialen Aufschrei der Arbeitslosen, der Vereinigungs- und Modernisierungsverlierer, der durch Sozialreformen Verunsicherten. Oder, unter Hinweis auf den großen Anteil von Erstwählerinnen und Erstwählern: Dies sei die unreife Wahlentscheidung junger Erwachsener, die politisch noch nicht hinreichend erzogen seien.

Die Erklärungsmuster, die hier gewählt werden, entstammen der Verhaltensforschung und Psychologie, der Ökonomie und Pädagogik. Dass eine Wahlentscheidung in erster Linie eine politische Handlung ist, gerät dabei aus dem Blick.

Verbreitet wird angenommen, wer sich für die Wahl einer rechten Partei entscheide, tue dies gewissermaßen aus Versehen, falle auf "dumpfe Parolen" herein, kurz: habe es eigentlich gar nicht so gemeint. Dementsprechend wird die Forderung aufgestellt, man möge zwischen den Wählerinnen und Wählern einer Partei - den Verführten - und ihren Aktivisten - den Verführern - unterscheiden. Eine im Auftrag der ARD erstellte Wahlanalyse von Infratest dimap scheint diese Einschätzung zu bestätigen: Befragt nach den wichtigsten Wahlmotiven nannten 57 Prozent der sächsischen NPD-Wähler die Hartz IV-Gesetze und die Arbeitsmarktpolitik. Dies stärke die "These der meisten Politologen, dass es sich hier zum großen Teil um eine Protestwahl handelt".1

Diese Annahme steht jedoch in einem erstaunlichen Kontrast zu den empirisch gesicherten Erkenntnissen über rechtsextreme Einstellungspotenziale. Wenn die sächsische NPD 9,2 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen konnte, so entspricht das dem Prozentsatz der Bundesbürger, bei denen ein geschlossen rechtsextremes Weltbild erwartet werden kann. Genauer gesagt: Es bildet die Untergrenze dieses Potenzials. Einer der besten Kenner der Materie, der Berliner Politikwissenschaftler Richard Stöss, beziffert das rechtsextreme Einstellungspotenzial mit bundesweit etwa 15 Prozent (11 bis 12 Prozent in den alten, 18 bis 19 Prozent in den neuen Ländern).2 Dabei handelt es sich um geschlossen rechtsextreme Weltbilder, während der Anteil der diffus rechts orientierten Menschen, die bloß einige Elemente rechtsextremer Weltanschauung teilen, noch deutlich darüber liegt. Dass die meisten sächsischen NPD-Wähler als zentrales Wahlmotiv die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nennen, muss also nicht heißen, dass sie aus Protest rechts gewählt haben. Welche Aspekte dieser Politikfelder ihnen problematisch erscheinen, welche politischen Lösungen sie präferieren, geht aus der Frage nicht hervor. Hinzu kommt, dass immerhin 38 Prozent die Ausländerpolitik als wichtigstes Motiv für die Wahl einer Partei angeben, die einen offen rassistischen Wahlkampf betrieben hatte.3

Betrachtet man die Wahlergebnisse genauer und vergleicht sie mit denen vorangegangener Wahlen, so zeigt sich, dass es der extremen Rechten bisher selten gelungen ist, ihr Wählerpotenzial einigermaßen auszuschöpfen. Diese Parteien, Listen und Wählervereinigungen wurden lange Zeit nicht aus Trotz gewählt, obwohl sie rechtsextrem sind, sondern von vielen, die ihre Positionen tendenziell teilen, in der Regel trotzdem nicht gewählt. In Sachsen und Brandenburg könnte sich jetzt eine neue Tendenz andeuten, die mit der Erosion der Volksparteien und der gesteigerten Wählervolatilität einhergeht: dass sich nämlich das rechtsextreme Potenzial der Bevölkerung zunehmend in den Wahlergebnissen widerspiegelt. Darauf lassen die Befunde der politischen Meinungsforschung eindeutig schließen. Die ihnen gegenüber weithin geübte Ignoranz macht dagegen deutlich, dass der politische Charakter der extremen Rechten nicht im Mittelpunkt der Debatte steht.

Dabei handelt es sich im Kern um ein politisches Phänomen: Die Unterscheidung zwischen links und rechts ist eine zwischen politischen Orientierungen. Ökonomie, Rechtswissenschaft, Soziologie, Psychologie oder Erziehungswissenschaften können mit ihren Fragestellungen und Methoden zweifellos wichtige Beiträge für ein genaueres Verständnis der extremen Rechten leisten, sind aber in diesem Zusammenhang eher "Hilfswissenschaften".

Pädagogisierung des Problems

Wenn vom "Rechtsextremismus" die Rede ist, werden seit Jahren die nicht im engeren Sinne politischen Aspekte betont. Seit der ersten Hälfte der 90er Jahre ist die Entpolitisierung des Phänomens vorangeschritten. Dies ist nicht allein Produkt einer konservativen Strategie. Ansätze zur Analyse des Phänomens und zur Entwicklung von Gegenmaßnahmen, die eigentlich von linken oder progressiven Ausgangspunkten aus entstanden sind, haben die Entpolitisierung befördert. Schon seit den 70er Jahren spielte das Thema in der politischen Bildungsarbeit und Erwachsenenbildung eine Rolle. Psychologen und Pädagogen hielten es für ihre Pflicht, die Auseinandersetzung mit neonazistischem, militaristischem und fremdenfeindlichem Gedankengut in die Schulen, Volkshochschulen und Gewerkschaftsseminare zu tragen. Das ist zweifellos sinnvoll, wird aber dann problematisch, wenn die pädagogischen und psychologischen Aspekte die politischen verdecken. Die konservativen Deutungsmuster und Lösungsstrategien konnten erst auf dieser Grundlage entwickelt werden, als rechtsextreme politische Handlungen und Einstellungen bereits pädagogisiert und pathologisiert worden waren.

Quasi regierungsamtlich wurde die Delegierung an die Pädagogik im Jahr 1991. Angesichts rechtsextremer Ausschreitungen und Übergriffe fiel der Bundesregierung nichts Besseres ein, als das Problem an die damalige Bundesministerin für Frauen und Jugend, Angela Merkel, zu verweisen, die aus umfangreichen Mitteln des Bundesjugendplans ein schlecht durchdachtes und noch schlechter umgesetztes "Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt" auflegte. In Hoyerswerda 1991, wie auch ein Jahr später in Rostock, hatten die Pogromhelden ihre politische Zielsetzung mehr als deutlich gemacht: "Deutschland den Deutschen - Ausländer raus!" skandierten sie - eine politische Forderung, die auch von NPD und DVU propagiert wurde. Für die Ministerin dagegen handelte es sich um Provokationen vernachlässigter Jugendlicher, ja geradezu um "verborgene Hilferufe". Die Auseinandersetzung mit einer strukturell gewalttätigen und gewaltförmigen politischen Richtung wird seither oft verwechselt mit der jugendpflegerischen Aufgabe der Gewaltprävention. So wichtig Anti-Gewaltprogramme und Deeskalationstrainings sein mögen: Am politischen Kern des Problems der extremen Rechten gehen sie vorbei.

Eine gängige politikwissenschaftliche Definition beschreibt Rechtsextremismus als Demokratiefeindlichkeit von rechts. Diese Definition kann nicht befriedigen. Was unter "Rechts" zu verstehen sei und wie es von seinem Gegenbegriff "Links" abgegrenzt werden kann, bleibt offen.

Die bevorzugte graphische Darstellung ist die Rechts-Links-Achse. Sie wird üblicherweise in sieben Abschnitte unterteilt. Auf beiden Seiten der Mitte gruppiert sich jeweils die "demokratische" Rechte bzw. Linke, daneben ebenfalls spiegelbildlich ein Bereich - manchmal als "Radikalismus" markiert -, in dem zwar die Verfassungs- und Rechtsordnung abgelehnt, nicht aber bekämpft werde, und der daher als Form der freien Meinungsäußerung zu tolerieren sei. Schließlich wird an beiden Rändern der Achse ein Abschnitt als "Extremismus" markiert, in dem (entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum SRP-Verbot von 1952) die Demokratie militantkämpferisch abgelehnt werde und der daher außerhalb des Tolerierbaren liege.

Der italienische Politologe Norberto Bobbio hat eine weitere Dimension in die Begriffsbildung eingeführt.4 Er füllt zunächst die Begriffe Rechts und Links, indem er sie auf das politisch-soziale Ordnungskonzept der Gleichheit bzw. Ungleichheit bezieht. Die Rechts- Links-Achse kann insofern nicht zu einem Hufeisen verbogen werden: Kriterium ist nicht primär, ob demokratische Formen eingehalten werden, sondern in welchem Maße sich eine Politik an egalitären Zielvorstellungen orientiert. Rechtsextrem ist demnach eine Position, die das Prinzip der Gleichheit der Menschen radikal negiert. In der Tat äußert sich in den zentralen Elementen rechtsextremer Politik und Ideologie - wie Rassismus, Männerdominanz, sozialer Ungleichheit etc. - eine entschieden anti-egalitäre Einstellung.

Ein zweites Unterscheidungskriterium, das durch Bobbios Modell eingeführt wird, ist die Frage der Freiheit. Auf dieser Achse wird das Spektrum zwischen libertären und autoritären Positionen abgebildet, oder anders gewendet: zwischen Ablehnung und Bejahung der Demokratie. So kann Bobbio eine autoritäre, antidemokratische Rechte von einer libertären, demokratischen abgrenzen. Graphisch lässt sich das als Vierfelder-Diagramm darstellen, also als zweidimensionales Bild. Beide Achsen dienen der Festlegung eines politischen Koordinatensystems, mit dem sich, so Bobbio, das "gesamte Spektrum der politischen Doktrinen und Bewegungen" schematisch abbilden lasse.

Bobbios Vorschlag fand zwar zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung vor zehn Jahren einiges Interesse, wurde aber in der Rechtsextremismusforschung allenfalls verkürzt wahrgenommen: Statt sich beider Elemente als konstitutiv anzunehmen, also die Stellung zu Freiheit und Gleichheit als Unterscheidungskriterien für Rechtsextremismus zu reflektieren, erscheint nur die Achse Libertär-Autoritär als relevant, während die Frage der Gleichheit systematisch ausgeblendet wird. Damit aber werden die Unterscheidungen eingeebnet, es entsteht ein eindimensionales Bild - die Analyse wird "platt".

Demokratiefeindlichkeit?

Analytisch wird so die eigentlich politische Differenz zwischen Rechts und Links weitgehend ausgeklammert. Mit dieser Art der Annäherung, die nicht zufällig primär die Einhaltung demokratischer Spielregeln und die Beachtung rechtsstaatlicher Normen zum entscheidenden Kriterium erhebt, trägt die Politikwissenschaft selbst zur Entpolitisierung des Rechtsextremismusbegriffs bei. Damit wird das Problem zwar nicht an Psychologie oder Erziehungswissenschaft, wohl aber an die Juristen delegiert, denn Legalität und Verfassungskonformität lassen sich in erster Linie juristisch prüfen und bewerten. Diese Reduktion des Phänomens ist auch insofern absurd, als die politische Praxis in den meisten demokratischen Parteien Verstöße gegen die Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaat beinhaltet - erinnert sei an dieser Stelle nur an die zahlreichen Spendenskandale aus jüngerer Zeit. Derlei Vorkommnisse sind gewiss undemokratisch, aber eben nicht rechtsextrem im Sinne von antidemokratisch bzw. demokratiefeindlich.

Doch bereits die Charakterisierung des Rechtsextremismus als "Demokratiefeindlichkeit von rechts" schafft Probleme. Im Unterschied zum Konzept der Republik kann jenes der Demokratie nämlich durchaus so gefüllt werden, dass es sich in rechtsextreme Weltanschauungen integrieren lässt. Von den frühen völkischen Zirkeln im 19. Jahrhundert über die NS-Propaganda bis zur Neonazi-Rockband Landser ist die Forderung nach "deutscher", "echter" oder "wahrer Demokratie" ein wiederkehrendes Motiv. Besser wäre es folglich, von Anti-Republikanismus zu sprechen.

Wird die extreme Rechte wieder als politisches Phänomen ernst genommen, darf es bei der Analyse deshalb nicht in erster Linie darum gehen, ob ihre Angehörigen Gewalt anwenden, gegen Gesetze verstoßen oder sich undemokratisch verhalten.

Entscheidend ist, dass die extreme Rechte grundsätzlich eine politische und soziale Ordnung verwirklichen will, die auf Gewalt aufbaut, dass sie das Recht des Stärkeren propagiert und nach innen und außen einen starken Staat anstrebt. Maßgeblich ist ferner, dass die extreme Rechte die allgemeinen Menschenrechte und das Prinzip der Gleichheit vor dem Recht negiert. Entscheidend ist schließlich, dass die extreme Rechte, ausgehend von ihrer Ideologie fundamentaler Ungleichheit, nicht bloß von Fall zu Fall undemokratisch handelt, sondern prinzipiell die demokratisch verfasste Gesellschaft durch eine autoritäre ersetzen will. Diese politische Zielsetzung gilt es ernst zu nehmen.

1 Jörg Marschner, Jeder vierte Wähler hat die Partei gewechselt, in: "Sächsische Zeitung", 21.9.2004.
2 Vgl. Frank Jansen, Jeder Zehnte rechtsextrem, in: "Tagesspiegel", 23.9.2004.
3 Vgl. Marschner, a.a.O.
4 Vgl. Norberto Bobbio, Rechts und Links. Zum Sinn einer politischen Unterscheidung, in: "Blätter", 5/1994, S. 543-549.

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