ARD-Nachtgeschwätz

Ein neuer Moderator stellt sich vor: "... Herzlich willkommen zu den ›Tagesthemen‹, in denen heute die Gegensätze dominieren: - Geteilte Republik: Die Rechtschreibreform und der Länder-Streit.

... - Getrenntes Volk: Die Siedlerproteste und der Gaza-Rückzug. - Und: Gespaltene Meinung: Die Bundesgartenschau und die BlumenÂ… Wirtschaft! Dazu gehört auch die Kneipe an der Ecke. Und so war die Idee, die Besteuerung der Wirtschaftskraft auf einem Bierdeckel ermitteln zu können, vielleicht noch naheliegend. Aber natürlich ist das nicht wirklich seriös, seine Einkommensverhältnisse auf einem abgenutzten Pappuntersetzer zu erklären. Und so ist die parteiübergreifende ›Stiftung Marktwirtschaft‹, die seit einem Jahr eine Steuerreform erarbeitet, der reinen Bierdeckel-Idee auch nicht gefolgt. Aber was sie heute in Berlin vorstellte, beinhaltet zumindest eine radikale Vereinfachung des Steuersystems... Ein Steuermodell, das per se schon einmal verständlicher daherkommt als die gängige Praxis..." Per se kommt das Modell demnach auch verständlicher daher als Günter Dellings alberne Wortspielerei.

Die "Tagesthemen" (TT) traten vor einem Vierteljahrhundert, als es zum Glück noch keine kommerziellen Fernsehsender in Deutschland gab, an die Stelle der "Tagesschau"-Spätausgabe. Die war als für die Sendezeit zu dröge empfunden worden. Die neue Präsentationsform mit moderierten Nachrichten sollte gleiche Qualitätsstandards wie die "Tagesschau" einhalten, seriös informieren, noch einmal einen Höhepunkt im Fernsehabend bieten und mehr Zuschauer erreichen. Sie erfüllte diese Erwartungen in den ersten vier Jahren, 1979 bis 1983, dank fachlich kompetenter und ihre Unabhängigkeit wahrender Moderatoren wie Barbara Dickmann und Hanns-Joachim Friederichs sowie des ARD-Aktuell-Chefredakteurs Dieter Gütt. Die "Tagesthemen" von 22.30 bis 23 Uhr kamen spät, aber sie interessierten ein großes Publikum.

Das alles war einmal. Bei ARD-Aktuell kamen und gingen Chefredakteure und Moderatoren. Auf Wunsch und Weisung erzkonservativer Kreise gelangte sogar die Partei-Christdemokratin Sabine Christiansen für einige Jahre zu einer TT-Moderatorenrolle. Damit und auch dank anderer Stellenbesetzungen für die "Tagesthemen" wurde ersichtlich, daß die ARD-Oberen qualitative Maßstäbe bei Personalentscheidungen allenfalls noch nachrangig anlegten. Jüngstes Beispiel dafür ist der Beschluß, den Sportreporter Günter Delling als "Tagesthemen"-Moderator zu erproben. Dem Manne ist Respekt zu zollen: Für seine erfolgreichen Versuche, gemeinsam mit dem ehemaligen Fußballer Gunter Netzer bei allen möglichen Sportübertragungen die höchsten Gipfel der Geschwätzigkeit zu erklimmen, erhielt er anno 2000 den Adolf-Grimme-Preis. Was allerdings gegen die Jury, nicht gegen Delling spricht. Der Sportreporter arbeitet auf Basis satter Honorarverträge, die über die Sportrechte-Agentur SportA sowie die ARD-Werbetochter Sales & Services geschlossen wurden. Er sackt also als selbständiger Unternehmer Geld ein - so viel, daß der Norddeutsche Rundfunk meinte, ihn mit einem zusätzlichen Vertrag als Hauptabteilungsleiter des Programmbereichs Sport "an das Haus binden zu sollen", wie NDR-Sprecher Martin Gartzke formulierte. Ungefragt, aber sicher nicht grundlos, fügte Gartzke hinzu, Dellings Honorare und sein Hauptabteilungsleiter-Gehalt addierten sich nicht, sondern würden angemessen gegeneinander verrechnet. Bei Dellings Aktivitäten für die Deutsche Investment Trust (DIT), handle es sich um eine genehmigte Nebentätigkeit, und an all dem sei überhaupt nichts Unrechtes dran. Wie sollte das bei Jahreseinkünften von mehr als 200 000 Euro auch möglich sein.

Delling werde, so wurde angekündigt, als NDR-Sportchef zurücktreten, falls er als ARD-Moderator dauerhaft eingesetzt werde (in der dritten Juliwoche stand er zunächst vertretungsweise vor der TT-Kamera). Wenn es so kommt, dann hätte sich das kapitalismus-typische Peterprinzip erneut bestätigt: Hast Du erst einmal die Grenzen Deiner Kompetenz erreicht, dann machst Du wegen der Inkompetenz Deiner Förderer unaufhaltsam Karriere.

Am 21. Juli, dem Tag, als der Bundespräsident die Parlamentsauflösung verkündete, ging Delling mit folgenden Sätzen auf sein Publikum los: " ... Bundespräsident Horst Köhler und die von vielen erwartete Entscheidung. Das heißt, daß innerhalb der nächsten 60 Tage Neuwahlen abgehalten werden müßten - so sieht es das Grundgesetz vor. Und damit ist nach der Vertrauensfrage durch den Bundeskanzler am 1. Juli eine Sommerpause zu Ende gegangen, die so richtig keine war und die in diesem Jahr politisch auch nicht mehr wiederkommen wird. Im Gegenteil..."

Delling ist eben Sportreporter. Die Denkprozesse dieser journalistischen Spezies leiden meist unter Zeitdruck. Als TT-Moderator hatte Delling allerdings ausreichend Muße, seiner Sekretärin gründlicher durchdachte Ansagetexte zu diktieren als diesen für ihn so typischen: "... Der Fall ist klar: Die Mehrheit der Politiker bewertet die Entscheidung des Bundespräsidenten positiv und wirkt regelrecht erleichtert... Eintracht Deutschland also! Das sieht bei den entscheidenden Zahlen sicher anders aus. Wir haben zwar auch in den letzten Wochen schon jeden Donnerstag die politische Stimmung analysiert, aber jetzt wird es ernst. Zuletzt hieß es ja Union runter, Linkspartei rauf! Geht der Trend weiter?..." Wenn es mit der Union abwärts geht und bei der Linkspartei rauf, dann wird es sogar für den Späßchenmacher Delling ernst.

"... Da sag noch einer: Zahlen können nicht spannend sein - und es bleibt spannend..." Nun ja, bisher konnte ich es gerade noch aushalten. Aber Delling stellte mich doch auf harte Proben, zum Beispiel: "... Am Wochenende ist die Tour zu Ende, und wie Claudia Kleinert gleich vermeldet, ist auch ein Ende der Tortour beim Wetter in Norddeutschland zu erwarten..." Und wer macht der Tortur beim Zuschauer ein Ende?

Die ARD hat leider noch viel mit uns vor. Zum Beispiel sollen wir bald täglich eine Viertelstunde früher als gewohnt, nämlich schon um 22.15 Uhr, in den Genuß solcher exquisit moderierten "Tagesthemen" kommen. Zum Ausgleich will uns die ARD ihre Politmagazine wie "Monitor" und "Kontraste" sowie die Ratgeber-Magazine nicht mehr länger als 30 statt der bisherigen 45 Minuten zumuten.

in Ossietzky 16/05