Vom Mars zur Erde.

Ein Plädoyer für die Aktualisierung des Utopischen

Ich bin bekennende Science-Fiction-Leserin. In der DDR hieß das noch "utopische Literatur", sie versuchte oft eine lebenswerte kommunistische Zukunft auszumalen ...

und wurde spätestens durch das Ende der realsozialistischen Praxis tief enttäuscht. Die neue Gegenwart jedoch zeigt nicht erst seit den Hartz IV-Zumutungen, daß ihre Utopien nur negative sein können. Anti-Utopien bzw. Dystopien beherrschen die Bücherregale und Filmangebote. Die Realität folgt diesen Dystopien mittlerweile im Abstand von nur wenigen Jahren. Robert Hewitt Wolfe, der Produzent der Serie "Andromeda", sagte in einem Interview, daß sich diese Serie stark von "Star Trek" unterscheidet: "Es geht nicht darum, neue Zivilisationen zu entdecken, oder neue Lebensformen zu suchen. Es geht vielmehr darum, eine zerstörte Welt zu beschützen und diese wieder Stück für Stück aufzubauen." (Wolfe 2000: 7) Nichts anderes ist auch auf der Erde zu tun. Gibt es demgegenüber überhaupt noch Entwürfe einer nicht nur gefürchteten Zukunft, sondern Zukunftsvorstellungen, die mit Wünschen und dem Begehren nach einem besseren Leben zu tun haben? "Angesagt ist der zweite Abschied von der Utopie, nicht deren Wiederbelebung", fordert Robert Kurz in einer aktuellen Debatte im FREITAG (Kurz 2004: 5). Darf es keine "Freiheitsutopien" (Schwendter 1994: 15) mehr geben? Dürfen wir uns nichts mehr wünschen, nichts mehr begehren?
Natürlich brauchen wir eine kristallklare Analyse des Verhängnisses der kapitalistischen Warenproduktion und anderer Herrschaftsverhältnisse. Aber "ohne Überlegungen, wie es denn anders als bisher sein sollte, entstehen keine Handlungsmotivationen" (Behrend 1997: 23). Ohne die "Sehnsucht nach dem großen Meer" (Saint-Exupéry) verfangen wir uns in unseren sozialen und politischen Abwehrkämpfen gegen den Klassenkampf von oben immer tiefer in den von uns selbst aufgerichteten Barrikaden und Dämmen (vgl. Schlemm 2004a). Aus lauter Angst vor einer Infiltration der Anti-Hartz-Demos durch Rechte und andere "obskure Gestalten" wird heute mancherorts jegliche nicht vom Organisationskomitee in Gang gesetzte Initiative als verdächtig behandelt (Redebeiträge müssen vorangemeldet sein, Flugblätter werden vorab kontrolliert etc.). Gerade die Alternativen, die auf diesen Demos beschworen werden ("Unterschreibt diese Unterschriftenliste..."), locken die Menschen nicht aufs Meer, sondern sie stabilisieren den Charakter der Passivität und der bloßen Bittstell- und Frustmentalität, welcher es - wenn diese scheinbaren Alternativen nicht ergänzt werden durch eine eigenständige, den Verhältnissen entgegenwirkende aktive Praxis - erschwert, daß wir uns auf neue Wege begeben. Dem kann man tatsächlich keine neue Utopie entgegenstellen. Die naheliegende Passivität und Forderungsmentalität verführt dazu, abzuwarten, bis irgend jemand eine perfekte Utopie ausmalt: "Mach doch mal und bitte, denke dabei daran, daß wir alle frei sein wollen, und vergiß nicht, daß wir auch morgens frische Brötchen auf den Tisch wollen. Dann kannst Du für Deine Idee werben und ... vielleicht machen wir ja dann auch mit." Genau hier hat Robert Kurz absolut recht. Solch eine Utopie würde sich selbst konterkarieren.

Individuelle Selbstentfaltung als gesellschaftliches Konstitutionsprinzip
Die Utopie der Nicht-Utopie steht auf der Tagesordnung. Sie soll nicht utopisch in dem Sinne sein, daß ein vorgefertigtes Modell zu entwickeln und umzusetzen wäre. Sie müßte gleichzeitig die Verwirklichung aller Freiheitsutopien sein, indem sie von der individuellen Selbstentfaltung als gesellschaftlichem Konstitutionsprinzip ausgeht (vgl. Schlemm 2004b). Sie kann nicht außerhalb der Individuen existieren, deren individuelle Selbstentfaltung ihr Ausgangspunkt ist. Aus der heutigen Realität heraus, in welcher jeder Mensch gezwungen ist, als Einzelner seine Interessen gegen andere durchzusetzen - ob als Arbeitsplatzkonkurrent, als Verteidiger seiner Interessen gegen den Klassenkampf von oben oder als indirekter Teilnehmer am weltweiten Kampf um Ressourcen -, scheint eine Situation, in der ein besonderer Mensch gleichzeitig als gesellschaftlicher Mensch im Eigen- und im Allgemeininteresse gleichermaßen wirkt, durchaus utopisch.
Eine neue, das Allgemeine und das Besondere vermittelnde Kategorie ist die der Selbstentfaltung. Selbstentfaltung ist hier in folgendem Sinn zu verstehen: "Die gesellschaftliche Dimension der Selbstentfaltung betrifft die Abhängigkeit der eigenen Entfaltung von der Entfaltung der Anderen. Ich kann mich nur entfalten, wenn die Anderen es auch tun. Die Anderen - potentiell alle Anderen - sind meine Entfaltungsbedingung, wie ich umgekehrt Entfaltungsbedingung für die Anderen bin. Es entsteht eine positive Rückkopplung: Mein Bestreben richtet sich darauf, daß die Anderen sich entfalten können, damit ich mich entfalten kann. Würde ich mich nur darauf konzentrieren, was ich zu tun wünsche, und die Anderen ignorieren oder gar ausgrenzen, dann schadete ich mir selbst." (Merten 2004) Wir werden noch sehen, daß es auch heute schon Bereiche des Lebens gibt, in denen Selbstentfaltung in diesem Sinne stattfinden kann. Als gesellschaftliches Konstitutionsprinzip kennen wir sie jedoch noch nicht. Aber warum sollten wir einen Zustand, den wir uns wünschen, nicht auch im positiven Sinne mit dem Wort "Utopie" belegen dürfen? Festzuhalten bleibt auf jeden Fall, daß solch eine Utopie sich von den meisten anderen Utopien dadurch unterscheiden muß, daß sie keine lebensfernen Modelle erzeugt, sondern aus dem konkreten gesellschaftlichen Wirken der einzelnen Menschen erwächst. Sie ist insofern eine "Utopie jenseits der Utopien" (Spehr 2003: 55).

Der Mars auf Erden
Daß uns nichts zu wünschen bliebe, wird wohl schwerlich behauptet werden können. Schon ein einigermaßen menschliches Überleben angesichts der immer häufigeren sozialen und ökologischen Katastrophen ist für viele Menschen beinah der größte ihrer Wünsche. Es wäre verhängnisvoll, wenn gerade das Elend dieser Menschen als Argument herhalten müßte, keine grundlegenden Veränderungen mehr zu erhoffen. Die kapitalistische Welt hat uns an eine Fülle von Möglichkeiten gewöhnt, uns aber bisher die einzig wichtige Möglichkeit verweigert: aus ihr auszusteigen. Auch für die Alternative Ökonomie gibt es bisher "Freiheit nur im Rahmen der Marktzwänge" (Voß 2004: 10). Illusionen bezüglich der ökologischen oder sozialen Reformierbarkeit des Kapitalismus werden täglich grausam enttäuscht und führen zu Fassungslosigkeit, Wut und zu einer fast verzweifelten Suche nach "Schuldigen". Gerade deshalb ist es notwendig, sich nicht mehr mit "realistischen" Forderungen zufrieden zu geben, die lediglich das schrumpfende Möglichkeitsfeld innerhalb des kapitalistischen Systems ausloten, sondern eine fundamental andere Zukunft vorzubereiten.
Wenigstens gedanklich versucht uns Kim Stanley Robinson in seiner Mars-Trilogie (Robinson 1997-1999) in eine solche alternative Zukunft zu entführen. Die erste Siedlergeneration auf dem Mars kann erst einmal in Ruhe - ohne Störung durch das auf der Erde zurück gelassene alte System - versuchen, etwas Neues zu etablieren. Aber schon bald offenbaren sich erste Widersprüche zwischen den Siedlern, und auch die Auswirkungen des katastrophischen Zusammenbruchs der Wirtschaft auf der Erde lassen sich nicht fernhalten. Alle Hoffnungen auf einen Neubeginn werden zerschmettert, als transnationale Konzerne und ihre Polizeieinheiten auch auf dem Mars die Macht übernehmen. Doch Robinson zeigt uns auch ein verflochtenes Netz von Widerstandszentren - er schrieb dies, als die heute bereits unübersehbare neue sozialpolitische Bewegung, die mit den Sozialforen verbunden ist, gerade mal in ihren frühesten Keimen entstand. Die Fiktion auf dem Mars nähert sich immer mehr der Situation auf der Erde, und irdische Geschehnisse scheinen im SF-Roman sehr realistisch beschrieben zu sein. Die "Programmpunkte für eine Marsregierung" (Robinson 1997b: 463f.) könnten für das nächste Weltsozialforum geschrieben sein! Auch eine nichtkapitalistische Ökonomie wird von Robinson skizziert: "Wir haben den kollektiven Besitz, können gemeinsam Entscheidungen treffen und konstruktiv handeln. Wir arbeiten auf einen körperschaftlichen Zustand hin, ähnlich dem, den die Bürger in Bologna gemacht haben. Das ist eine Art von demokratisch kommunistischer Insel, die tüchtiger ist als der sie umgebende Kapitalismus und einen neuen Lebensstil schafft" (ebd.: 128).
Diese Ökonomie und der neue Lebensstil werden aber nicht wieder als ein Modell für alle vorgeschrieben, sondern sie ergeben sich aus der wechselseitigen Ergänzung vieler verschiedener Lebensformen, die jeweils nur der Bedingung genügen müssen, andere nicht zu unterdrücken. Allerdings ist auch diese neue Welt nicht problemlos; Robinson beschreibt im letzten Roman der Trilogie ausführlich, welche Probleme auf die Menschen zukommen, wenn sie sich entschließen, die alten Mächte abzuwerfen und lernen, ihr Leben selbst zu organisieren. Besonders der Widerspruch zwischen notwendiger globaler (ökologischer) Kontrolle und der "Freiheit der Zelte" (Robinson 1999: 197) macht ihnen zu schaffen. Robinsons Utopie verweigert sich einem endgültigen Modell. Der Autor verweist auf die Notwendigkeit, sich individuell an der Problemlösung zu beteiligen. Sein Protagonist stellt fest, daß er bisher innerhalb eines Kollektivs eine feste Aufgabe hatte. Jetzt muß er darüber nachdenken, wie er als Individuum sein Leben führen will. Er lernt fliegen, beginnt ein Stück Boden zu bepflanzen und wird Langstreckenläufer ...

Das Konkret-Mögliche im Wirklichen
Durch den Trick des Übergangs auf den Mars ermöglichte Robinson uns einen Schritt über den real existierenden Weltkapitalismus hinaus. Auf dem anderen Planeten entsteht die Behauptung "There is no alternative" gar nicht erst. Robinson entgeht glücklicherweise der Versuchung, den Mars lediglich zu einer Projektionsfläche für ausgedachte Problemlösungen zu machen, wie es im Roman "Weißer Mars" von Aldiss und Penrose geschieht. Durch die Isolation des Mars von der Erde beginnt bei ihnen das, was Christoph Spehr in einem Vortrag eine "schlechte Utopie" nannte (Spehr 2002: 129). Die Autoren haben eine "Spielwiese" für ihre utopischen Gedanken geschaffen, auf der sie sich nicht mehr mit der Frage des Übergangs von der jetzigen Situation in diese gewünschten Zustände beschäftigen müssen. "Wir haben großes Glück, daß wir das Pech gehabt haben, auf dem Mars zu stranden!" (Aldiss/Penrose 1999: 155)
Der Bruch zwischen dem, was im Kapitalismus - auch an durchaus notwendig zu erkämpfenden Lebenschancen - noch möglich ist und dem, was nur außerhalb einer kapitalistischen Welt und im globalen Maßstab als Alternative möglich sein kann, wird uns in beiden Marsutopien nicht abgenommen. Was spricht für die Möglichkeit eines solchen Bruchs? Simone Weil betonte die Bedeutung unseres Denkens und unserer Wünsche. "Der einzige Umstand, daß wir existieren, daß wir etwas anderes denken und wollen, als das, was existiert, ist für uns ein Grund zu hoffen" (Weil 1975: 136). Marx verwies darauf, daß sich Menschen erst dann etwas zum Ziel setzen, wenn die historischen Möglichkeiten dazu im Entstehen begriffen sind (Marx 1961: 9) - zu denen wiederum ihr subjektives Wollen durchaus gehört. "Der solide Traum schließt sich tätig an das an, was geschichtlich fällig und in mehr oder minder verhindertem Gang ist." (Bloch 1985: 727)
Utopien werden nicht erst dann zu konkreten Utopien, wenn sie unmittelbare Faktizität erlangen. Im Gegenteil - das Unmittelbare, die faktische Realität erscheint immer starr und festgefroren. Die Verbindung von Konkretem und Utopischem meint nicht das Herunterziehen des Utopischen ins Reich der starren Fakten, sondern das Aufweichen des Faktischen, das Flüssigmachen ihrer Bedingungen, das Aufzeigen der noch nicht realisierten Möglichkeiten im Wirklichen. Konkrete Utopien beziehen sich auf die Tendenzen und Latenzen in der geschichtlichen Bewegung selbst. "Prozeßhaft-konkrete Utopie ist in den beiden Grundelementen der marxistisch erkannten Wirklichkeit: in ihrer Tendenz, als der Spannung des verhindert Fälligen, in ihrer Latenz, als dem Korrelat der noch nicht verwirklichten objektiv-realen Möglichkeiten in der Welt." (Ebd.: 727) In diesem Sinne ist auch Realismus selbst eine Einheit von Hoffnung und Prozeßkenntnis (ebd.). Die besseren politischen Utopien sind in dieser Hinsicht realistischer als die unsinnige Hoffnung, das Alte - auch die alte Form des Sozialstaats - könnte in irgendeiner Weise gerettet werden.

Das Umbauen unseres Schiffs
Wir können nicht auf den Mars fliehen, um dort, quasi "an Dock", unsere Gesellschaft neu zu bauen. Es geht uns so, wie es Otto Neurath für eine andere Situation beschrieb: "Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können." (Neurath 1932: 206) Wir haben dabei zu entscheiden, wohin die Reise mit dem neuen Schiff gehen soll, und wir müssen uns nach den Mitteln richten, die wir aufgrund der gegebenen und durch uns veränderbaren Bedingungen erlangen können. Manche Schiffstypen können bestimmte Ziele grundsätzlich nicht erreichen. Freiheitliche Selbstbestimmung wird nicht über bürokratische Planung erreicht. Anders herum betrachtet, kann auch eine geeignete Zielstellung der Konstruktion des Schiffes Flügel oder raumflugtechnische Antriebe verleihen.
Die oben genannte Orientierung auf individuelle Selbstentfaltung als gesellschaftliches Konstitutionsprinzip betrifft Ziele und Mittel gleichermaßen. Deshalb stehen menschliche Bedürfnisse und Potentiale auch im Mittelpunkt. Negativ gesprochen bedeutet dies, daß es keine neue Gesellschaft geben wird, wenn die Menschen dies nicht selbst wollen, entscheiden und realisieren. Niemand wird "für sie" entscheiden oder handeln können. Positiv ist hier anzuknüpfen an die allerorts immer stärker artikulierten Bedürfnisse der Menschen nach Selbstbestimmung und kollektiver Selbstorganisierung, sei es in der Bewegung der Zapatisten, den "Piqueteros" in Argentinien, bei den 30.000 Arbeiterinnen und Arbeitern, die in Brasilien in selbstverwalteten Betrieben arbeiten, oder sei es bei den sog. "Horizontals", die in den Sozialforen der Welt die Orientierung auf Selbstorganisation auch gegen vertikalisierende Hierarchiebildungsversuche der "alten Linken" vertreten (vgl. De Angelis 2004).
Es zeigt sich, daß dezentralisierte Selbstorganisierung kein unkoordiniertes Chaos bedeuten muß; sie verlangt aber stärkere Bemühungen, kollektiv zu jeweils geeigneten Organisierungsformen zu finden. Bemerkenswert ist, daß auch nach der Übernahme noch fordistisch-tayloristisch organisierter Unternehmen durch die Arbeiterinnen und Arbeiter in Argentinien meistens ein Abbau der innerbetrieblichen Hierarchie und die Entwicklung eines Systems der allgemeinen Mit- und Selbstbestimmung erfolgte. "Hier zeigt sich in der Praxis, daß die materielle Produktion der Gesellschaft anders organisiert werden kann." (Fernandez 2004: 7) Mit dieser selbstbestimmten Änderung der Umstände des Arbeitens verändern sich auch die Menschen selbst wieder. Die Kontrolle über die Mittel der eigenen Subsistenz stärkt das Selbstbewußtsein (ebd.). Die Erfahrungen der daraus erwachsenden Bereicherung führen auch zu einer Neubesinnung auf den Zweck der Produktion. Die neuen Betreiberinnen und Betreiber ihrer Fabrik bemühen sich, neue Verteilungsstrukturen zu schaffen, um den kapitalistischen marktförmigen Beziehungen zu entkommen. Vielleicht sind es auch solche neuen Tendenzen, die Frithjof Bergmann dazu veranlassen zu vermuten, daß wir hochentwickelten Industrieländer eines Tages von der sog. "Dritten Welt" Entwicklungshilfe zu erwarten haben werden (vgl. Zukunftswerkstatt 2004).

Das Morgen im Heute
In unseren eigenen Ländern erleben wir eine Neuorganisierung im Produktionsbereich, die eher auf dezentraler Vernetzung als auf zentralistischen Hierarchien beruht, von der anderen Seite her. Modernste Technologien erfordern auch im profitorientierten kapitalistischen Interesse eine Umstellung auf Gruppenproduktionsprinzipien, in denen Teilefamilien gebildet werden, Komplettbearbeitung vorherrscht, Gruppenarbeit ausgeführt wird und autonome Fertigungsinseln errichtet werden. "Kundenindividuelle Massenproduktion" wird zum Stichwort (siehe Schlemm 1999).
Dies ist überhaupt nicht mehr utopisch. Die nächsten Schritte liegen auf der Hand. Es ist grundsätzlich möglich, mit einer Maschine verschiedene komplexe Gegenstände herzustellen. Wie sich vor noch nicht allzu langer Zeit die Leistung aus riesigen Rechenzentrengebäuden in einen schreibtischfähigen Personal Computer verkroch - so kann auch die Fabrikationsanlage für viele Dinge verkleinert und bei massenhaftem Einsatz entsprechend verbilligt werden. Der "Personal Fabricator" (Drösser 2002) rückt in den Bereich des bald Erwartbaren. Star-Trek-Fans werden sich nicht zu Unrecht an den "Replikator" erinnert fühlen. Daß das aufklappbare Handtelefon von Captain Kirk aus den 1960er Jahren heute in jedem Schulranzen klingelt, hat zwar unsere Kommunikationswelt ganz gewaltig verändert - der Fabrikator und auch schon seine Vorformen sind jedoch Elemente, die ganz entscheidende Änderungen der Grundkonstruktion unseres gesellschaftlichen Schiffes herausfordern. Daß all diese Technologien kaum noch menschliche Arbeit benötigen, ist nur in einem Gesellschaftssystem ein Fluch, in dem die Existenzberechtigung der Menschen an ihre profitable Verwertbarkeit als Lohnarbeiter geknüpft ist. Stellen wir uns vor, die veränderten Erwartungen emanzipierter Menschen - wie der Betriebsbesetzer in Argentinien - treffen auf diese neuen technologischen Möglichkeiten! Es geht darum, die eigenen Bedürfnisse nicht mehr über kapitalistische Warenproduktion und deren Märkte zu erfüllen, sondern statt dessen und zuerst einmal daneben andere Möglichkeiten der Herstellung wichtiger Güter auf hochproduktive Weise zu schaffen. Frithjof Bergmann spricht in seinem Konzept "Neue Arbeit. Neue Kultur" (Bergmann 2004) von einer High-Tech-Selbstversorgung, die sich von den bisherigen Konzepten der Alternativen Ökonomie dadurch unterscheidet, daß sie der kapitalistischen Warenproduktion hochproduktive Technologien und Praxen entgegenstellt und in bezug auf die Arbeitsproduktivität nicht in frühere Phasen der Menschheitsgeschichte zurückfällt.
Nicht unerwähnt soll jedoch sein, daß uns keine Technik, wie weit sie auch fortgeschritten sei, die politischen, sozialen und ökonomischen Kämpfe darum abnehmen kann, wer über ihre Entwicklung, ihre Entwicklungsziele und die Art und Weise ihrer Entwicklung und ihres Einsatzes bestimmen kann und zu wessen Nutzen dies geschieht. Bloße Technikeuphorie wäre fehl am Platz, aber die Vorstellung neuartiger materiell-technisch-organisatorischer Produktionsmethoden kann die Kämpfe außerordentlich beflügeln, weil sie uns deutlicher vor Augen führt, worum es sich zu kämpfen lohnt.

Vermittlungsformen der Freiheit
Bisher konnte man sich Alternativen zur realkapitalistischen Form der kapitalistischen gesellschaftlichen Vermittlung oft nur als neuartige zentralistische Vermittlungen (kybernetische Planwirtschaft etc.) vorstellen, oder es schien notwendig, zu unmittelbaren und direkten gemeinschaftlichen Produktions- und Lebensformen zurückzukehren. Die Frage war: "Ist eine Organisation der Produktion denkbar, [...] die es erlaubt, ohne die vernichtende Unterdrückung von Geist und Körper auszukommen?" (Weil 1975: 170). Bisher hatten sich Geld, Kapital oder zentralistische Pläne als Regelungsinstanzen zwischen die leibhaftigen, tätigen und bedürftigen Menschen geschoben. Die Negierung der abstrakten Vermittlung schien eine Rückkehr zu unmittelbaren Kontakten zwischen den Menschen in gemeinschaftlichen Projekten nahezulegen. Auch die ökologischen Probleme der fordistischen Industriegesellschaften ließen ein Zurückkehren zu unvermittelteren Formen als günstig erscheinen. Je unmittelbarer, desto besser! - hieß die Devise in vielen alternativen Bewegungen. Letztlich jedoch ist jede Unmittelbarkeit vorgeformt von den vorhandenen gesellschaftlichen Vermittlungsverhältnissen. Unmittelbarkeit ist kein Schutz vor gesellschaftlicher Vermittlung, sondern wird in ihren konkreten gelebten Formen sogar in besonderem Maße von ihr bestimmt. Wo gäbe es heute noch ein Refugium, in dem das Unmittelbar-Menschliche sich vor der unmenschlichen Vermittlungsform des Kapitalismus schützen könnte? Nein, die Alternative zur gesellschaftlichen Vermitteltheit ist nicht die unvermittelte Isoliertheit (von Einzelnen oder kleinen Gruppen), sondern die Alternative kann nur eine andere Form gesellschaftlicher Vermittlung sein. Die totalisierende Vermittlung des Kapitalismus ist die Selbst-Vermittlung des Kapitalverwertungszusammenhangs. Aus ihr ergibt sich notwendigerweise die gegenseitige Abhängigkeit aller einzelnen Momente und Bestandteile des gesellschaftlichen Lebens im Kapitalismus, auch in ihren unmittelbaren Formen. Gesucht ist nun eine Vermittlung, deren Selbst-Zusammenhang sich nicht als das Andere ihrer Momente verselbständigt, sondern bei der die Vermittlung sich nicht von dem loslöst, was sich jeweils inhaltlich konkret bestimmt in ihr vermittelt. Gemeint ist eine Art konkreter Vermittlung.1
Gibt es das überhaupt? Unsere historischen und gegenwärtigen Erfahrungen lassen uns eine komplexe Vermitteltheit fast nur in hierarchischen Strukturen vorstellen. Alle Vorschläge, auf hierarchische Strukturen in Produktion und politischer Organisierung zu verzichten, widersprechen anscheinend den Notwendigkeiten komplexer, arbeitsteiliger Tätigkeit. Komplexe Prozesse ohne hierarchische Verantwortungsverteilung sind offenbar so utopisch, daß auch utopische Romane bzw. Science Fiction konsequent an sogar militärischer Hierarchie im Weltall festhalten - von einzelnen Ausnahmen, wie "Andymon" von den Steinmüllers, abgesehen. Ist es nicht traumtänzerisch zu erwarten, daß Hunderte oder gar Tausende Menschen, die gemeinsam an der Entwicklung eines komplizierten Produkts arbeiten, sich ohne zentrale Verwaltungsinstanz selbstbestimmt zusammentun und von selbst ihre Arbeit effektiv koordinieren können? Nein, es ist teilweise sogar schon Realität.
Wichtige, hochkomplexe und hervorragend funktionierende Softwareprodukte wie LINUX und andere Freie Software werden bereits nach Prinzipien der kollektiven Selbstorganisierung hergestellt, ausgehend von individuellen Bedürfnissen, die Bedürfnisse nach der Nutzung wie auch der Herstellung beinhalten und auf neuartige Weise verbinden. In dem Buch "Die Kathedrale und der Basar" beschreibt Eric S. Raymond diesen Umschwung. Während man sich früher nur vorstellen konnte, komplizierte Softwareproduktion könne nur sorgfältig zentral geplant wie ein Kathedralenbau vor sich gehen, zeigte die Praxis, daß auch auf Grundlage der Selbstorganisierung wie auf einem Basar komplexe und qualitativ hochwertige Produkte effektiv hergestellt werden können. Das Entscheidende ist an dieser Stelle nicht, ob LINUX und Freie Software sich gegenüber den kommerziellen Softwareprodukten langfristig durchsetzen können oder nicht, sondern der Nachweis, wie Individuen aus ihren produktiven und konsumtiven Bedürfnissen heraus selbst in der Lage sind, die notwendigen Kooperationsstrukturen zu entwickeln, ohne eine sich abhebende Sphäre der bürokratischen Pläne oder Geld(kapital)vermittlung zu benötigen. Technisch unterstützt das Internet die Vermittlung, neue soziale Vermittlungsformen werden ständig erfunden und erprobt (z.B. das Maintainerprinzip; vgl. Meretz 2000: 22f.). Es zeigen sich erstmalig konkrete Praxen, in denen die Menschen "ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben" (Marx 1988: 92).
Freie Software ist nun aber ein Produkt, das einige Besonderheiten aufweist, wie die fast unendliche Kopierbarkeit ohne Ressourcenverbrauch. Immer wieder wird in einem Projekt, das die Übertragbarkeit der Prinzipien der freien Softwareproduktion auf andere Produkte und die dadurch ermöglichte gesellschaftliche Umwälzung untersucht, Oekonux (vgl. Merten 2000), die Frage gestellt, wie auf diese Weise morgens frische Brötchen auf den Tisch kommen können (Bärmann 2004).

Umrisse einer konkreten Utopie
Eine neue Gesellschaft, deren Vorstellung als "konkrete Utopie" - solange sie noch nicht verwirklicht ist - sich nicht als äußere den einzelnen Menschen überstülpt, muß aus deren individuellen und gesellschaftlich vermittelten Selbstentfaltungsinteressen erwachsen. Für die individuelle und gesellschaftlich notwendige Reproduktion auf einer solchen Basis leitet sich daraus die Forderung ab, deren Möglichkeiten abzuschätzen und weiterzuentwickeln. Dies betrifft Subjektivitätsfaktoren, soziale und kulturelle Praxen ebenso wie technologisch-organisatorische Voraussetzungen. Haben wir erst eine Vorstellung davon, was eine selbstentfaltungsbestimmte gesellschaftliche Reproduktion erfordert, so können wir ihre Ansätze in der Wirklichkeit bereits erkennen. Die Utopie einer solchen Gesellschaft bleibt kein freischwebender Wunsch, sondern verankert sich in den konkreten Möglichkeiten, deren Verwirklichung nicht automatisch und selbstverständlich und schon gar nicht von den noch herrschenden gesellschaftlichen Mächten für uns geschehen wird. Alles Wollen und Begehren wiederum braucht reale Eingriffsmöglichkeiten.
Die Vermittlungen über das Internet in der freien Softwareproduktion im Bereich der materiell-technisch-organisatorischen Voraussetzungen wurden schon erwähnt. Zusammengebracht mit neuen materiellen Produktionsmitteln (Fabrikatoren), können sich Potenzen der Lösung des Brötchenproblems, des Waschmaschinenproblems usw. ergeben. Frithjof Bergmann meint, daß in Gruppen von 300 bis 800 Menschen ca. 80 Prozent der benötigten Produkte in hochtechnologiebasierten kooperativen Nachbarschaftswerkstätten erzeugt werden können (Bergmann 2004: 117, 258). Seinen internationalen Erfahrungen nach ist dabei pro produzierender und versorgter Person nur ca. ein Tausendstel der Kosten zu investieren, mit denen jetzt ein sicherer und gut bezahlter Lohnarbeitsplatz finanziert werden müßte (ebd.: 247).
Weniger diskutiert wurde hier die Praxis der Entwicklung neuer sozialer Vermittlungsformen, die sich weltweit in den neuen sozialen und ökologischen Bewegungen entwickeln (vgl. Projektgruppe HierarchNIE!) und die ökologischen Folgerungen einer auf diese Weise an die Selbstentfaltung und Selbstorganisierung gebundenen Produktions- und Lebensweise. Aufgrund der Orientierung an konkreten individuellen Selbstentfaltungsbedürfnissen, die sich dann entsprechend ihrer Reichweite jeweils auch selbstbestimmte Organisierungsformen geben, ist es ausgeschlossen, daß eine Gruppe anderen ihr Konzept "überstülpt" oder daß es ein Modell für alle geben müßte. Die Durchsetzungskraft dieser Orientierung muß abgesichert werden; die Überlegungen zu "freien Kooperationen" von Christoph Spehr (Spehr 2003) können dazu erste Anregungen geben, die mit entsprechenden gesamtgesellschaftlichen Überlegungen ergänzt werden müssen.
Insgesamt zeigt sich eine innere Verbindung all dieser Ansätze. Es geht um eine Vermittlung des gesellschaftlichen Lebens ohne abstrakte Wertvergesellschaftung, Klassen- und andere Herrschaftsformen, die jedoch auch nicht in ihr abstraktes Gegenteil, die bloße Unmittelbarkeit, verfällt. Während in Kultur und Wissenschaft derartige Strukturen bereits wenigstens teilweise vorliegen, bedürfen sie in der Arbeitswelt noch der weiteren Entwicklung, Erprobung und Realisierung. Das bezieht sich auch auf die technologischen Vermittlungs- und Produktionstechnologien (Internet, Fabrikatoren). Diese sind notwendigerweise verbunden mit neuen sozialen Strukturen, die sich einerseits in den kapitalistischen Fabrikationsanlagen teilweise schon ausprägen (neue Managementformen, hier aber im Sinne einer Profiterhöhung, nicht der Selbstplanung der Produzenten und Konsumenten), andererseits in Bereichen der bisherigen alternativen Ökonomiebewegung und anderen politischen, sozialen und ökologischen Bewegungen entwickelt werden. All diese Ansätze sind noch längst nicht wirkungsmächtig genug. Lebensfähig sind ihre Praxen nur in kleinen Nischen und oft auch nur kurzfristig. Dies hängt durchaus damit zusammen, daß ihre Kombination noch nicht oft genug gelingt. Außerdem sind all ihre Komponenten nicht unbeeinflußt vom derzeit herrschenden kapitalistischen Weltsystem.

Die Kraft der Kritik aus der konkreten Utopie
Eine Kritik des Vorhandenen ergibt sich schon aus der Unmenschlichkeit von Ausbeutung, der mit der Profitorientierung der Wirtschaft verbundenen Verelendung von Massen und ihrer ökologisch desaströsen Zerstörungskraft. Diese Kritik setzt voraus, daß es Freiheit von Ausbeutung, Profitorientierung und ökologischer Zerstörung geben kann. Für Menschen, die in aller Welt der kapitalistischen Zivilisation noch gar nichts außer der Zerstörung ihrer mehr oder weniger gut funktionierenden Subsistenzlebensweise und der damit verbundenen Herrschafts- oder Herrschaftslosigkeitsstrukturen zu verdanken haben, könnte die Alternative einfach in einer Rückkehr zu ihrer früheren Lebensweise bestehen, die vielleicht andere und bessere Entwicklungsoptionen bereithält. Für Menschen in den kapitalistischen Kernländern steht diese Alternative nicht zur Verfügung. Der real existiert habende Sozialismus war auch nicht die gesuchte langfristige Alternative. Hier ist es also durchaus verständlich, daß die Kritik am Vorhandenen sofort auch fragt: "Aber wie soll es denn anders gehen?" Es ist nicht erst seit Hartz IV offensichtlich, daß viele Menschen durchaus viel Kritik am kapitalistischen System haben. Aber während in der DDR die Alternative gleich vor der Haustür lag und über fast jeden Fernseher allabendlich vorgeführt wurde, scheinen heutzutage die Ketten, mit denen wir an dieses System gefesselt sind, die einzigen Seile zu sein, die uns vornübergebeugt über den Abgrund des Ungewissen, des Befürchteten halten. Wenn wir dagegen einsehen, daß wir gar nicht um einen langweiligen Job betteln müßten, sondern sowieso nur höchstens zwei Tage in der Woche gebraucht würden, um uns an der Produktion der nötigen Güter zu beteiligen, wenn wir wüßten, daß wir eigentlich täglich so lange ausschlafen könnten, wie wir wollen, ohne daß jemand Mangel leiden muß; wenn wir dann auch noch erführen, daß es viel mehr Spaß machen würde, selbstbestimmt in kooperativer Vermittlung zu wirken und zu leben - wer könnte uns dann noch halten?
Theoretisch und praktisch heißt die Mauer, die wir diesmal durchbrechen müssen: "kapitalbestimmte wertförmige Vergesellschaftung" mit all ihren Momenten. Die Alternative ist weder ein Zurück ins Mittelalter noch ein widerspruchsfreies Paradies. Sie ergibt sich aus der Negierung der Bestimmungen der kapitalistischen Lebens- und Produktionsweise. Eine Negierung ist nie nur ein "Nein" - sie enthält konkrete Bestimmungen: "nicht dies, nicht das" - und ist damit selbst nicht Nichts, sondern Etwas. Die positiven Bestimmungen der Negation lassen sich nicht mit einem Utopieverbot wegdekretieren. Die historisch konkrete, bestimmte Negation kann nur mehr oder weniger durchdacht und letztlich praktisch durchgesetzt werden.
Künstlerische Utopien, als Bilder einer gewünschten oder unerwünschten Zukunft, deren Vorstellung etwas bewirkt beim Rezipienten, können mehr oder weniger gut sein. Der bleiche "weiße Mars" fällt beispielsweise diesbezüglich gegenüber den farbigen Marsbildern von Robinson qualitativ ab. Fabrikatoren werden in den ausgezeichneten Büchern "Futurematic" (Gibson 2002) und "Kirinja" (McDonald 2000) auf nanotechnologischer Grundlage verwendet. Auf dem Weg "von der Utopie zur Wissenschaft" hatten die Theoretiker der Arbeiterbewegung dem "bloß Utopischen" einen negativen Stempel aufgedrückt. Ihre wissenschaftliche Kritik des Gegenwärtigen, der Kapitalherrschaft, bezog jedoch wesentliche Impulse aus der Vorstellung des ganz Anderen, auf Grundlage des historisch möglich Gewordenen. Was möglich geworden ist, kann wissenschaftlich analysiert werden. Was damit geschieht, d.h. wie sich konkrete Menschen entscheiden, damit umzugehen, jedoch nicht mehr.2 Für die Menschen sind auch weniger jene Utopien handlungsleitend, die in dicken Büchern aufgeschrieben worden sind, sondern fühlbare, erlebbare Ausblicke, Horizontüberschreitungen, die aus dem "Dunkel des gelebten Augenblicks" (Bloch 1985: 353) z.B. in Tagträumen aufblitzen. Sie kommen häufig in künstlerischen Werken und sogar in der Alltagskultur zum Vor-Schein. "Das Leben selbst ist immer schon ein Entwurf zu etwas hin, das utopisch ist. Grade Subkulturen zeichnen sich darin aus, mit ihrer Erfindungsgabe und Experimentierfreudigkeit Zukunftsträume in greifbare Nähe zu rücken. Das gilt z.B. für das Leben in Bauwägen genauso wie für selbstorganisierte Festivals." (Cropp 2000) Wir sollten diese Formen von Utopie nicht vergessen, denn nur auf sie können wir setzen auf dem Wege ihrer Verwirklichung. Durch sie bleibt das Utopische auch erst einmal auf der Erde, denn es geht den allermeisten Menschen um ein besseres Leben hier und jetzt und nicht um eine technizistische Marsbesiedlungsromantik. Dieses Streben nach einem besseren Leben erfordert aber auch die Überschreitung des Horizonts bloßer sozialpolitischer Abwehrkämpfe. Angesichts der Versuchung, sich beim Dammbau gegen die Zumutungen des Sozialraubs selbst einzumauern, sollten wir immer wieder die Horizonte des befreiten Lebens suchen, und gute konkrete Utopien sind nicht die schlechtesten Wegweiser und Orientierungszeichen auf dem Weg dorthin.

Anmerkungen
1 Zur Unterscheidung von Vermittlung als Abstraktion und höherer Vermittlung mit sich selbst siehe Hegel, PdR: 156ff.; vgl. auch den Verhältnisbegriff nach Renate Wahsner 1996: 42.
2 Gemeint ist hiermit, daß individuelle Handlungsgründe nicht durch Untersuchungen "über" die Menschen ermittelbar sind, wenn sie lediglich als Objekte behandelt werden. Die Behandlung der Menschen als Objekte, die unter Bedingungen gestellt und deren Verhalten dann untersucht und ggf. prognostiziert werden könnte, widerspricht ihrem Subjekt-Sein. Zu dieser Position, die aus der Kritischen Psychologie nach Klaus Holzkamp entwickelt wurde, siehe auch Schlemm 2002.

Literatur
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Annette Schlemm, Physikerin und Philosophin, Jena