Ostdeutsche Geschlechterarrangements unter Druck

Irene Dölling über die soziale Diskriminierung Geschlecht

Gemeinhin gilt eine hohe Erwerbsbeteiligung von Frauen in politischen Statements und sozialwissenschaftlichen Analysen als Zeichen für Modernisierung, dafür, dass das in westlichen Industriegesellschaften lange vorherrschende Geschlechter-Modell von männlichem Ernährer/Erwerbstätigen und Hausfrau erodiert und veraltet und damit ein wichtiger Schritt in Richtung Gleichstellung von Mann und Frau getan wird. So wird als Erfolg hervorgehoben, dass seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts in den EU-Ländern trotz struktureller Krise die Frauenerwerbsquote kontinuierlich ansteigt und insbesondere die Zahl berufstätiger Mütter zugenommen hat, und es werden im EU-Vergleich Frankreich und die skandinavischen Länder mit ihrer hohen Frauenerwerbsquote und ihren umfassenden Institutionen zur Kinderbetreuung als vorbildlich z. B. für Deutschland hingestellt, das in beiderlei Hinsicht Aufholbedarf hat (vgl. Maruani 2002; Krais/Maruani 2001; Bosch et al. 2002). Geradezu gegenläufig dazu scheinen Entwicklungen in Ostdeutschland zu sein: hier ist ein im Vergleich zu DDR-Zeiten drastischer Rückgang in der Erwerbsquote von Frauen zu verzeichnen und die - verglichen mit den alten Bundesländern immer noch besser ausgebauten Einrichtungen zur Kinderbetreuung - geraten ob der finanziellen Schwäche von Ländern und Kommunen sowie der schwachen Geburtenquote und der Abwanderung junger Menschen zunehmend unter Druck.

Soziale Differenzierung: Geschlecht

Die gesellschaftlichen Veränderungen und teilweise radikalen Umbrüche, die mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten einhergingen, waren für ostdeutsche Frauen mit spezifischen Erfahrungen und Einschnitten in bisherige Lebensbedingungen und -gewohnheiten verbunden. Der Wegfall sozialpolitischer Maßnahmen zur Subventionierung z.B. von Kinderbetreuungseinrichtungen, die Übernahme einer Rechtssprechung und eines sozialstaatlichen Regimes, denen das (modernisierte) Modell der Ernährer-Hausfrau-Familie zugrunde liegt, die zunächst aufgeschobene, aber absehbare Einschränkung des Rechts auf Abtreibung ohne Vorbedingungen, die Bezahlung von Kontrazeptiva u.a. gehören dazu. Mit dem Übergang in die moderne Gesellschaft kapitalistischen Typs wurde für viele Frauen konkret erfahrbar, dass "Geschlecht" stärker als in der DDR als Faktor sozialer Differenzierung wirkt und die Zugehörigkeit zu einer Genusgruppe auf eine bis dahin unbekannte bzw. (beinahe) vergessene Weise bedeutsam für die Wahrnehmung sozialer Chancen und für die Realisierung von Lebensansprüchen und -plänen ist. Am massivsten haben die ostdeutschen Frauen die neuartige Weise ihrer Diskriminierung wie auch ihre wachsende soziale Differenzierung seit 1990 auf dem Arbeitsmarkt erfahren1 - und zwar nicht nur in den konkreten Auswirkungen für die einzelnen, sondern auch aus einer strukturellen Perspektive: in der "realsozialistischen" DDR erfolgte die Integration der Frauen wie die der Männer in die Gesellschaft entscheidend über die Erwerbssphäre.
Die nachfolgend dargestellten Veränderungen und herangezogenen Daten sind keineswegs nur für eine Übergangsphase charakteristisch, im Gegenteil: wie eine Vielzahl von soziologischen, politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Analysen zeigen, ist der nach einer mehr oder minder chaotischen Übergangsphase zu verzeichnende Trend zur Stabilisierung und zu wirtschaftlichem Aufschwung bereits 1995/96 wieder zum Stillstand gekommen, und seither sind Stagnation und rückläufige Entwicklungen, insbesondere, aber nicht nur, im ökonomischen Bereich festzustellen.

Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt

Ein Blick auf die Entwicklungen des ostdeutschen Arbeitsmarktes seit der Vereinigung zeigt sowohl geschlechtsneutrale als auch ausgeprägt geschlechtsspezifische Tendenzen. Eher geschlechtsneutral ist die Erfahrung von Arbeitslosigkeit. Wie schon der Sozialreport 1996 feststellte, ist seit 1990 "Arbeitslosigkeit (Â…) für über die Hälfte aller Bürger zwischen 18 und 60 Jahren in den neuen Bundesländern bereits zur eigenen Erfahrung geworden" (Winkler, 1996: 24), und dies hat sich unterdessen auch nicht wesentlich verändert. Auch das Entlassungsrisiko ist für Frauen nicht größer als für Männer - es gingen nicht mehr Frauen- als Männerarbeitsplätze verloren (ca. 1 Million). Geschlechtsspezifisch dagegen ist die Chance, wieder eine Beschäftigung zu finden. Die Statistiken weisen seit 1990 deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich Arbeitslosigkeit und Wiederbeschäftigung auf. Kontinuierlich stellen Frauen einen überproportional hohen Anteil an den Arbeitslosen, sie sind weitaus häufiger als Männer langzeitarbeitslos, und sie haben geringere Chancen, ein Angebot auf Umschulung bzw. für einen Job auf dem zweiten Arbeitsmarkt zu bekommen. Dies soll an einigen Daten veranschaulicht werden:
l Während die Arbeitslosenrate 1998 bei westdeutschen Frauen und Männern etwa gleich hoch war, klafft zwischen arbeitslosen Frauen und Männern im Osten eine Differenz von ca. 10 Prozentpunkten2. Nach wie vor ist die Frauen-Erwerbsquote im Osten höher als im Westen, zugleich nähert sich die Quote der tatsächlich beschäftigten ostdeutschen Frauen mittlerweile dem Niveau der alten Bundesländer an (1989 waren in der DDR ca. 90% der Frauen im erwerbsfähigen Alter berufstätig; die Quote in den alten Bundesländern liegt bei ca. 60%).
l Der Umbau der ostdeutschen Wirtschaft hat zu einer Umverteilung von Frauen auf die verschiedenen Wirtschaftssektoren geführt: die Zahl der in der Industrieproduktion beschäftigten Frauen ist stark zurückgegangen - sie sind heute stärker in Dienstleistungsbereichen wie Handel, Gastgewerbe, Verkehr, als mithelfende Angehörige in Familienunternehmen oder als (Schein-)Selbstständige tätig.
l Der Anteil von Frauen an befristeten und/oder untertariflich bezahlten Beschäftigungsverhältnissen ist hoch - z. B. war 1999 der Anteil der Frauen an den Erwerbstätigen ohne Arbeitsvertrag im Land Brandenburg doppelt so hoch wie der der Männer.
l Neben Tendenzen, Frauen aus bestimmten Branchen zu verdrängen bzw. auch bisher frauentypische Beschäftigungsfelder stärker für Männer zu öffnen (vgl. Nickel/Schenk 1994) ist unübersehbar, dass (neue) Arbeitsmöglichkeiten für Frauen vor allem Teilzeitjobs sind.
l Geschlechtsspezifisch ist auch, dass die berufliche Qualifikation bzw. das Niveau beruflicher Qualifikation für ostdeutsche Frauen das entscheidende Kriterium dafür sind, erwerbstätig zu bleiben (vgl. Schenk 1995b; Nickel 1997). Interessanterweise hat die konkrete Familiensituation (Familienphase, Anzahl und Alter der Kinder) relativ wenig Erklärungskraft für die Erwerbsintegration ostdeutscher Frauen: die markante Differenzierungslinie ist deren Qualifikationsniveau. Während die Erwerbsintegration von Männern relativ unabhängig von ihrer beruflichen Ausbildung ist (entsprechend dem Normativ des "Ernährers der Familie", das nach 1990 insbesondere durch die Übernahme bundesdeutschen Rechts wiederbelebt wurde), hängt sie für Frauen entscheidend von ihrer Qualifikation ab. Nickel/Hüning konstatieren: "Es lässt sich eine qualifikationsspezifische Verdrängung von Frauen aus dem ostdeutschen Arbeitsmarkt konstatieren, die vornehmlich unter Frauen ausgetragen wird. Sie hat den Effekt, dass un- und angelernte Frauen und Frauen mit einem Facharbeiterabschluss die schlechtesten Karten im Verteilungskampf um Erwerbsarbeit haben Â…" (Nickel/Hüning, 2001: 32)3. Untersuchungen zum Erwerbsstatus von Paaren zeigen, dass Paare, bei denen beide PartnerInnen eine hohe berufliche (in der Regel akademische) Qualifikation haben, am erfolgreichsten am DDR-Modell (beide vollerwerbstätig) festhalten konnten, während Frauen mit Facharbeiterinnenabschluss deutlich unterrepräsentiert sind sowohl bei den vollzeit- wie bei den teilzeitbeschäftigten Frauen (vgl. Bericht der Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung 1998). Die beobachtbare Ausdifferenzierung im Lebensstandard von Haushalten hat entscheidende Ursachen in den Beschäftigungschancen von unterschiedlich qualifizierten Gruppen von Frauen. Anders gesagt: Die Erwerbsintegration von Frauen wird im Osten zu einem entscheidenden Kriterium für eine stabile soziale Lage von Familien. Das bedeutet auch, dass sich die Positionen von Frauen innerhalb ihrer Familien/Haushalte ausdifferenzieren - unter anderem bedingt durch ihren Beitrag zum Haushaltseinkommen. Bislang allerdings tragen ostdeutsche Frauen im Durchschnitt immer noch - wie zu DDR-Zeiten - ca. 43% zum Haushaltseinkommen bei und immer noch - wenn auch zahlenmäßig zurückgegangen - sind in der Mehrzahl der Haushalte beide PartnerInnen vollzeitbeschäftigt (vgl. ebd.: 322).

Beruf und Lebensplanung

Letztgenannter Fakt verweist auf ein bemerkenswertes Phänomen: Ostdeutsche Frauen halten mehrheitlich bis heute an dem in der DDR praktizierten Modell der Vereinbarung von (Vollzeit-)Erwerbsarbeit und Familienaufgaben fest.4 Als "Eigensinn" ostdeutscher Frauen oder auch als "ungebrochene Erwerbsneigung"5 ist dieses Phänomen in den Medien wie in der soziologischen Literatur beschrieben worden. Im Gegensatz zu Annahmen in der "Wende-Zeit", dass Erwerbstätigkeit von den Frauen in der DDR vor allem als staatlich verordneter Zwang erfahren und bewertet wurde und die Mehrzahl von ihnen schnell und freiwillig die "Doppelbelastung" aufgeben würde, zeigen die Statistiken über die Jahre einen unverändert hohen Wunsch ostdeutscher Frauen (vollzeit)-erwerbstätig zu sein bzw. zu bleiben (vgl. Winkler 1996: 20). Bis heute ist für die übergroße Mehrheit ostdeutscher Frauen (Vollzeit-)Erwerbsarbeit ein fester Bestandteil ihrer Lebensplanung.6 Die Gründe, die ostdeutsche Frauen haben, an diesen Plänen auch unter den veränderten Bedingungen festzuhalten, sind selbstverständlich sehr komplex. Materielle Faktoren sollten dabei nicht unterschätzt werden - Gehälter und Löhne sind immer noch niedriger als in Westdeutschland (je nach Branche 10 bis 35%), so dass eine Familie in Ostdeutschland selten mit nur einem Einkommen ihren Lebensstandard erhalten bzw. verbessern kann. Reale ökonomische Notwendigkeiten sind allerdings eng verknüpft mit einer von der Mehrzahl ostdeutscher Frauen (und Männer) internalisierten Norm der Erwerbstätigkeit von Frauen und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Diese normative Selbstverständlichkeit prägt bis heute das Selbstbild ostdeutscher Frauen; gestärkt wird dies durch die relativ starke Position von Frauen in der Familie/im Haushalt, nicht zuletzt durch ihren Beitrag zum Haushaltseinkommen. Wichtiger noch: Selbstbild ostdeutscher Frauen und weibliche Lebensverläufe sind Ausdruck eines für die DDR charakteristischen "Geschlechtervertrages", dessen Wirkungen bis in die Gegenwart zu beobachten sind. Mit dem Terminus "Geschlechtervertrag" wird in der Soziologie umschrieben, dass es "in allen modernen Gesellschaften einen historisch gewachsenen sozio-kulturellen Konsens über die jeweilige Ausprägung der Verkehrsformen der Geschlechter, ein gemeinsam von Männern und Frauen getragenes Leitbild und Lebensmuster über die "richtige" Form der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die Familienform und die Art und Weise der Integration der beiden Geschlechter in die Gesellschaft über den Arbeitsmarkt und/oder über die Familie gibt" (Schenk 1995a: 478; Herv. I.D.). Der Geschlechtervertrag, der in der DDR praktiziert und institutionalisiert wurde, gründet auf dem Doppel-Erwerbstätige/Versorger-Modell. D.h. für beide Geschlechter gilt, dass die Integration in die Gesellschaft primär durch die Beteiligung am Erwerbssystem hergestellt wird. Dieser Geschlechtervertrag hat in der DDR zu Geschlechterarrangements geführt, die durch das (zumindest offizielle) Verschwinden der männlichen "Ernährerrolle", durch die tendenzielle ökonomische Selbständigkeit der Frauen und ihre entsprechend starke Position in der Familie, sowie durch eine staatliche Verantwortung für Kinderbetreuung gekennzeichnet ist. Obwohl das Doppel-Erwerbstätige/Versorger-Modell in Ostdeutschland seit 1990 erodiert, halten ostdeutsche Frauen (und Männer) bis heute an den darauf gegründeten Geschlechterarrangements fest. Zwar kann bei den jüngeren Alterskohorten ein Ansteigen der Zahl von Männern festgestellt werden, die - zumindest solange kleine Kinder im Haushalt sind - für die Nichterwerbstätigkeit der Frau plädieren, wie auch der Anteil der Frauen, die unter diesen Voraussetzungen nur einer Teilzeitarbeit nachgehen möchten, ansteigt (vgl. Keiser 1997: 219-222) - nicht zuletzt auf Grund der schlechten Arbeitsmarktlage. Dennoch sieht auch in diesen Altersgruppen wie in den älteren Jahrgängen die Mehrheit der Männer und Frauen (Vollzeit-)Erwerbsarbeit von Frauen als selbstverständlich an. So arbeiten ostdeutsche Frauen auch in Teilzeitjobs eine relativ hohe Stundenzahl (um die 30 Wochenstunden) und immerhin 39% der Teilzeitbeschäftigten würden sofort in eine Vollzeittätigkeit wechseln, wenn dies möglich wäre (Arbeitszeit 99: 16). Ein weiteres Indiz dafür ist auch, dass unter denjenigen, die zur Zeit von den neuen in die alten Bundesländer abwandern, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu wahren, junge Frauen die Mehrheit bilden (vgl. Hess 2003) - ob sie allerdings nach Familiengründung unter den faktischen und kulturell-normativen Bedingungen der alten Bundesländer an ihrem Lebensentwurf festhalten können, der mehrheitlich die Vereinbarung von (vollzeitlicher) Erwerbs- und Familienarbeit vorsieht, ist eher fraglich (vgl. dazu Schäfer 2003).
Diese skizzierten Entwicklungen zeigen: Geschlechtervertrag und Geschlechterarrangements weisen bis heute in Ost- und Westdeutschland beträchtliche Unterschiede auf. Ein Revival des Ernährer-Hausfrau-Modells hat es in den neuen Bundesländern aus komplexen - ökonomischen, sozialen und kulturellen Gründen - nicht gegeben.7 Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Transformation in Ostdeutschland mit einer Flexibilisierung von Arbeitsverträgen, Arbeitsformen und Arbeitszeiten verbunden ist, die auch für viele Männer nach sich zieht, dass die Standards des "Normalarbeitsverhältnisses" für sie nicht mehr gelten. Und auch das für Westdeutschland hegemoniale modernisierte Ernährer-Hausfrau-Modell (d.h. der vollzeitarbeitende Mann/Ernährer - die "dazuverdienende" teilzeitarbeitende Frau/Mutter) wird in Ostdeutschland eher gezwungenermaßen, denn freiwillig praktiziert.8
Ostdeutsche Frauen üben mit ihrem Festhalten an der vollzeitlichen Erwerbsarbeit einen starken Druck auf den Arbeitsmarkt aus. Vermittelt darüber tragen sie auch dazu bei, dass Kindereinrichtungen mit entsprechenden Öffnungszeiten erhalten bleiben. Die jüngsten Vorstöße in Ländern wie Brandenburg und Sachsen-Anhalt, das Kita-Gesetz zu novellieren, d.h. tendenziell westdeutschen Bedingungen und Standards anzupassen,9 machen es ostdeutschen Frauen schwerer, an ihren Lebensplänen festzuhalten. Es ist eine offene Frage, ob die "Erwerbsneigung" ostdeutscher Frauen unter diesen Bedingungen weiterhin "ungebrochen" bleibt und vor allem die Ausweitung von (schlecht bezahlten, ungesicherten) Teilzeitjobs in Ostdeutschland auf Dauer verhindern kann.
Das Abflachen von Geschlechterhierarchien als sozialer Differenzierungsfaktor im DDR-Sozialismus (vgl. Dölling 2003) wirkt in den ostdeutschen Geschlechterarrangements bis heute in dem Sinne fort, dass von beiden Geschlechtern Erwerbstätigkeit von Frauen als Selbstverständlichkeit angesehen wird. Alltagspraktisch kann das eine individuelle Ressource für Frauen sein, wenn es um die Abstimmung flexibler Arbeitszeiten und Notwendigkeiten der Kinderbetreuung, um die moralische Unterstützung seitens der PartnerInnen bei der Bewältigung von Arbeitsanforderungen oder bei der Wahrnehmung von Weiterbildungen etc. geht. Auch die Tatsache, dass in Bereichen wie z. B. der öffentlichen Verwaltung oder anderen Branchen, insbesondere des Dienstleistungssektors, Frauen zu höheren Anteilen mittlere (und höhere) Leitungspositionen besetzen als in Westdeutschland (vgl. Völker 2003; Andresen/Dölling/Kimmerle 2003), verweist auf die nachwirkende Vorstellung, dass Frauen und Männer (in der Erwerbssphäre) gleichberechtigt seien. Abgesehen davon, dass dieses Wahrnehmungsmuster grobe und feine Unterschiede in der Positionierung von Frauen und Männern in der geschlechtssegementierten Arbeitswelt (in der DDR und heute) verkennt - diese dem DDR-Geschlechtervertrag korrespondierende Vorstellung von der Gleichberechtigung der Geschlechter schloss und schließt auf der Ebene der Arrangements konstitutiv ein, dass Frauen für Hausarbeit und Kinderbetreuung normativ und auch weitgehend praktisch verantwortlich sind. Die dem ost- wie dem westdeutschen Geschlechtervertrag bei allen Unterschieden gemeinsame strukturelle Trennung von Produktion (Erwerbssphäre) und Reproduktion (individuelle und generative Reproduktion in der privaten/familiären Sphäre) und die mit dieser Trennung bis heute ungebrochene Norm der Vereinbarung von Beruf und Familie als (primär bzw. ausschließlich) von Frauen zu leistende Aufgabe stellt ein wichtiges "Anschlussstück" ostdeutscher an westdeutsche Geschlechterarrangements dar. Unter ostdeutschen Frauen ist - wie zu DDR-Zeiten - die Auffassung verbreitet, dass ihre familiären Arrangements ausgewogen und tendenziell gleichrangig sind, wenn ihre Partner bei der Bewältigung der häuslichen Arbeiten "mithelfen". Dies impliziert, dass eher Frauen zugunsten der Familie zurück stecken, wenn sich (flexibilisierte) betriebliche und familiäre Zeitstrukturen und Organisationsformen nicht in Übereinstimmung bringen lassen. Ostdeutsche Männer - vor allem die Jüngeren, die wesentlich bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben als die gleichaltrigen Frauen - können sich unter diesen Bedingungen auch wieder stärker als ihre Väter und Großväter als "Ernährer" sehen, d.h. ihrer eigenen Erwerbstätigkeit gegenüber der ihrer Partnerinnen Priorität einräumen. Insgesamt erweisen sich die ostdeutschen Geschlechterarrangements unter den aktuellen Gegebenheiten als höchst widersprüchlich: sie schließen weder aus, dass Männer wieder stärker und selbstverständlich Privilegien in der Erwerbssphäre wahrnehmen, noch dass Frauen durch ihr Festhalten an der Vereinbarung von (Vollzeit-)Erwerbsarbeit und Familie Arbeitsformen in Kauf nehmen, die geschlechtsspezifische Segregationen des Arbeitsmarktes reproduzieren bzw. sogar verstärken.10 Zwar bleibt das (modernisierte) Ernährer-Hausfrau-Modell in Ostdeutschland unattraktiv, aber die soziale Differenzierung zwischen Frauen, die das aus der DDR überkommene, "Modernität" anzeigende Doppel-Versorger-Modell praktizieren können und Frauen, die ihre Arbeitskraft nur schlecht vermarkten können und für die einmal errungene Lebensbedingungen zur Vereinbarung von Beruf und Familie verloren gehen, nimmt unübersehbar zu. Und nicht zuletzt sind in Ostdeutschland - regional unterschiedlich ausgeprägt - Tendenzen der wirtschaftlichen und sozialen Verarmung/Verelendung zu beobachten, die "Geschlecht" als Faktor sozialer Differenzierung hinter Alter, Qualifikation, Mobilität weit in den Hintergrund drängen.

Anmerkungen

1)
Ich konzentriere mich in meinen folgenden Bemerkungen auf die Erwerbssphäre. Für eine ausführlichere Darstellung der Situation von Frauen nach der deutschen Vereinigung vgl. Dölling, 1998, 2000; Nickel, 1997
2)
Vgl. Sozialreport 1999, 157
3)
Dies korrespondiert im übrigen mit Entwicklungen im EU-Bereich, wonach gut qualifizierte Frauen (insbesondere mit Universitätsabschluss) häufiger erwerbstätig sind als "als ihre Geschlechtsgenossinnen mit niedrigerer Qualifikation und - dies ist besonders interessant - auch häufiger als niedrig qualifizierte Männer" (Bosch et al. 2002, 18)
4)
Zur "weiblichen Normalbiografie" gehörte in der DDR neben der (Vollzeit-)Erwerbsarbeit auch das Haben von Kindern: 1989 hatten ca. 90% aller Frauen im gebärfähigen Alter mindestens ein Kind geboren (vgl. Winkler 1990: 27)
5)
Interessanterweise wird der Begriff der "Erwerbsneigung" nur in bezug auf Frauen angewendet; von einer Erwerbsneigung von Männern habe ich noch nie gelesen - wahrscheinlich wird auch in der Soziologie das kulturelle Denkmuster bislang weitgehend unreflektiert angewendet, wonach "Mann" und "Erwerbsarbeit" per se zusammengehören.
6)
So ist der Anteil an den erwerbstätigen Frauen, die Teilzeit arbeiten, in Ostdeutschland etwa gleich (er schwankt zwischen 21 und 26%) - egal ob die Frauen Singles sind, ohne Kinder verheiratet oder mit einem Partner zusammenleben, alleinerziehend sind oder mit Kindern verheiratet oder mit einem Partner zusammenleben - im Unterschied zu westdeutschen Frauen, deren Anteil an Teilzeitarbeitenden unter den erwerbstätigen Frauen auf 47% bei Alleinerziehenden bzw. auf 69% bei Verheirateten/Lebensgemeinschaften mit Kindern steigt (Arbeitszeit Â’99: 8)
7)
Es wird auch in den alten Bundesländern vor allem in den jüngeren Altersgruppen zunehmend weniger als ideales Modell für die eigene Lebensführung angesehen, allerdings fördern Regelungen wie das Ehegattensplitting, das Steuerrecht, aber auch Strukturen des Arbeitsmarktes (die Segmentierung in - tendenziell - männliche Vollzeitstellen und mehrheitlich von Frauen besetzte Teilzeit- und Niedriglohnjobs) sowie institutionelle Bedingungen (z. B. die Anzahl von Kinderbetreuungseinrichtungen und ihre Öffnungszeiten), das (modernisierte) Ernährer-Hausfrau-Modell.
8)
Zu den Unterschieden zwischen ost- und westdeutschem Geschlechtervertrag gehört die mehrheitlich geteilte Auffassung, wo und von wem Kinderbetreuung vor allem in den ersten Lebensjahren geleistet werden sollte: während im Osten die Betreuung von Kindern unter drei Jahren in Krippen nach wie vor als opportun angesehen wird, dominiert im Westen die Vorstellung, dass Kinder unter drei Jahren von ihren Müttern zu Hause betreut werden sollten. Die Aufnahme einer Teilzeitarbeit wird daher auch subjektiv - wenn auch sicher nicht immer ganz freiwillig, auf Grund der gegebenen Bedingungen, aber doch auch getragen von einem kulturellen Konsens - als die für Mütter "passende" Form von Erwerbstätigkeit angesehen.
9)
In den meisten alten Bundesländern bedeutet die gesetzliche Zusicherung eines Kindergartenplatzes ein Angebot von wenigen (Vormittags-)Stunden Kinderbetreuung, so dass Frauen bestenfalls eine Teilzeitarbeit aufnehmen können.
10)
Bislang war der Arbeitsmarkt in Ostdeutschland - auch dies ein Weiterwirken des DDR-Geschlechtervertrages - im Unterschied zu den alten Ländern nicht durch eine geschlechterspezifische Aufspaltung in männliche, qualifizierte Vollzeitarbeit einerseits und weibliche, un- oder niedrigqualifizierte Teilzeitarbeit gekennzeichnet.

Literatur

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Winkler, Gunnar: Frauenreport 1990. Berlin: Verlag Die Wirtschaft 1990
Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung (1998). Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, sozialer Zusammenhalt, ökologische Nachhaltigkeit. Drei Ziele - ein Weg. Bonn: Verl. J.H.W. Dietz Nachf.

Irene Dölling ist Inhaberin der Professur für Frauenforschung an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam

Aus: Forum Wissenschaft 2/2004