Beifall klatschen und verstummen

Willi Scherer über die Krise im Revier und den wachsenden Pessimismus.

Die Landtagswahlen von Nordrhein-Westfalen stehen vor der Tür. Rot-Grün macht Wahlkampf mit der Behauptung, der vermeintlich notwendige sozialökonomische Strukturwandel sei besser als anderswo gemanagt worden. Willi Scherer, lange Jahre Betriebsratsvorsitzender bei Küppersbusch in Gelsenkirchen und jahrzehntelanger Aktivist der sozialistischen Linken hat sich gerade in den 90er Jahren (nicht nur, aber auch in der SoZ) intensiv mit diesem Strukturwandel auseinandergesetzt. Die SoZ nimmt dies und die bevorstehende Veröffentlichung einer Broschüre mit Scherer-Texten zum Anlass, ihn nach dem aktuellen Stand der Dinge zu befragen. Das Gespräch für die SoZ führte Christoph Jünke.

In deinen SoZ-Artikeln der 90er Jahre hast du dich intensiv mit dem nordrhein-westfälischen Strukturwandel beschäftigt und eine weitgehend negative Bilanz gezogen: Der Gewinn an Dienstleistungsgesellschaft könne den Verlust von Arbeit und Leben für die Mehrheit nicht wieder gutmachen. Ist dies noch immer deine vorherrschende Bilanz?

Im Prinzip ja. Die Arbeitslosigkeit ist bekanntlich nicht gesunken. Ende 2004 hatte Nordrhein- Westfalen eine Arbeitslosenrate von 10,2% (Bundesdurchschnitt 10,8%), das Ruhrgebiet 13,2%. Hier in Gelsenkirchen, schon immer eines der Zentren der Probleme, ist die Arbeitslosigkeit auf mittlerweile 19% geklettert. Über 36.000 Menschen in Gelsenkirchen, Gladbeck und Bottrop sind arbeitslos gemeldet - das sind neue Rekordzahlen. Der Arbeitsmarkt in NRW, schrieb daraufhin die WAZ, erlebte 2004 "sein bisher schlimmstes Jahr" und alle glauben, dass es dieses Jahr noch schlimmer kommen kann bzw. wird. Man spricht davon, dass die Zahl der NRW-Arbeitslose auf über eine Million klettern könnte.
Auch in letzter Zeit wurde versucht, mehrere Betriebe abzubauen, u.a. die Firma Weiland, die versucht hat dichtzumachen, obwohl sie schwarze Zahlen schrieb. Es haben Demonstrationen stattgefunden, bei denen besonders die IG Metall aktiv war. Oder die Firma Rexrodt oder TRW mit Hauptsitz in Frankfurt, die insgesamt tausend Leute entlassen wollte. Auch hier hat es Demonstrationen gegeben. Die Leute sind auf die Straße gegangen. Das Ergebnis war, dass die Leute in allen Betrieben schwere Lohneinbußen hinnehmen mussten, als neue Tarifvereinbarungen umgesetzt wurden.
Die Situation hat sich also noch verschlimmert. Hintergrund ist die Verschuldung von Kommunen und Land, die so hoch ist, dass der Regierungspräsident auf Stellenabbau drängt und die Etats blockiert. Immer mehr Arbeitslosigkeit, über 5000 gute Wohnungen stehen frei, weil die Leute wegziehen. Die Stadt stirbt weiter. Vor wenigen Tagen kündigte die Kunststofffabrik Sabic an, dass sie sich sanieren will, indem sie 200 ihrer insgesamt 540 Stellen abbauen will.

In deinen besagten Artikeln hast du immer besonderen Wert auf die Feststellung gelegt, dass der bisherige Strukturwandel wesentlich von den Großkonzernen RWE, Thyssen, Bayer, VEBA und den Großbanken bestimmt wurde, und dass der Einfluss der Bürger, Belegschaften und Gewerkschaften vollkommen nachrangig war. Auch Rot-Grün hat daran nichts geändert?

Daran hat sich nichts geändert. Wir hatten nach Jahrzehnten sozialdemokratischer Politik jüngst auch einige Jahre einen CDU-Oberbürgermeister hier in Gelsenkirchen, nun wieder die SPD. Aber da ändert sich nichts. Nun hat die SPD auch noch viele Betriebsräte verloren, die 2003 aus der Partei ausgetreten sind.

Gibt es noch Widerstand gegen diesen Sozialabbau und wie verhält sich die Gewerkschaft? Was deren konkrete Politik angeht, warst du immer zwar wohlwollend, aber nichtsdestotrotz sehr kritisch.

Das stimmt im Allgemeinen auch noch. Aber im letzten Jahr hat es sich hier in Gelsenkirchen etwas geändert. Es gibt einen neuen IG-Metall-Bevollmächtigten, einen - im Vergleich zu mir - jüngeren Linken, den ich noch gut kenne, da ich früher viel mit ihm zusammengearbeitet habe. Der hat manches geändert und den Widerstand gut organisiert. Es gingen teilweise mehrere tausend Leute auf die Straße. Da haben die Kirchen mitgemacht und andere wichtige Personen.

Inwieweit ist dieser zunächst mal defensive Widerstand denn mit alternativen Konzepten verbunden?
Nein, da ist kein alternatives Konzept. Die Leute wehren sich einfach gegen den Sozialraub und den Lohnabbau, gehen einfach auf die Straße und versuchen sich zu wehren. An Alternativen ist da gar nicht zu denken, was willst du denn auch machen? Die Zeiten haben sich hier deutlich geändert. Aber immerhin, wir haben einen großen Teil der Belegschaften im IG-Metall-Bereich noch retten können.

Hat sich dadurch das Klima in Gelsenkirchen geändert? Werden die Menschen selbstbewusster?

Kaum, die Stimmung ist allgemein schlecht. Ich bekomme, muss man einschränkend sagen, aber auch nicht mehr so viel mit wie früher. Aber was ich so mitbekomme, wo ich mit einfachen Bürgern spreche, wo ich mit alten Kollegen in meinem Gewerkschaftsseniorenkreis zusammenkomme, da ist die Stimmung ausnehmend schlecht.

Du hast dich in deinen SoZ-Artikeln immer wieder auch mit der allgemeinen Gewerkschaftspolitik auseinandergesetzt. Anfang der 90er hast du klar formuliert, dass das Ende der Sozialpartnerschaftspolitik auf der Tagesordnung stehe und sich die Gewerkschaften zu wehren hätten gegen umfassende Deregulierung, gegen die Aushöhlung des Flächentarifvertragssystems und den umfassenden Lohnverzicht. Auch hier ist festzustellen, dass die Gewerkschaften keinerlei alternative Perspektive entwickelt haben und dass sie ohne nennenswerten Widerstand soziale und tarifpolitische Errungenschaften aufgegeben und ihre eigene innerorganisatorische Demokratie weiter verwässert haben.

Du brauchst ja nur den neuesten Spiegel aufzuschlagen, das Interview mit DGB-Chef Sommer, dann hast du die Antwort auf deine Frage. Er will den Sozialabbau nun hinnehmen. Das ist schon eine neue Qualität. Die Uneinigkeit in den Gewerkschaften ist offensichtlich zu groß.
In Frankreich gehen die Leute und Gewerkschaften auf die Straße, massenweise. Sie kämpfen gerade um die Verteidigung der 35- Stunden-Woche [vgl. S.10 dieser Ausgabe]. Und bei uns passiert nichts. Bei uns unterschreiben die Gewerkschaften weiterhin die schlimmsten Verhandlungspapiere. Das ist mittlerweile alles so ermüdend und frustrierend.

Mir scheint, dass ein bis zwei Jahrzehnte massiver neoliberaler Politik auch insofern erfolgreich waren, als die Angst vor Arbeitsplatzverlust und Verarmung breite Teile der Bevölkerung mittlerweile vollkommen lähmen. Der Wille zur Gegenwehr scheint gebrochen. Hat sich die politische Psychologie in dieser Republik nicht grundlegend verändert?

Ich glaube ja. Ich bin sehr pessimistisch geworden und sehe kaum noch Möglichkeiten der Gegenwehr. Die Leute sind frustriert, fangen zwar schnell an zu politisieren, wissen aber nicht mehr, was sie machen sollen. Viele wissen schlicht und einfach auch nichts mehr und werden von den Medien und ihrer Berichterstattung systematisch verdummt. Sie lesen bestenfalls noch die Tageszeitungen und auch da nur noch die Überschriften.
Es müssten einmal alle Gewerkschaften ein, zwei Tage geschlossen auf die Straße gehen. Kein Zug darf fahren, kein Supermarkt oder keine Bank darf geöffnet sein, das öffentliche Leben muss lahm liegen. Die Leute müssten sehen, dass die Gewerkschaften was machen, dass sie was machen können. Dann würde sich vielleicht was ändern.
Ich habe oft so etwas in meinen Gewerkschaftskreisen gesagt. Alle klatschen dann ordentlich und sagen: Prima Willi. Aber dann wählen sie dieselben Leute und verstummen wieder.

Welche Rolle spielen in dieser allgemeinen Lage deiner Meinung nach die gewerkschaftliche Linke und die linken politischen Kleingruppen? Es gibt nun mit der WASG eine neue Organisation.

Die sind auch hier aktiv und wollen sich einmischen, aber sie kommen schon nicht mehr wirklich in die Medien, haben keine charismatischen Führungspersönlichkeiten. Kaum jemand nimmt sie wirklich wahr. Das Ruhrgebiet ist noch immer voll auf die SPD fixiert, die Linken sind zu schwach.

Aber jenseits der deutschen Grenzen tut sich doch vieles und manches davon beeindruckt auch die hiesige Bevölkerung. Oder nehmen wir den Kampf bei Opel: die Unzufriedenheit an der Basis ist doch sehr groß.

Ich habe den Eindruck, dass Opel eher eine Ausnahme ist. Aber du hast Recht, Opel zeigt, dass man mit einer langfristig angelegten linken Betriebspolitik manches erreichen kann. Davon ist einiges in der Belegschaft hängen geblieben. Aber es waren eben nur sechs Tage.

Du hast in deinem langen, bewegten Leben manches Auf und Ab erlebt. Gibt es eine Zeit, an die zu erinnern heute sinnvoll wäre, gab es eine vergleichbare Zeit?

Das lässt sich schwer vergleichen. Aber eigentlich bräuchten wir eine neue 68er-Zeit. Der damalige Versuch, Arbeiterbewegung und Intellektuelle zusammenzubringen, war ein wichtiger Impuls, eine wichtige Zeit, von der wir zum Teil immer noch zehren [vgl.S.22]. Aber danach sieht es nicht aus. Die ganze politische Entwicklung geht zurück.