›Seid ihr nur wegen des Tsunamis hier?‹

Reisebericht aus Sri Lanka

Unser Kleinbus nähert sich Mullaittivu über eine Straße, deren Belag von der Wucht der Tsunami-Fluten einfach hinweggespült wurde. Den Häusern des Ortes und vielen, die hier lebten, ist dasselbe widerfahren. Was blieb, ist ein von Schutt, Gestrüpp und zertrümmertem Hausrat übersätes Gelände, in dem da und dort noch ein Gebäude steht, wenn auch Fenster, Türen und das Dach fehlen. Es ist, als habe hier eine systematische Abrissaktion stattgefunden, um eine neue Siedlung zu bauen, vielleicht zu touristischen Zwecken. Dafür sprechen die Palmen, die den Blick nach allen Seiten begrenzen, dafür sprechen auch der Strand und das unter der Sonne funkelnde Meer.
Bald erfahren wir, dass dieser Eindruck an vielen vom Tsunami betroffenen Orten keineswegs falsch ist, dann jedenfalls nicht, wenn die Pläne aufgehen, an denen zur Zeit in der Hauptstadt Colombo bereits gearbeitet wird - und nicht nur dort.
Die Strände Sri Lankas, die bisher "Commons" (öffentliches Gut) waren und die deshalb auch von armen Fischerfamilien besiedelt werden konnten, sollen jetzt privates Eigentum werden, zum Nutzen der Tourismusindustrie. Außerdem sollen auf der Insel, die so groß ist wie Bayern, acht moderne Fischereihäfen angelegt werden, geeignet für die Trawler der internationalen Fangflotten.
"Rebuilding the Nation”, nennt das die Regierung. Die Fischerfamilien sollen künftig weiter im Landesinneren leben, aus Sicherheitsgründen, heißt es. Ob sie ihre auf die eigene Subsistenz und kleine Vermarktung angelegte Arbeit wieder aufnehmen können, ob ihnen ein Zugang zu den Fischgründen des Meeres bleibt, ist nicht klar. Ob zur Neuansiedlung überhaupt Land zur Verfügung steht, auch nicht. Als wir einwenden, dass die Menschen dann ja Gefahr laufen, für lange Zeit auf fremde Hilfe angewiesen in Lagern zu bleiben, wird uns geantwortet: "Das hat in Sri Lanka Tradition. Hier leben viele seit Jahren schon in Lagern. Das werden jetzt mehr werden, mehr Leute, mehr Lager."

Folgen der Katastrophe
Nach Sri Lanka ebenso wie nach Indien hatte Medico bisher nur im Rahmen des People‘s Health Movement (PHM) Verbindungen, ein weltweites Netzwerk von Basis- und Nichtregierungsorganisationen, die sich für das gleiche Recht aller auf den bestmöglichen Zugang zu Gesundheit einsetzen. Das Ausmaß des Seebebens, vor allem aber die historisch nie zuvor gekannte Hilfsbereitschaft Hunderttausender Menschen weltweit brachte uns dazu, in beiden Ländern auch Projektpartnerschaften zu suchen.
Kann es gelingen, die spontane Bereitschaft zur Hilfe so aufzufangen, dass aus ihr ein Verhältnis gegenseitiger Solidarität wird? Eine Solidarität, die hier wie dort politische Folgen zeitigen würde, die der keineswegs zufällig allerorts geführten Rede von "globaler Verantwortung" zumindest im Ansatz gerecht würde? Die Antworten auf diese Frage werden zuerst die Menschen vor Ort wissen, sie werden letztlich aber von globaler Bedeutung sein.
Nach Mullaittivu kamen wir durch Singham, den Leiter der Social, Economical and Environmental Developers (SEED). Singham lebte 15 Jahre in Kreuzberg, bevor er 1994 wegen der dortigen rassistischen Gewalt nach Sri Lanka zurückkehrte, das er aus demselben Grund verlassen hatte. Seine Organisation mit ihren vierzig meist sehr jungen Mitarbeitern hat ihren Sitz im nur wenige Kilometer entfernten Vavuniya. Die Arbeit mit durch den Krieg vertriebenen Menschen, die mit Haus und Verwandten zugleich ihren Lebensunterhalt verloren haben, ist ein Schwerpunkt der Developers. Jetzt kommen die hinzu, denen der Tsunami den Nerv ihres Leben geraubt hat.
Noch vier Wochen nach dem Seebeben steigt die Zahl der Toten auf mittlerweile über 30.000, über 5000 Menschen werden vermisst. Die Verwüstung durch die Flut reicht an mehr als drei Vierteln der Küste zwei Kilometer ins Landesinnere hinein, geschätzte 250.000 Familien haben ihren Lebensunterhalt verloren, eine halbe Million Menschen sind obdachlos geworden, leben bei Verwandten oder in Lagern.
Lager mit sog. displaced persons - euphemistisch als welfare center bezeichnet - gibt es in Sri Lanka nicht erst seit dem Seebeben. Der Tsunami schreibt eine Geschichte fort, die seit Jahrzehnten von der mörderischen Gewalt eines ethnisierten Krieges bestimmt wird. Der Konflikt zwischen der singhalesischen Mehrheits- und der tamilischen Minderheitsgesellschaft und die Konflikte innerhalb der beiden Gruppen gehen auf die britische Kolonialherrschaft zurück, die Tamilen und Singhalesen gezielt gegeneinander ausspielte.
Dem Krieg fielen bisher im tamilischen Norden 65.000, im singhalesischen Süden allein Ende der 80er Jahre wenigstens 30.000 Menschen zum Opfer. Vor zwei Jahren wurden die Kämpfe eingestellt, die Waffenruhe ist jedoch brüchig. Das zeigt schon der Umstand, dass die tamilischen Gebiete in der Versorgung mit Hilfsgütern systematisch benachteiligt werden - trotz spontaner Bereitschaft zur Hilfe oft auch von singhalesischer Seite.

Im tamilischen Gebiet
Den Übergang ins tamilische Gebiet konnten wir von Colombo kommend schon mit dem Blick aus dem Fenster wahrnehmen, so deutlich ist die größere Armut der Hütten, Dörfer und Ortschaften. Durch Vavuniya zieht sich die Grenze zwischen dem von der Regierung und dem von den Tigers, der tamilischen Befreiungsfront, kontrollierten Gebiet. Die Stadt ist in den letzten Jahren enorm gewachsen, hat zahllose Menschen aufgenommen, die der Krieg von ihrem Land vertrieb. Die Developers arbeiten auf beiden Seiten der Grenze.
Während der Vorstellungsrunde auf dem Dach des Hauses werden wir gefragt: "Seid ihr nur wegen des Tsunami hier?" Die Frage hatte man uns schon in Colombo gestellt, wo wir die landesweit operierende NGO Sarvodaya besucht hatten. Dort wurde uns bereits vom Einfall der Helfer aus aller Welt berichtet, von den Kleidern, dem medizinischem Gerät und dem Reis, alles plötzlich in unbegrenzter Menge verfügbar, als ob es daran nie Mangel gegeben hätte.
"Auch wenn man uns immer noch mehr davon anbietet: Wir brauchen keinen Reis, keine Kleider mehr", sagt Vinya Ariaratna von Sarvodaya. "Ich brauche jemanden, der meine Handyrechnung bezahlt, ansonsten kommen wir gut zurecht." Bei SEED stoßen wir auf dasselbe Selbstbewusstsein, auf ähnliche Erfahrungen, auch auf dieselbe ansteckende Umtriebigkeit.
Nahmen die bisherigen Siedlungsprojekte Kriegsflüchtlinge auf, geht es jetzt um Überlebende des Tsunamis: Ein Projekt wird in Mullaittivu, eines in Batticaloa geplant, zusammen rund 400 Familien. Auf der stundenlangen Fahrt zeigt sich, wie sehr die LTTE schon eine Staatsmacht geworden ist, die über ein Netz von Polizeiposten ebenso verfügt wie über Gesundheitsstationen, Schulen oder eine Flotte von Bussen in gelbroten Farben, auf denen "Tamil Eelam Public Transports" zu lesen ist. Das beginnt schon in Vavuniya, wo wir erst den Checkpoint der Armee, dann eine Station des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes, schließlich den der Tigers passieren.
Dabei zeigt sich allerdings auch die Quasistaatlichkeit der NGOs, denn es gibt an den Checkpoints drei Fahrspuren: für den Privatverkehr, fürs Militär, für die internationalen Organisationen und die NGOs. Von unserem Kleinbus flattert eine Fahne mit dem Symbol von SEED.
Vom Krieg künden überall zerstörte, von schwarzen Brandspuren und Einschusslöchern gezeichnete Gebäude, auch ein großer Friedhof der LTTE, auf dem gefallene Kämpfer in völlig gleichförmigen Gräbern liegen. Unterwegs treffen wir den regionalen Gesundheitsbeauftragten der Regierung (die wenigen Krankenhäuser im von der LTTE kontrollierten Gebiet werden von ihr unterhalten), aber auch Repräsentanten der LTTE sowie Mitarbeiter anderer NGOs bzw. der UNO.
Selbst der Gesundheitsbeauftragte, ein offenbar engagierter und couragierter Arzt, kritisiert die Ungleichbehandlung in der Hilfe, beklagt, dass ihm dringend benötigtes medizinisches Gerät vorenthalten wird. Keiner unserer Gesprächspartner stellt den Friedensprozess in Frage, auch nicht die Repräsentanten der Tigers. SEED setzt darauf, dass zwischen und quer zu den Fronten nach und nach eine autonome Zivilgesellschaft entsteht. Sie beteiligt sich neben der Projektarbeit intensiv an ersten Versuchen einer Koordination, in der Vernetzung der regionalen NGOs ebenso wie im National Forum of People‘s Organisations.

Wiederaufbau
Wieder zurück in Vavuniya besuchen wir am Rand der Stadt die "Organic Farm", die SEED dort auch als Versuchslaboratorium für eine ökologisch und sozial nachhaltige Land- und Viehwirtschaft betreibt. Alles nach den Möglichkeiten gemeinwesenorientierter Subsistenzproduktion, deren Grenzen am jeweiligen Ort die Developers durch die räumliche Ausweitung ihrer modellhaften Projekte verrücken wollen, mit der sich neue Möglichkeiten der Kooperation öffnen. "Das ist unsere Möglichkeit, unsere Chance jetzt", sagt Singham, "nach dem Krieg, nach dem Tsunami."
Nach sechsstündiger Zugfahrt zurück in Colombo, holt uns ein Kleinbus ab, der dem Movement for National Land and Agricultural Reform (MONLAR) gehört. MONLAR ist ein Zusammenschluss von rund hundert Basisorganisationen, hauptsächlich aus den Bereichen der Landwirtschaft und der Fischerei, die mit dem Anschluss Sri Lankas an die neoliberale Globalisierung bis zum drohenden Zusammenbruch unter Druck gerieten. Die Mitglieder des Netzwerks organisieren landesweit Aufklärungs- und Fortbildungsprogramme für Kleinbauern und Fischer, unternehmen gezielte Recherchen zu den Effekten der Globalisierung und beteiligen sich an politischen Kampagnen ebenso wie an alternativökonomischen Projekten - darunter, ähnlich wie bei SEED das eines sozialökologisch nachhaltigen Landbaus. Darüber hinaus ist MONLAR Mitglied von People‘s Global Action (PGA) und Vía Campesina.
Wir erzählen von Medico und erwähnen dabei die Idee eines internationalen Monitoringnetzwerks zu den Folgen des Tsunamis, die Kollegen von uns gerade mit indischen Partnern diskutieren. Genau diese Idee wird an diesem Abend erörtert: In den vom Tsunami betroffenen Ländern sollen Informationen über die Folgen der Katastrophe gesammelt werden, um den Überlebenden eine Stimme zu verleihen. Das dabei gesammelte Wissen wird den Betroffenen zur Verfügung gestellt, auf Singhalesisch, Tamilisch und Englisch.
Am nächsten Tag verbreitet Sunil, ein freier Journalist, zuerst ein civil society statement zu den gerade veröffentlichten Plänen der Regierung, gegen die geplante Privatisierung von Küste und Küstengewässer, gegen die Umsiedlung der Fischer und die Anlage großer Fischereihäfen. Aber auch gegen schon lange bekannte, bisher nicht durchsetzbare Vorhaben wie den Bau einer Küstenautobahn oder die Privatisierung der Trinkwasserversorgung. All das taucht jetzt wieder in der post-Tsunami reconstruction auf, unter alleiniger Verantwortung der Präsidentin Chandrika Kumaratunga Bandaranaike. Die hat gerade erklärt, in den nächsten fünf Jahren keine freien Wahlen zulassen zu wollen, wegen der nach dem Unglück nötigen "nationalen Einheit".

Thomas Seibert ist Mitarbeiter bei Medico International - vgl. dazu auch das Gespräch mit ihm in SoZ 2/05. Sein hier wiedergegebener umfangreicher Reisebericht wurde mit freundlicher Genehmigung redaktionell gekürzt.