Heimat, deine Sterne

Zugegeben, Bevölkerungen sind zu allen Zeiten auch Geworfene. Aber doch nicht nur! Ein Beitrag zur aktuellen Vertreibungsdiskussion ...

Ich halte es nicht mehr für ausgeschlossen, und viele Indizien sprechen dafür, daß wir uns darauf einzurichten haben, daß Volkes Stimme, deutschen Volkes Stimme, versteht sich, über kurz oder lang und unisono nicht mehr nur an Stamm- oder Familientischen, sondern offen und lauthals befinden wird: Endlich haben die Polen, die Tschechen (wennÂ’s denn die Geographie hergibt selbstverständlich auch: die Russen Â…) eingesehen, daß sie Unrecht begingen, als sie damals uns vertrieben. Dabei ist es vollkommen unerheblich, daß von denen, die 1944/45 ihre Heimat verloren, kaum noch jemand am Leben ist. Sie haben dafür gesorgt, daß Kinder und Kindeskinder manchmal so darüber reden, als sei es gestern und sie dabeigewesen.
Zwar sind wir - vor allem von den Berufsvertriebenen - einiges gewöhnt,
aber es gibt immer noch Vorgänge, da verschlägt es einem die Sprache. So berichtete die FAZ in der ihr eigenen Art jüngst über eine Diskussionsveranstaltung in der Aula des Collegium Polonicum in Slubice. Dort trafen aufeinander: Alexander von Waldow, 82, sowie Piotr Nowakowski und Piotr Olewinski (beide 55). Die beiden Polen sind Besitzer des neuen Schloßhotels Mierzecin, das einst Merenthin hieß und nordöstlich von Gorzów liegt, auf deutschen Landkarten immer noch Landsberg/Warthe geheißen (der polnische Name in Klammern dahinter). Die beiden Polen sind Unternehmer, haben das heruntergekommene Anwesen 1998 erworben und aufwendig wieder hergerichtet. Alexander von Waldow ist Aufsichtsratvorsitzender der Preußischen Treuhand - da dürfte auch den Veranstaltern von vornherein klar gewesen sein, wie die Diskussion verlaufen würde. Indes: Von Waldow war dennoch für eine handfeste Überraschung gut. Die FAZ: "Als schon fast alles gesagt war und dennoch die Stimmung gedrückt blieb, rückte von Waldow heraus: Ob die Deutschen 1939 ›Polen überfallen‹ hätten, müsse man sich ›sehr genau ansehen‹ und fragen: ›Stimmt diese These?‹ Einer der Studenten ›schämte‹ sich daraufhin für den Alten. Olewinski sagte trocken, in zehn Jahren werde es wahrscheinlich heißen, Polen habe Deutschland überfallen." Wer kann ihm da ruhigen Gewissens widersprechen?
Die FAZ zitierte auch Eberhard von Waldow, den Bruder des "Alten", Theologe-Professor in Amerika. Der ist laut FAZ der Meinung, ein "gelungener Vermittlungsversuch in Merenthin-Mierzecin zwischen Alt- und Neueigentümern" werde längst praktiziert. Doch er hat sich in einem ausführlichen Brief an die Veranstalter viel dezidierter zu dem Streit geäußert, als es der FAZ-Bericht vermuten läßt. Und vor allen Dingen: Seine Ausgangsposition ist eine völlig andere als die seines "Treuhand"-Bruders: "Im Gegensatz zur Preußischen Treuhand müssen wir als Alteigentümer als Tatsachen anerkennen: Das Problem beginnt nicht mit der Enteignung 1945, sondern mit der vertragswidrigen Eroberung Polens durch Nazideutschland und die folgende Besetzung. Das verursachte in Polen unsagbares Leiden und Zerstörungen, und 6,03 Mio. Polen verloren dabei ihr Leben. In 1945 nach der Kapitulation Deutschlands schwang das Pendel dann einfach zurück. Nun litten viele unschuldige Deutsche, sie wurden enteignet, vertrieben oder auch umgebracht (darunter auch mein Vater). Heute nach 60 Jahren ist es unmöglich, das Chaos von damals mit juristischen Kategorien vor Gerichten ungeschehen zu machen und Entschädigung oder Rückgabe von Eigentum zu verlangen. Im Blick auf die vielen Toten ist das einfach unwürdig. Â… Aber leider operiert die Treuhand noch immer mit antiquierten Propagandaphrasen. Â… Das neue Verständnis von ›Heimat‹ hat Marion Gräfin Dönhoff in ihrer unnachahmlichen Weise sehr klar und schön formuliert: ›Wir müssen lernen zu lieben, ohne zu besitzen.‹ Ich kann meine Heimat noch immer lieben, auch wenn ich sie nicht mehr besitze."
Diese Haltung kommt immer mehr Deutschen abhanden (wenn sie denn je Gemeingut war) - übrig bleiben Trecks, sterbende Alte, hungernde Kinder, vergewaltigte Frauen, marodierende "Russen", plündernde Polen und Deutsche bespuckende Tschechen. Und keiner hat mehr Bilder jubelnder Sudetendeutscher im Kopf, niemand mehr die Kolonnen "volksdeutscher" Landwirte, die - zum Beispiel von Hitler und Stalin aus Bessarabien ins "Generalgouvernement" vertrieben - die Höfe der Polen "übernahmen"; von den "Reichsdeutschen" mit dem NSDAP-Mitgliedsbuch, die den ihnen im Reich verwehrten sozialen Aufstieg im Osten nun doch noch nehmen konnten und dort bevorzugt die Herrenmenschen spielten, ganz zu schweigen. Und, und, und.
Zugegeben, Bevölkerungen sind zu allen Zeiten auch Geworfene. Aber doch nicht nur! Selbstverständlich sind Nachkommen nicht in Haftung für das Versagen oder die Taten und Unterlassungen ihrer Eltern und Großeltern zu nehmen, nirgendwo und niemals. Aber sehr wohl darf ihnen/uns mit Fug und Recht (und Zwang?) die Pflicht auferlegt werden, sich einer Gesamtsicht auf Geschichtsabläufe zu befleißigen. Ich weiß, das ist einer der so verdammten Allgemeinplätze. Aber erstens wird er dadurch nicht unrichtiger, und zweitens wäre zu fragen, warum er denn immer seltener berücksichtigt wird.
Andererseits kommen die Deutschen in einst auch von Deutschen besiedelten Regionen Osteuropas so gut wie nicht vor, vor allem nicht in den Heimatmuseen. So stand ich einmal verwundert im Museum von Levoca, Slowakei, an den Wänden zahlreiche vergilbte Bürgermeister- oder andere Rats-Erlasse, die Erklärungstexte dazu in Slowakisch - und weit und breit keine Erklärung, warum so viele alte Dokumente in Deutsch verfaßt waren.
Jüngst nahm sich im Tagesspiegel Richard Szklorz unter der Überschrift "Das haben wir von den Deutschen" ganzseitig dieses Phänomens an und befaßte sich dabei mit tschechischen Regionalhistorikern, die sich nach sechzig Jahren nun auf die Spuren von "ihren Deutschen" begeben haben. So weit, so gut. Und doch wird auch bei Szklorz wieder zuvorderst das Lied von Not und Vertreibung (der Deutschen) angestimmt. Sowohl der große Hauptbeitrag als auch der Kasten zum Thema "800 Jahre überwiegend friedliches Zusammenleben" kommen vollständig ohne die Vokabeln Henlein und Lidice aus. Nur die Kommunisten kommen vor - das waren ja die Vertreiber.
Wie sagte doch Herr Olewinski aus Mierzecin? In zehn Jahren werde es wahrscheinlich heißen, Polen habe Deutschland überfallen.

in: Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII) Berlin, 14. Februar 2005, Heft 4