Der Sog der Wüste

Libyen wird zum hofierten Partner der westlichen Staaten

Lange Zeit galt Muammar Gaddafi als zu ächtender Terrorist an der Spitze eines "Schurkenstaates". Heute entdecken europäische Regierungen und die USA ihn als neuen "Partner". Wie kam es dazu?

Lange Zeit galt Muammar Gaddafi als zu ächtender Terrorist an der Spitze eines "Schurkenstaates". Heute entdecken europäische Regierungen und die USA ihn als neuen "Partner". Das nordafrikanische Land soll künftig Waffen aus der EU erhalten, Flüchtlinge von Europa fernhalten und Öl sprudeln lassen. Wie kam es dazu?

Sehen so Hoffnungsträger aus? Lange Zeit hatte Muammar Gadaffi in der politischen Klasse und den Medien als eine Art extravagante (männliche) Diva der Weltpolitik oder als zu ächtender Terrorist an der Spitze eines "Schurkenstaates" gegolten. Dagegen hatten in den 1980er und frühen 90er Jahren bestimmte Fraktionen der antiimperialistischen Linken das von ihm beherrschte Libyen als ein neues Sinnbild des "weltweiten Befreiungskampfs" entdeckt. Manche linken Gruppen organisierten sogar Politreisen in das vor allem seit den US-Bombenangriffen von 1986 angehimmelte Land (1) - was notgedrungen nicht ohne Realitätsblindheit auskommen konnte, mit der man über Hinrichtungen, Folter und Einschüchterung politischer Gegner oder Psychiatrisierung von Homosexuellen hinweg blicken konnte.

Heute sind solche Zeiten für den größten Teil der politischen Linken vorbei und vergessen. Dagegen entdecken jetzt die europäischen Regierungen, und auf anderem Wege auch die US-Administration, Libyen als neuen "Partner": Das nordafrikanische Land soll künftig Waffen aus der Europäischen Union erhalten, Flüchtlinge von Europa fernhalten und das Öl, aber auch das Geld in den Kassen nördlicher Investoren kräftig sprudeln lassen.

Zuletzt hielt sich Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac am 24. und 25. November 2004 für eine gut 24-stündige Visite in Libyen auf, bevor er zum "Gipfel der Frankophonie" (der die französischsprachigen Länder der Erde vereinigt) ins westafrikanische Burkina Faso weiterreiste. Wie andere Besucher auch, wurde der französische Staatschef dabei in das von Gadaffis "Amazonen" (weiblichen Bewaffneten) bewachte Beduinenzelt eingeladen, das Gadaffi angeblich seit den US-Luftangriffen vom April 1986, bei denen sein Palast zerstört wurde, bewohnt. Der libysche Staats- und Revolutionsführer hatte es aus diesem Anlass mit Bildern, auf denen Darstellungen zur Französischen Revolution zu sehen sind, geschmückt. Gadaffi bemühte sich nach Kräften, Parallelen zwischen der bürgerlichen Revolution von 1789 und der "libyschen Revolution" zu ziehen.

Begleitet war Chirac bei seinem Libyenbesuch von einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation, der Vertreter von 16 französischen Konzernen und Großunternehmen angehörten: GDF (Erdgas), Total (Ölförderung und verarbeiterung), Alcatel und Thales (u.a. Elektronik) u.v.m. Mehrere Absichtserklärungen über den Abschluss von Verträgen wurden unterzeichnet, etwa für die Lieferung von Radaranlagen für den zivilen Luftverkehr, den Verkauf von Airbussen und die Beteiligung am "Künstlicher Fluss" genannten Bewässerungsprojekt in der libyschen Wüste. Gadaffi seinerseits drängte auf die Lieferung von "ziviler Nukleartechnologie", nachdem sein Land Ende 2003 offiziell dem Erwerb von Atom- und Chemiewaffen abschwor und seine bis dahin vorhandenen Kapazitäten auf diesem Gebiet offenlegte. Chirac zeigte sich in dieser Hinsicht "offen", wollte aber Atomanlagen nur unter Wahrung des internationalen Kontrollregimes geliefert sehen.

Über die noch im Gespräch befindlichen Projekte hinaus kam es am Rande des Chirac-Besuchs aber nicht zum Abschluss konkreter Verträge. Dazu mögen gewisse Verstimmungen bezüglich der Afrikapolitik beigetragen haben: Am Vorabend von Chiracs Ankunft hatte Gadaffi noch die französische Intervention in der westafrikanischen Côte dÂ’Ivoire kritisiert. Immerhin will Chirac künftig "ständige Konsultationen" zwischen Frankreich und Libyen hinsichtlich des übrigen afrikanischen Kontinents vornehmen. Libyen, das in den schwächeren Ländern des Kontinents einen teilweise erheblichen Einfluss besitzt, gilt vielen westlichen Führungsmächten derzeit als Stabilitätsgarant gegenüber den "failed states". Eine Rolle dabei, dass die wirtschaftliche Kooperation im Vagen bleibt, mag auch die Konkurrenz etwa der VR China spielen, die im Telekommunikationssektor billigere Angebote macht.

Vor allem aber war Chirac vielleicht einfach nur ein wenig spät dran, denn vor ihm hatten bereits andere westliche Staatschefs in Tripolis einander die Klinke in die Hand gegeben. Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi war in diesem Jahr allein vier Male in Libyen; dabei ging es vor allem um italienische Investitionen in die Erdgasförderung, um Pipelines sowie um gemeinsame Flüchtlings- und Migrantenabwehr. Seit Anfang Oktober 04 funktioniert eine ständige Luftbrücke zwischen Italien und Tripolis, um unerwünschte Einwanderer aus Afrika nach Libyen "zurückzuschieben".

Ziemlich früh war auch der britische Premierminister Tony Blair, der Gadaffi am 24. März 2004 in Tripolis besuchte. Vereinbart wurden u.a. ein Großauftrag in Höhe von 165 Millionen Euro für den Shell-Konzern in der Öl- und Gasförderung sowie künftige Waffenlieferungen durch den britischen Rüstungsriesen BAE (Britisch Aerospace); Libyen will auch Radar und Nachtsichtgeräte bestellen, unter anderem zur Grenzsicherung gegen unerwünschte Migration.

Deutschlands Kanzler Gerhard Schröder weilte am 14. und 15. Oktober 2004 in Libyen, und natürlich war er auch einer von einer größeren Wirtschaftsdelegation begleitet. Schröder konnte u.a. einen Auftrag für den Siemens-Konzern in Höhe von 180 Millionen Euro abstauben, bei dem es um die Errichtung von regionalen Netzleiststellen für die libysche Elektrizitätsgesellschaft geht, und eine Ölbohrung der BASF-Tochterfirma Wintershall in der libyschen Wüste in Betrieb nehmen. Schröder erklärte rundheraus, Libyen sei "wegen seiner enormen Ressourcen" von hoher Bedeutung für die deutsche Politik und Wirtschaft, die dort "nicht zu kurz kommen" dürfe. Das Land sei "ohne Zweifel ein sehr interessanter Markt".

LIBYEN NACH DEM EMBARGO
Das wird Libyen in naher Zukunft zweifellos sein, denn nach über einem Jahrzehnt Embargo ist die wirtschaftliche Infrastruktur des Landes erheblich instandhaltungs- und modernisierungsbedürftig - inklusive der Anlagen zur Förderung von Rohöl und Erdgas, von denen 94 Prozent der libyschen Exporteinnahmen abhängen. Auch sind derzeit nach verschiedenen Angaben (offizielle Zahlen sind nicht zu bekommen) 25 bis 30 Prozent der libyschen Bevölkerung arbeitslos, und unter den Erwerbslosen sind die jungen Generationen überrepräsentiert, die zwei Drittel der Bevölkerungszahl ausmachen. Ein potenziell gefährliches Risiko für die Stabilität des libyschen Staates, wie in anderen Ländern der Region.

Nach Angaben eines französischen Wirtschaftsatlas OE sieht der libysche Vier-Jahres-Plan für die Jahre 2002 bis 2005 aktuell ein zu erbringendes Investitionsvolumen von 30, 1 Milliarden Euro vor, das benötigt werde, um die Wirtschaft wieder flott zu bekommen. Dabei wollten die libyschen Entscheidungsträger auch zu 30 bis 40 Kapitel ausländisches Kapital anlocken; allein für die dringend erforderliche Überholung der Erdölindustrie sollten 8,6 Milliarden Euro an Auslandsinvestitionen angezogen werden. In einigen Bereichen will der libysche Staat dabei sogar die Kontrolle in Form von Mehrheitsbeteiligungen, die bisher bei Investitionen im Land stets noch bewahrt werden musste, aufgeben. Bis im Jahr 2008 sollen so 360 bisherige Staatsunternehmen privatisiert werden, unter ihnen 54 größere Einheiten wie Stahlwerke, Raffinerien und Zementwerke. Dabei will der libysche Staat sich mit einer 25-prozentigen Minderheitsbeteiligung begnügen. Prompt wurden schon im Sommer 2004 in Deutschland wieder die bundeseigenen Hermes-Bürgschaften für Investitionen in Libyen eingeführt.

Der sich anbahnende Run auf Libyen , dessen Wirtschaft derzeit jährliche Wachstumsraten von 5 Prozent vorweisen kann, setzt andere Nachbarländer bereits unter Druck. So begründet in Algerien, wo die Öl- und Gasförderung ebenfalls einen Modernisierungsschub benötigt, das dortige Regime (laut dem "Quotidien d¹Oran" vom 19. 05. 04) die heftig umstrittenen Pläne zur Privatisierung der nationalisierten Erdölindustrie u.a. damit, dass die künftige Attraktivität Libyens für westliche Investoren eine schwere Konkurrenz darstelle. Der Sog, den die libysche Wüste künftig ausüben könnte, wird umso stärker sein, als nach 18 Jahren Embargo ein gewisser Nachholeffekt zu erwarten ist.

Das ab 1986 zuerst durch die USA und im Anschluss auch durch die damalige Europäische Gemeinschaft (EG) gegen Libyen wegen des Verdachts der Unterstützung international aktiver terroristischer Gruppierungen verhängte Embargo war in den folgenden Jahren sukzessive verschärft worden. Anlässe dazu waren die vermutete libysche Verwicklung in Flugzeugattentate, etwa gegen eine Panam-Maschine über dem schottischen Lockerbie im Dezember 1988. Ab 1992 wurde das Embargo auch auf den Flugverkehr und andere internationale Verkehrsverbindungen mit Libyen ausgedehnt.

Doch im August 2003 bot die libysche Führung den Hinterbliebenen des Lockerbie-Attentats eine Gesamtsumme von 2,7 Milliarden Dollar Entschädigungszahlungen an. Diese Geste war im Dezember 2003 vom Abschluss eines Abkommens mit den USA und Großbritannien, am Ende neunmonatiger Geheimverhandlungen mit beiden Regierungen, gefolgt. Darin verpflichtet Libyen sich auf den Verzicht auf alle ABC-Waffen und die Offenlegung seiner bisher erworbenen technologischen Fähigkeiten in diesem Bereich. Seit diesem Zeitpunkt wurde Libyen wieder zu einem, wie es so schön heißt, anerkannten Mitglied der internationalen Gemeinschaft: Der UN-Sicherheitsrat hob die von ihm verhängten Strafmaßnahmen gegen Libyen bereits im September 2003 auf, es folgte die Aufhebung der US-Wirtschaftssanktionen am 23. April 2004. Die Europäische Union beschloss am 11. Oktober 2004 durch ihren Ministerrat, die letzten Sanktionen gegen Libyen (eine Lockerung hatte bereits seit 1999 eingesetzt) ad acta zu legen, und annullierte auch gleich noch das Waffenembargo über Libyen. Denn nunmehr ist die Europäische Union selbst brennend an der Belieferung des nordafrikanischen Staates mit High-Tech-Ausrüstung interessiert: Nicht nur, um durch Rüstungsgeschäfte Geld einzunehmen, sondern ebenso, um Libyen durch die Sicherung seiner Mittelmeer- wie auch seiner Wüstengrenzen in das europäische Migrationsregime einzubeziehen.

Einmal mehr deutlich wird, dass es beim Verhältnis der europäischen Staaten zu Diktaturen der so genannten Dritten Welt keineswegs in erster Linie um deren innere Verfasstheit und um die Gewährung demokratischer Rechte für deren Staatsbürger oder Untertanen geht, sondern hauptsächlich um deren Funktionalität aus dem Blickwinkel der nördlichen Großmächte. Ähnliches gilt selbstverständlich auch für die USA, welche durch das Abkommen vom Dezember 2003 Libyen die entscheidende Hilfe bei der Rückkehr in die internationale Staatenfamilie leisteten. Bereits seit dem 11. September 2001 hatte es eine erste vorsichtige Annäherung zwischen Washington und Tripolis gegeben, da nunmehr nach der neuen "Gut-Böse-Definition" der US-Administration der libysche Staatschef Gadaffi auf einmal wieder eher auf der Seite der "Guten" zu stehen schien. Hatte Gadaffi sich doch seit den achtziger Jahren mit einer stärkeren, auch militanten islamistischen Opposition auseinander zu setzen, in deren Reihe zeitweise auch Osama Bin Laden physisch präsent gewesen zu sein scheint. Jedenfalls hatte Libyen, als erstes Land der Erde, im Jahr 1994 einen internationalen Haftbefehl gegen Bin Laden erlassen; dieser soll zuvor an dem Mord an einem deutschen Ehepaar , das mutmaßlich dem Verfassungsschutz oder BND zuarbeitete , im östlichen Teil des libyschen Staatsgebiets beteiligt gewesen sein. Bereits 2001/02 hatte, im Zuge dieser Annäherungspolitik, Libyen der US-Wirtschaft Lieferverträge für Erdöl und Erdgas in Aussicht gestellt, die damals (noch) exklusiv waren.

Weiterhin muss betont werden, dass all diese Entwicklungen nicht parallel zu einer demokratischen Öffnung oder wenigstens Lockerung im Landesinneren des nordafrikanischen Staates einher gingen. Denn Libyens innere Verfasstheit ist heute zweifelsohne wesentlich autoritärer, repressiver und reaktionärer als in den 70er Jahren - auch wenn bereits damals von einer autorität-volontaristischen Führung mit (pseudo-)"revolutionärer" Phraseologie, und sicherlich nicht einem demokratischen Regime, gesprochen werden muss.

Doch was ist das eigentlich für ein Regime, das in Libyen herrscht?

SEIT 35 JAHREN AN DER MACHT

Am 1. September 1969 erklärte eine Gruppe jüngerer Militärs, die sich (nach dem Vorbild des ägyptischen Offizierszusammenschlusses unter Gamal Abdul Nasser, der 1952 den Umsturz in Ägypten durchgeführt hatte) "Bund Freier Offiziere" nannte, den damaligen libyschen König Idris während eines Auslandsaufenthalts für abgesetzt. Die morsche Monarchie brach ohne Widerstände in sich zusammen. Die Offiziere, an deren Spitze Muammer Gadaffi stand, riefen die Libysche Arabische Republik aus und gaben ihr die Leitsätze "Einheit" (im Sinne des Panarabismus, des Zusammenschlusses mit anderen arabischen Staaten), "Freiheit" (gemeint war jene von westlich-imperialistischen Mächten sowie vom sowjetischen Block) und "Sozialismus". Letzterer sollte aber in strikter Abgrenzung vom Marxismus als "spezifisch arabischer Sozialismus im Rahmen der Werte des Islam" verstanden werden.

Unter der Monarchie hatte Libyen erstmals den Beginn einer Entwicklung gekannt, da die Erdöleinnahmen ab den frühen 60er Jahren in die Staatskassen zu fließen begannen. Libyen verdiente im Jahr 1962 noch 86 Millionen US-Dollar am Rohöl, 1963 waren es 423 Millionen und im Jahr 1969 bereits 1.206 Millionen. Doch diese Einkommen blieben in der damaligen Gesellschaft extrem ungleich verteilt: Die politische Macht war noch in den Händen traditioneller Stammesführer, und allein das schmale städtische Bürgertum sah es mit seinen Lebensbedingungen aufwärts gehen. Auf dem Land dagegen herrschten vormoderne Verhältnisse, und die zahlreicher werdenden Landflüchtlingen mussten in Slums am Rande der Städte leben. Zum Zeitpunkt des Umsturzes waren 90 Prozent der Bevölkerung AnalphabetInnen.
Vor allem zwei Faktoren trugen dazu bei, dass sich keine oppositionelle Massenbewegung herausbilden konnte und die vorhandene Opposition schwach blieb: die relative Bevölkerungsarmut des großflächigen Staates, und die Unterentwicklung weiter Landstriche. So ergriffen die jüngeren Militärs als einzige in Frage kommende Modernisierungselite die Macht. Denn wie in anderen Ländern (etwa im benachbarten Ägypten) war eine Armeekarriere für die jungen (männlichen) Abkömmlinge ärmerer Bevölkerungsschichten im Prinzip die einzige Möglichkeit, der Misere zu entfliehen und mit moderner Bildung oder Technologie in Berührung zu kommen. Und so wurde das Militär zum "revolutionären Faktor", der sich als avantgardistisch verstand, sich deshalb freilich nicht weniger autoritär verhielt.

In der Folgezeit lebte die schmale militärische Führungsschicht oder "Avantgarde der Revolution" jedoch stets mit einer tief sitzenden Angst, ihre "Eliminierung" könne zum "Rückfall des Landes" führen. Diese Drohung sah man einerseits mit den USA und Großbritannien verbunden: Tatsächlich hatten beide Länder vor dem Sturz der Monarchie in Libyen bedeutende Militärbasen unterhalten, und zumindest die politische Führung in den USA wollte sich mit den Ergebnissen des Umsturzes nie wirklich abfinden. (Allerdings hatten auch die britischen Erdölkonzerne frühzeitig ihre weitere Präsenz in Libyen ausgehandelt und nahmen eher "mäßigenden" Einfluss auf die britische Politik gegenüber dem Land. Und auch die US-Ölkonzerne wie Exxon zogen sich erst ab 1981 aus dem Land zurück, teilweise aufgrund zu geringer Produktivität und teilweise auf politischen Druck der US-Administration hin, welche die Präsenz sowjetischer Berater im Land nicht gerne sah.) Andererseits fühlte man sich auch von traditionalistischen oder reaktionären sozialen Kräften bedroht. Vor allem aber reflektierte diese ausgeprägte Eliminierungs-Angst die Schwäche der militärischen "Avantgarde" als (dünne) soziale Schicht, auch gegenüber dem Rest der libyschen Gesellschaft. Sie wurde später ursächlich für die Ausbildung einer regelrechten Paranoia des Führungskaders, und vor allem auch Gadaffis selbst.

Gegen den Widerstand einiger seiner militärischen Führungskollegen versuchte Muammer Gadaffi als leitender Kopf deswegen schon früh, den libyschen Staatsaufbau umzuorganisieren und "an die Massen" zu appellieren, um diese "für die Revolution" zu mobilisieren, freilich in einem gegenüber den Absichten der Machthaber konformen Sinne. Eine gewisse materielle Basis dafür gab die nunmehr stattliche Ölrente ab, die der libysche Staat abschöpfen konnte. Im Jahr 1961 hatte das Pro-Kopf-Einkommen der libyschen Bevölkerung noch 50 Dollar pro Kopf betragen, 1971 waren es bereits 1.700 Dollar. Das waren mehr als zur gleichen Zeit in Saudi-Arabien, dem Petrodollar-Staat par excellence, freilich auch aufgrund der geringen Bevölkerungszahl Libyens, das auch heute trotz relativ hohen Bevölkerungswachstums nur rund 5 Millionen Einwohner hat. Der libysche Staat führte eine kostenlose Gesundheitsfürsorge ein, baute massenhaft Schulen und Universitäten und entwickelte die Verkehrswege.

Doch die Massen wollten nicht so richtig, wie Gadaffi wollte, oder zeigten sich nicht hinreichend euphorisch. Die Eliten ihrerseits zeigten passive Widerstände gegen seine voluntaristischen und von der gesellschaftlichen Wirklichkeit reichlich abstrahierenden Projekte. Ihr Unmut steigerte sich spürbar, als Gadaffi Libyen zum "Land aller Araber, vom Atlantik bis zum Golf" erklärte und in seiner panarabischen Euphorie viele ausländische arabische Führungskräfte auf gut bezahlte Experten- oder Leitungsposten im Staatsapparat oder der nationalisierten Wirtschaft hievte (während im Erdölbereich nach wie vor westliche technische Fachkräfte dominierend blieben). Das einheimische Bürgertum und die neu entstehende Technokraten- und Bürokratenklasse fühlte sich dadurch um potenzielle Pfründe gebracht. Gadaffi lancierte so genannte "Basiskonferenzen", auf denen angeblich "direkte Demokratie" praktiziert werden sollte. Auch das gefiel den Mittelschichten, aber auch den oberen Rängen der Armee nicht besonders gut.

Ursprünglich hatten die Machthaber politische Parteien und andere Organisationen (wie Gewerkschaften) verboten, da eine solche mittelbare Demokratie über "intermediäre Repräsentanten" nur Betrug am Volk darstelle. Das politische Ideal Gadaffis basierte auf einem einheitlichen, nicht durch "künstliche Spaltungen" wie etwa Parteien zerrissenen Volk (nicht im Sinne des deutsches Volksbegriffs, sondern im Sinne einer "Menschenmasse" als Subjekt), das sich selbst organisiere. Da aber durch das Verbot politischer Organisationen eine kollektive Willensbildung behindert wurde und andererseits der kollektive Ausdruck dieses Volkes möglichst nicht von jenem des sich für ein Genie haltenden Gadaffi abweichen sollte, war de facto an eine Art permanenter Mobilisierung der Gesellschaft gedacht - worauf diese vorwiegend mit Müdigkeit reagierte.
Um sich die gewünschte soziale Basis "für die Revolution" zu verschaffen, lancierte Gadaffi 1971 die Arabische Sozialistische Union (ASU) als faktische Einheitspartei. Diese zerbrach jedoch bereits ab 1973 wieder an den Widersprüchen auch beispielsweise zu den Führungskadern der Armee. Gadaffi zog sich zwei mal von der politischen Macht zurück, aber nur, um sein "Grünes Buch" (alias "Die dritte Universaltheorie") zu verfassen - um dann "auf Ruf der Volksmassen" hin doch wieder an die Spitze zu treten. Ab dieser Zeit rief Gadaffi die Volksrevolution aus, die über die Partei hinweg gehe und auf der Macht so genannter Volkskomitees oder Basisvolkskongresse beruhe. Die ASU wurde 1976 offiziell aufgelöst.

Theoretisch basierte so die Macht ab Mitte/ Ende der 70er Jahren auf solchen "Volkskomitees", die etwa in den Schulen und Universitäten oder an den Arbeitsstätten mobilisierend wirken sollten und deren Struktur im "Libyschen Volkskongress" gipfelt. Parteien oder ein wirkliches Parlament sind dabei nicht vorgesehen. Auf den ersten Blick sieht diese Struktur, betrachtet man sie auf dem Papier, sogar "basisdemokratisch" aus. De facto jedoch ist die Funktionsweise dieser "Volkskomitees" eng mit dem Versuch einer Militarisierung der Gesellschaft verbunden. So kam es 1979 und 1980 zu Libyen zu Studentenunruhen, weil die Studierenden keine Lust verspürten, ihre Ausbildung durch häufiges militärisches Training unterbrochen zu sehen, wie es Gadaffi vorschwebte.
Neben den "Volkskomitees" wurden ferner so genannte "Revolutionskomitees" eingerichtet, um den ins Stocken geratenen "revolutionären" Prozess wieder in die Gänge zu bringen. Diese gaben sich 1979 unter anderem zur Aufgabe, "Feinde der libyschen Revolution im In- und Ausland zu vernichten". Später verwandelten sie sich faktisch in eine Art Spitzeldienst gegen politische Abweichler. Der Verfolgung abtrünniger Libyer im Ausland dienten in dieser Phase auch die libyschen "Volksbüros", die an die Stelle der Botschaften des Landes treten sollten. Faktisch herrschte eine Art doppelter Machtstruktur vor, mit den "klassischen" Staatsorganen wie Botschaften und Armee auf der einen Seite und den von Gadaffi direkt inspirierten und mobilisierten Grundeinheiten wie "Volksbüros", den diversen Komitees sowie dem Versuch zum Aufbau einer "Volksarmee" andererseits. Letztere sollte der traditionellen Armee zur Seite stehen, die verdächtigt wurde, "potenziell faschistisch" (so Gadaffi), also seine Macht gefährdend, zu sein.

DAS "GRÜNE BUCH", DIE "UNIVERSALTHEORIE" UND DER ISLAM
Die philosophische Grundlage der Machtausübung sollte Gadaffis "dritte Universaltheorie" liefern, die in seinem "Grünen Buch" niedergelegt ist. Diese besteht vor allem aus einer wilden Mischung von sozialistisch klingenden Ideen, nationalistischen Versatzstücken und einer Bezugnahme auf "Prinzipien des Islam" und des Koran. Dabei rezipierte Gadaffi jedoch von der islamischen Religion stets nur, was ihm im politischen Sinne passte; er lehnte erklärtermaßen alle vier Rechtsschulen des Islam (Halafiten, Hanbaliten...) ab und behauptete, sich direkt auf den Koran als höchste Inspirationsquelle zu beziehen.

Dabei scheute er auch vor eigenwilligen Auslegungen nicht zurück. Einerseits waren in Libyen bereits seit der "Revolution" Alkohol, Prostitution, Glücksspiel und andere vom Koran verbotene Dinge verboten. Andererseits sprach Gadaffi aber auch immer in voluntaristischer Weise einer "Gleichberechtigung von Mann und Frau" das Wort, wozu in ihrer konkreten Ausprägung immer auch gehörte, dass Jungen und Mädchen gleichermaßen an der Waffe Dienst tun und eine militärische Ausbildung genießen sollten. Mit diesen Vorhaben eckte Gadaffi 1984 erstmals im Libyschen Volkskongress an: Die vom "Revolutionsführer" eingebrachte Gesetzesvorlage zur Gleichheit von Männern und Frauen wurde mit überwältigender Mehrheit abgeschmettert. Gleichzeitig wurde auch seine Vorlage für die Einführung des allgemeinen Militärdienst für Jungen und Mädchen abgelehnt. Davor hatte es, im November 1983, an der dafür eingerichteten Militärschule Unruhen gegeben: Viele junge Frauen waren gegen ihren Willen dort untergebracht werden. Einige Wochen lang musste die Schule gar ganz geschlossen bleiben, danach wurde sie unter dem Druck von (regimeloyalen) "Gegendemonstrationen" wieder eröffnet.

Materiell konnte das Gadaffi-Regime sich lange Jahre auf die Ölrente stützen, die dafür sorgte, dass die deutliche Mehrheit der Bevölkerung zumindest materiell abgesichert leben konnte - besonders im Vergleich zu den bevölkerungsreicheren Nachbarländern wie Algerien und Ägypten. Anfang der 80er Jahre waren bereits zwei Drittel der libyschen Familien Eigentümer ein eigenen Hauses (nachdem seit 1978 das Privateigentum an Grund und Boden auf ein Haus beschränkt worden war); jede Familie hatte ein Auto, einen Kühlschrank und einen Fernseher. Energie, Treibstoff und auch Grundnahrungsmittel wurden subventioniert, wobei ihr Verkauf in einigen wenigen staatlichen Läden konzentriert wurde.In der Hauptstadt Tripolis etwa gab es Mitte der 80er Jahre ganze fünf Läden, so genannte "Volkssupermärkte". Gleichzeitig war die Bevölkerung atomisiert, von kollektiver Willensbildung ausgeschlossen und durch die von oben eingeforderte Mobilisierung ermüdet und in politischer Hinsicht apathisch.
Doch der Einbruch der Rohölpreise auf dem Weltmarkt, der vor allem mit dem Iran-Irak-Krieg einher ging, ließ die Staatseinnahmen sinken, die zu über 90 Prozent vom Erdöl abhingen, während aller wesentliche Bedarf importiert wurde. 1980 nahm Libyen aus dem Erdöl noch 23 Milliarden Dollar ein, 1981 waren es 16 Milliarden, dann 14 Milliarden (1983), 11 Milliarden (1984) und auf dem Tiefpunkt nur noch 9 Milliarden (1985). Damit knackte es im Gebälk des bisherigen Ölrentenstaats und seines autoritären "Wohlfahrtsmodells". Vor dem Libyschen Volkskongress schlug Gadaffi bereits 1984 als "revolutionäre Maßnahme" die Auflösung der Elementarschulen vor; sie lief faktisch darauf hinaus, die Schulbildung der Kinder ihren Müttern (die damals noch oft Analphabetinnen waren) zu übertragen. Der Grund war schlicht und einfach Lehrermangel: Die Lehrkräfte aus anderen arabischen Ländern hatten Libyen oft aus wirtschaftlichen Gründen zu verlassen begonnen; und die einheimischen (vor allem weiblichen) Lehrerinnen, die frisch aus der Ausbildung kamen, verweigerten oft den Eintritt in den Staatsdienst, da sie sonst den obligatorischen Militärdienst hätten leisten müssen.

INTERNATIONALE SPANNUNGEN DURCH "REVOLUTIONÄRE AUSSENPOLITIK"
In dieser Phase verlegte Gadaffi sich vor allem auf die Außenpolitik, um seine eigenwillige Vorstellung von "Revolution" voran zu bringen. Bereits in den 70er Jahren hatte das libysche Oberhaupt durch seine außenpolitischen Eskapaden auf sich aufmerksam gemacht: Heute kündigte er eine staatliche Vereinigung mit Ägypten an, morgen wurde sie gelöst und Gadaffi schickte "Volksmärsche" an die Grenze, übermorgen stand eine Vereinigung mit Tunesien auf dem Programm... In den 80er Jahren unterstützte Gadaffi dann alle möglichen aktivistischen oder auch terroristischen Gruppen. So soll er zeitweise die irische IRA finanziert haben, um britischen Interessen zu schaden.

Auch die Terrorzelle um den palästinensischen Splittergruppenführer Abu Nidal ("Vater des Kampfes") wurde um 1987 zeitweise in Libyen vermutet. Diese Gruppe hatte sich Mitte der 70er Jahre von der PLO abgespalten und ihr zu große Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft vorgeworfen, nachdem die PLO-Führung unter Arafat ab 1973/74 erstmals ihre Bereitschaft zu erkennen gab, im Falle von Verhandlungen und gegenseitiger Anerkennung auch die Anerkennung der staatlichen Existenz Israels auszusprechen. Im Laufe der Jahre tötete die Abu Nidal-Gruppe nicht allein westliche und israelische Zivilisten, sondern auch hundert teilweise hohe PLO-Funktionäre.
Wirkliche Erfolge mit seiner von anderen arabischen oder nahöstlichen Staatschefs als eher skurril betrachteten Außenpolitik hatte Gadaffi aber kaum zu verzeichnen. Am ehesten gelang ihm das noch auf dem afrikanischen Kontinent, also gegenüber den weitaus ärmeren Nachbarn im Süden. Von 1983 bis 1987 etwa führten Libyen und Frankreich gegeneinander Krieg um die Kontrolle des Tschad. In dieser Zeit entdeckte Gadaffi seine Berufung als "Vorkämpfer für die afrikanische Einheit".

Um dieselbe Zeit geriet Libyen aber auch in das Fadenkreuz westlicher Führungsmächte und insbesondere der USA, aufgrund der mutmaßlichen Beteiligung libyscher Agenten an terroristischen Anschlägen wie jenem auf die Diskothek "La Belle" in Westberlin 1986 und auf das Flugzeug, das 1988 über dem schottischen Lockerbie abstürzte. Im April 1986 bombardierten die USA zum ersten Mal die beiden größten libyschen Städte, Tripolis und Benghazi (circa 150 Tote). Im Januar 1989 folgte ein weiteres Bombardement, das gegen eine maßgeblich von westdeutschen Firmen errichtete Chemiefabrik in Rabita gerichtet war.

Ab 1986 waren auch, zuerst durch die USA und im Anschluss durch die Europäische Gemeinschaft (EG), erste Maßnahmen eines Wirtschaftsboykotts gegen Libyen verhängt worden. Nach den Anschlägen von Lockerbie sowie auf eine französische Verkehrsmaschine und dem damaligen libyschen Beschluss, die mutmaßlichen Teilnehmer an der Attentatsvorbereitung nicht auszuliefern, wurden die Sanktionen gegen das Land verschärft. Den Höhepunkt bildete die Verhängung eines Luftverkehrsembargos, das 1992 in Kraft trat.

DIE 90ER JAHRE: EIN VERSCHÄRFTES KRISENREGIME

In der Folgezeit verschärfte sich das innenpolitische Krisenregime in Libyen. Erstmals sah die Regierung sich einer ernst zu nehmenden innenpolitischen Opposition ausgesetzt: in Gestalt der Islamisten, die vor dem Hintergrund einer drastischen Verschlechterung der materiellen Lebensbedingungen und der politischen Atomisierung der Gesellschaft - die das Entstehen einer säkularen Opposition stark behinderte - erste Ansätze einer gesellschaftlichen Verankerung erreichten. Die islamistischen Gruppen hatten vor allem in der ostlibyschen Cyreneika, wo traditionelle religiöse Bruderschaften wie die Senussi verankert waren, wachsende Bedeutung. 1994/95 kam es in der östlichen Landeshälfte, vor allem der Cyreneika, zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Regimekräften und Anhängern der Islamisten.

In der Folgezeit zog das Regime die innenpolitische Repressionsschraube scharf an. Gleichzeitig aber, als ein weiterer Aspekt der Verhärtung eines Krisenregimes, kündigte der libysche Staat auch eine Islamisierung des Strafrechts an: Künftig sollten Dieben die Gliedmaßen abgehackt werden. Prostitution und Ehebruch sollten nach damaliger Ankündigung mit hundert Peitschenhieben bestraft und die Vollstreckung im Fernsehen übertragen werden. Alkoholkonsumenten sollten nicht nur nach vormodern-islamischem Strafrecht zu Züchtigungsstrafen, sondern, so tönte Gadaffi, "als Spione" zum Tode verurteilt werden können, da sie ja den Alkohol notgedrungen "bei ausländischen Botschaften oder Firmen erworben" hätten. Auch "Ketzern" sollte die Todesstrafe drohen (dies könnte bei entsprechender Interpretation sicherlich auch gegen Islamisten angewandt werden, sofern sie den Qoran für ihre politischen Zwecke zurecht interpretieren). Dies alles verkündete Gadaffi im Juli 1993 in einer vom Fernsehen übertragenen Rede, die er vor Häftlingen gehalten haben soll. (2) Die Ankündigung hatte sicherlich auch symbolische Wirkung; fest steht aber, dass die Scharia-Regeln seit 1994 offiziell in Anwendung sind. (3)

Ein weiterer Aspekt des Krisenregimes war, dass zahlreiche Immigranten abgeschoben wurden, die bis dahin von Libyen gerufen worden waren und die oft die Drecksarbeit (aber nicht nur solche Tätigkeiten) für die indirekt von der Ölrente mit profitierenden Libyer verrichteten. Das richtete sich ab der Periode 1993-95 zunächst vor allem gegen Einwanderer aus anderen arabischen Ländern, namentlich Palästinenser, Ägypter und Sudanesen. Den letzteren beiden Gruppen wurde vorgeworfen, an der Ausbreitung des Islamismus im Lande schuld zu sein. Die Palästinenser wurden nach offizieller Darstellung dafür bestraft, dass die PLO-Führung sich 1993 auf die Aushandlung der Oslo-Abkommen eingelassen hatte. (Von seinem pro-palästinensischen Verbalradikalismus rückte Gadaffi aber in den 90er Jahren ab; im weiteren Verlauf des Jahres redete er zunächst einer etwas abstrakt bleibenden Fusion der israelischen und palästinensischen Nation unter dem Namen "Islatin" das Wort - abgeleitet von der Staatsbezeichnung Israels und dem arabischen Namen Palästinas, Falastin . Noch später betonte er vor allem, dass die arabische Staatenwelt die Technologie und das Entwicklungsniveaus Israels benötige. Heute denunziert er vor allem die Palästinenser, die dem durch ihr Verhalten im Wege stünden.)
Im Sommer 1995 erklärte Libyen seine Absicht, die 30.000 im Lande lebenden Palästinenser auszuweisen; 5.000 wurden zunächst außer Landes befördert, von denen viele als staatenlose Boat People auf dem Mittelmeer herumirrten. Im Anschluss nahm Libyen im Spätherbst 1995 den Ausweisungsbeschluss nach einer Konzertation mit Ägypten wieder zurück. Auch Sudanesen und Schwarzafrikaner, etwa aus Nigeria und dem Tschad, waren in größerer Zahl von Ausweisungen betroffen.

In einer zweiten Phase zog Libyen, nach der Trennung von den arabischen Arbeitsimmigranten, jedoch in den späteren 90er Jahren vermehrt schwarzafrikanische Einwanderer an. Denn irgend jemand sollte ja die Arbeit machen, für die bis dahin permanent etwa zwei Millionen Immigranten unter den fünf Millionen Libyern lebten. Aufgrund der größeren außenpolitischen Erfolge Libyens auf dem afrikanischen Staaten, verglichen mit der Reputation Gadaffis unter arabischen Staatsführern, war die Staatsführung zugleich auch vom leichteren Umgang mit diesen Immigranten überzeugt. Kurzzeitig machte das Regime unter Libyen sogar offiziell Propapaganda für die Heirat mit Schwarzafrikanerinnen, was die Immigranten allerdings in der Bevölkerung keineswegs weniger verhasst machte, eher im Gegenteil. Doch im Herbst 2000 brachen regelrechte Pogrome gegen die Immigranten aus dem subsaharischen Afrika aus, bei denen mindestens 130 Menschen (die Dunkelziffer wird mit bis zu 500 angegeben) getötet wurden. Die Behörden schritten dagegen nicht ein.

Am 8. August 2004 kündigte Libyen dann offiziell an, alle illegal eingereisten afrikanischen Einwanderer abzuschieben. (Bis im Oktober des Jahres scheinen mindestens 40.000 Abschiebungen durchgeführt worden zu sein.) Dieses "Los" traf auch eindeutig aus politischen Gründen emigrierte Flüchtlinge: So sollen an die 2.000 politisch motivierte Flüchtlinge aus Eritrea durch die libyschen Behörden außer Landes geschafft werden. Am 27. August 2004 kam es dabei zur Rebellion einer Gruppe von 78 eritreischen Flüchtlingen, denen bei ihrer erzwungenen Heimkehr die Verhaftung und Folterung drohte, an Bord des Abschiebeflugs. Mindestens 20 Angehörige der Gruppe brachten das Flugzeug in ihre Gewalt und zwangen es zur Notlandung im benachbarten Sudan, wo sie sich den Behörden ergaben. In der sudanesischen Hauptstadt Khartum wurden 15 unter ihnen in den letzten Augusttagen unter Anklage des "Terrorismus" gestellt - ein Begriff, der sich bei allen Staatsmächten der Erde zur Zeit höchster Beliebtheit erfreut.

DIE NEUESTE PHASE: LIBYEN ALS "INTERESSANTER PARTNER"

Der libysche Umgang mit Immigranten könnte in naher Zukunft aus Sicht der europäischen Staatsführungen zu den interessanten Aspekten des Landes gehören. Dabei eifern die EU-Mächte in gewisser Weise dem "Vorbild" der USA nach, die nach dem 11. September 2001 die Vorzüge der Methode entdeckt haben, Gefangene aus ihrem "antiterroristischen Feldzug" notfalls bei verbündeten Mächten inhaftieren zu lassen. Und sei es bei bekannten und bekennenden Folterstaaten wie Ägypten und mit Abstrichen auch Syrien. Warum nicht Libyen? Nur, dass es hier nicht um angebliche oder tatsächliche islamistische Gegner geht, sondern schlicht um unerwünschte Einwanderer, die nicht gefährlich, sondern höchstens gefährdet sind.

Die italienische und die deutsche Politik insistieren in jüngster Zeit auf europäischen Gipfeln besonders auf der Idee, die EU solle "Auffanglager" für Flüchtlinge und Einwanderungswillige auf der Südseite des Mittelmeers, insbesondere in Libyen, errichten. Italien lieferte seinem südlichen Nachbarn und seiner ehemaligen Kolonie bereits Radargeräte, Helikopter, Boote und Jeeps zur Grenzüberwachung - am Mittelmeer wie in der Sahara. Deutschlands Innenminister Otto Schily bläst auf europäischer Ebene weitgehend in dasselbe Horn wie sein italienischer Amtskollege Giuseppe Pisanu. Und der damals noch designierte Kandidat der italienischen Rechtsregierung auf das Amt des Justizkommissars in der Europäischen Kommission, Rocco Buttiglione, leistete sich bei seiner Anhörung vor dem Europaparlament in Straßburg Anfang Oktober 2004 einen tief blicken lassenden Fauxpas: Er sprach von "Konzentrationslagern" in Nordafrika, wo er eigentlich der Errichtung von "Auffanglagern" für unerwünschte Flüchtlinge und Migranten das Wort reden wollte (4).

Dagegen opponierten auf EU-Ebene Frankreich und Spanien, da man es dort für eine effizientere Bekämpfung der "Flüchtlingsströme" hält, die Migrationswilligen gar nicht erst aus ihren Herkunftsländern heraus und so nahe an die südliche Außengrenze der Union kommen zu lassen. So sprachen sich auf der Tagung der EU-Innenminister in Florenz am 17. und 18. Oktober 2004 die Regierungsvertreter aus Madrid und Paris gegen das (vor allem von den deutschen, italienischen und britischen Ministerkollegen verfochtene) Programm der Errichtung von Auffanglagern in Nordafrika aus (5). Die französisch-spanische Linie zeichnet sich einerseits dadurch aus, dass zumindest verbal das Problem der Ursachen, warum Menschen überhaupt fliehen (wollen), und der "Bekämpfung von Fluchtgründen" anerkennen. Andererseits sind diese Regierungen insofern noch restriktiver, als sie die Migrationswilligen gleich noch enger an ihren Herkunftsort binden und sie dort halten wollen, auch gegen ihren mutmaßlichen Willen. Beide Positionen sind primär dadurch motiviert, dass möglichst viele Unerwünschte vom EU-Territorium ferngehalten werden sollen. Insofern kann von einem "Wettstreit um das größere Übel" gesprochen werden.

Die britisch-deutsch-italienische Position ist dabei insofern zynischer und auch pragmatischer, als diese Variante auch die gezielte Rekrutierung "benötigter" und "ökonomisch nützlicher" Einwanderer in dem nordafrikanischen Lagersystem an der EU-Außengrenzen zulässt. So traf der bereits erwähnte Rocco Buttiglione bereits im August 2004, als die italienisch-libysche Kooperation bei der Bekämpfung unerwünschter Migration gerade anzulaufen begann, den italienischen Arbeitgeberverband Confindustria. Es ging dabei darum, die Bedürfnisse der einheimischen Ökonomie an Billigarbeitskräften auszuloten, etwa im Dienstleistungs- und Billiglohnbereich. (6)

Libyen ist der erste Staat, der sich derart direkt in das Migrations- und Sicherheitsregime der Europäischen Union an ihren Außengrenzen einbinden lässt. Weitere Länder dürften folgen. Das libysche Beispiel zeigt somit anschaulich, was all die Lippenbekenntnisse zur Demokratisierung in der arabischen Welt taugen.

Bernhard Schmid ist freier Journalist und lebt in Paris. Dieser Beitrag ist die Langfassung seines Artikels in iz3w Nr. 282, S.7-9

FUSSNOTEN:
(1) Der vor allem in Bremen und früher auch Hamburg tätige Arbeitskreis Süd - Nord, der in Bremen dem dortigen Antiimperialistischen Forum angehört, "pilgerte" beispielsweise des öfteren nach Libyen und zeichnete sich (laut übereinstimmenden Aussagen ehemaliger TeilnehmerInnen) vor Ort durch seine totale Kritiklosigkeit gegenüber den staatlichen Verhältnissen in Libyen aus. Dieselben Antiimp-Hardliner waren auch als größte deutsche Delegation zu einem Kongress in Paris am 15. Mai 2004 angereist, auf dem sich jene Fraktionen versammelt, die (ausdrücklich) "alle Fraktionen des irakischen Widerstands" einschließlich der Djihad-Aktivisten und Anhänger der Baath-Partei unterstützen wollen.

(2) Vgl. "Beil und Peitsche", in: die tageszeitung vom 20. 07. 1993

(3) Vgl. Bruno Callies de Salies: "Oberst Gadaffi in Bedrängnis", in Le Monde diplomatique vom Dezember 1995.

(4) Vgl. "Waffen für Nordafrika", in: www.german-foreign-policy.com, Eintrag vom 11. 10. 2004.

(5) Le Monde vom 19. 10. 2004.

(6) www.german-foreign-policy.com, Eintrag vom 25. 08. 2004.

Literatur zu Libyen (geordnet nach Erscheinungsdatum)

Konrad Schliephake: Libyen, in: Udo Steinbach u.a. (Hg.): Politisches Lexikon Nahost, Beck-Verlag 1979.

Hanspeter Mattes: Libyen, in: Nohlen/Nuscheler (Hg.): Handbuch der Dritten Welt, 6. Band, Hoffmann und Campe, 1983.

Artikel: Libyen Mythos einer Revolution, in: AK (damals Arbeiterkampf, heute Analyse & Kritik) vom 02. Juni 1986. Eine profunde, kritische Analyse des libyschen Herrschaftssystems im damaligen Zustand. Interessant auch die Analyse der libyschen Außenpolitik, unter dem Titel: Gaddafi versinkt... in den Fußstapfen Nassers, in AK vom 05. Mai 1986.

Artikel zur libyschen Strafrechtsreform: Beil und Peitsche, in: die tageszeitung vom 20. 07. 1993.

Bruno Callies de Salies: Oberst Gaddafi in Bedrängnis, in: Le Monde diplomatique vom Dezember 1995 (Datum der französischen Ausgabe).

Artikel: Libysche Jugendliche machen Jagd auf Immigranten, in: die tageszeitung vom 18. 11. 2000.

Artikel: Die Scharia kommt. Gambia will das islamische Strafrecht einführen Teil einer von Libyen unterstützten Islamisierung Westafrikas. In: die tageszeitung vom 30. 12. 2000.

Atlaséco 2003 (jährlich erscheinender Wirtschaftsatlas, herausgegeben durch Le Nouvel Observateur und den ACCOR-Konzern), Kapitel zu Libyen S. 169 und 170.

Bilan du Monde (Wirtschaftlicher und politischer Atlas, jährlich erscheinend, herausgegeben von Le Monde), Edition 2004, Eintrag zu Libyen S. 113.

Artikel: Import Export, erschienen auf http://www.german-foreign-policy.com am 25. 08. 2004.

Artikel: Waffen für Nordafrika, erschienen auf http://www.german-foreign-policy.com am 11. 10. 2004.

Drei Artikel von Reiner Wandler (Vom Schurken zum Partner; Lockruf des Geldes; Asylrecht in Libyen? Fehlanzeige!), erschienen in die tageszeitung vom 14. 10. 2004. Sehr empfehlenswert.

Artikel : La création de camps de réfugiés en Afrique du Nord divise Paris et Berlin, in: Le Monde vom 19. 19. 2004.

Artikel: Le colonel Kadhafi invite son "ami" Chirac sous sa tente, in: Libération vom 25. 11. 2004; und: Chirac repart de Libye réconcilié mais sans enthousiasme, in: Libération vom 26. 11. 2004.

Artikel von Helmut Dietrich zur neuen Rolle Libyens in der europäischen Migrations(abwehr)politik: Die Front in der Wüste, in: KONKRET 12 / 2004. Sehr empfehlenswert.

Libyens Wirtschaftspartner
Als Lieferanten Libyens halten folgende Länder die jeweils angegebenen Marktanteile:

Italien: 27,3 %
Deutschland: 10,8 %
Tunesien: 6,4 %
Britannien: 6,2 %
Japan: 6 %
Frankreich: 6 %

Quelle: Das französische Wirtschafts- und Armeemagazin 'Valeurs actuellesOE, Ausgabe vom 26. 11. 2004.

Die gekürzte Fassung des Artikels ist in der iz3w 282 erschienen.