Außer Atem

Vivil jetzt zivil: Ein Kriegsprodukt feierte 100. Geburtstag

Thema von Jean-Luc Godards Film "Außer Atem" ist der Tod. Der Tod im Hintergrund war einst auch Geburtshelfer des Pfefferminzbonbons VIVIL...

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Thema von Jean-Luc Godards Film "Außer Atem" ist der Tod. Der Tod im Hintergrund war einst auch Geburtshelfer des Pfefferminzbonbons Vivil, das kreiert wurde, damit Soldaten nicht außer Atem gerieten. Im Zivilen wird damit heutzutage und hierzulande immer noch um frischen Atem gekämpft. Inzwischen gingen die Feiern zum 100. Geburtstag (Markteinführung 1903) zuende - daher einige Anmerkungen zu diesem Lehrstück der Design- und Wirtschaftsgeschichte.

Die Wende zum 20. Jahrhundert war von Technikoptimismus erfüllt, Rationalisierung und Massenproduktion machten Waren des täglichen Bedarfs für neue Bevölkerungsschichten erschwinglich. Für den Krieg wurden die Massen mobilisiert und das Töten verwissenschaftlicht. In dieser Zeit kam August Müller-Vivil 1903 auf einem Exerzierplatz die Idee. Von Haus aus Kaufmann, diente er in der 10. Compagnie des Infanterie-Regiments Nr. 126 "Großherzog von Baden" und sehnte sich beim Dienst in Staub und Hitze oft nach einer belebenden Erfrischung. Ein Erfrischungsbonbon, so verpackt, daß es in jede Tasche paßt, schwebte ihm vor. Als Grundsubstanz dachte er an Pfefferminze, deren ätherische Öle Frische bewirken. So brachte er sein erstes Pfefferminzbonbon auf den Markt. Mit einer Französin verheiratet, aus deren Familie der Name Vivil stammt, nannte Müller-Vivil seine Atemrevolution fortan so. Die Assoziation mit dem lateinischen vivere (leben) und dem englischen oil (Öl) - diese Kombination von Altem, Neuem und Supranationalem - war dem frühen Global Player vermutlich nicht unerwünscht: 1909/10 wird bereits nach USA, England, Frankreich, Niederlande und Schweiz exportiert. In raffinierter Verpackung: Das frische Grün der Pfefferminzpflanze und das klare Weiß des Zuckers für den Schriftzug in Versalien und um den Wert hervorzuheben noch goldene Ranken zum schlichten Design. Nahezu unverändert wirkt diese Gestaltung bis heute. "Die Märkte in den neuen Bundesländern werden 1991 systematisch erschlossen", meldet die Firmengeschichte triumphierend - das sozialistische Einheitsdesign der "Goldeck" Pfefferminz-Drops des VEB Leipziger Süßwarenbetriebe (EVP M 0,20) wollte da kein Neufünfländer mehr.

Aber der Reihe nach: Der Kampf um den Elsaß brachte sogar Vivil vorübergehend außer Puste. Denn nachdem 1919 Straßburg französisch geworden war, siedelte der Betrieb im Folgejahr nach Offenburg am Fuße des Schwarzwaldes um. Mit dem Sohn des Firmengründers kam wenig später modernes Marketing. Der Schriftzug prangte bald in Bahnhofshallen und an Litfaßsäulen, aufblasbare Vivil-Stangen schwebten über Ferienorten und Fußballstadien, Anzeigen und Plakate warben für "den frischen Atem, der durch den Körper zieht". In Anzeigenform wurde zu Zeiten, da Leser noch geneigt waren, in der Werbung mehr als nur Schlagworte zu lesen, ausführlich über die Bedeutung des Atems doziert. Und nicht nur Seifenkistenrennen wurden seitdem gesponsert: Seinen ersten Klassen-Sieg erkämpfte Michael Schumacher mit einem Benetton-Rennwagen, der das Vivil-Logo trug - Klassenkampf ganz oben. Mit der Automobilmachung kam Pfefferminz nach Alkoholgenuß im Kampf auf den Straßen als Kriegslist gegenüber den zur Durchsetzung des Straßenverkehrsordnung-Kriegsvölkerrechts auftauchenden Polizisten zum Einsatz.

Vivil versucht, industriegesellschaftlich der Natur auf die Sprünge zu helfen, und so war das Pfefferminzbonbon eine ständige Mahnung, nicht die Leiblichkeit unserer Existenz zu ignorieren bzw. zu verdrängen, wozu insbesondere deutsche Nachkriegslinke neigten (mit Ausnahmen wie Wolfgang Harich, der stets den konservativen Soziologen Arnold Gehlen schätzte). Vor den zwölf Jahren der Herrschaft des National-Sozialismus war das noch anders gewesen. (Und auch während dieser Schreckenszeit geschah Erstaunliches in puncto Atemarbeit, die 1936 im "Reichsinstitut für psychologische Forschung und Psychotherapie" einen institutionellen Ort fand, wo dann, inspiriert durch Richard G. Heyer, den Anfängen einer psychosomatischen Medizin der Weg gebahnt wurde.) Dem Atem galt vor 1933 die Aufmerksamkeit: Daß sowohl die Ehefrau des Sexpol-Kommunisten Wilhelm Reich als auch dessen spätere Lebensgefährtin ebenso Atemlehrerin waren wie die Ehefrau des linken Psychoanalytikers Otto Fenichel oder die Gattin von Erich Fromm, dem Begründer der humanistischen Psychologie und ehemaligen Mitglied des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, ist heutzutage kaum noch bekannt. Sie hatten die Atemkurse von Elsa Gindler besucht, die im Berlin der Weimarer Zeit ein Geheimtip linker Psychoanalytiker und Künstler war. (Dazu lesenswert das Buch der Asthmaforscherin Karoline von Steinaecker: "Luftsprünge. Anfänge moderner Körpertherapien", München/Jena 2000.) Das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch vieldiskutierte Atemthema wurde auf der Linken durch das bekannte Werk Georg Lukács, das nach Theodor W. Adornos bon mot eher "Die Zerstörung der Vernunft" des Autors dokumentiert, in ideologiekritischer Negation der Leibphilosophie und Anthropologie tabuisiert. Nur Husserl-Schüler Herbert Marcuse kritisierte die in der eindimensionalen Gesellschaft geformte "zweite Natur"; und Jürgen Habermas fragte 1973 in seiner Schrift über die "Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus" immerhin nach sozialen Transformationen, welche Aneignung der äußeren Natur in eine Sozialisierung der inneren Natur des Menschen umsetzen. "Wie die Seele, die Luft ist, uns beherrschend zusammenhält, so umfassen Hauch und Luft die ganze geordnete Welt", meinte Anaximenes von Milet und William Shakespeare ließ Königin Gertrude gegenüber ihrem handlungsgelähmten Sohn Hamlet feststellen: "Wenn Worte aus Atem gemacht sind und der Atem Leben ist, so hab ich kein Leben um auszuatmen, was du mir gesagt."

Heute dient Vivil wohl weniger der Erfrischung bei harter körperlicher Beanspruchung (solche Quälerei wandert im Informationszeitalter vom Arbeits- in den Freizeitsektor ab) als vielmehr dem Bodydesign, das innerlich mit Frischebonbons und -kaugummis und äußerlich mit Rasierapparaten für Achseln und Scham den Körper aseptisch, clean, steril und mithin möglichst un-natürlich, unindividuell sowie zu konfektionierter Massenware zu machen trachtet.

Da die Atembewegung ein vom Physiologischen und dem Psychologischen unterschiedenes "drittes Reich", so Helmuth Plessner, darstellt, liegt schließlich noch eine Reductio ad hitlerum nahe. Wie Hitlers Untergang zum Vivil-Aufstieg paßt, verrät Bernd Eichingers gerade in die Kinos gekommenes, die private Seite des "Führers" ausleuchtendes Kammerspiel nicht. Mit dem von italienischen Künstlerinnen favorisierten "Belladonna" soll er sich aufgeputscht haben. Der nach links abtrünnige Nationalsozialist Gregor Strasser berichtete, daß Hitler "Kola Dallmann" aus Wiesbaden (1,20 RM) vor wichtigen Terminen zu sich nahm. Aber ob er auch Vivil lutschte? Seinerzeit versuchte "Dr. Hillers Pfefferminz" den Konkurrenten Vivil auszustechen, und Hillers Bonbons wurden schließlich unter dem Namen "C 30" per Dauerauftrag von der Wehrmacht abgenommen. Als Hitler einmal in der Nähe der Solinger Fabrik bei einer Rede heiser wurde, bekam er eine Kiste Dr. Hillers mit einem von der Belegschaft unterschriebenen Begleitbrief und bedankte sich schriftlich. Solche Geschichten über Vivil wurden zum Hundertjährigen nicht aufgewärmt. Verschwiegen wurde in den Artikeln zum 100. Geburtstag: Auch Vivil gehörte zu den Rationen von Waffen-SS und Wehrmacht, denn deren "Nahkampfpackung", die es bei besonderen physischen Beanspruchungen oder bei Lazarettaufenthalten gab, erhielten auch eine Pfefferminzrolle.