Habermas als autoritärer Charakter / Henscheid als antiautoritärer Frankfurter Schule-Schwänzer

Unorthodoxe Tagung über Theodor W. Adorno in Frankfurt am Main

"Adorno gegen seine Liebhaber verteidigt (und kritisiert)", unter diesem Motto versammelten sich am 31. Oktober und 1. November 2003 nicht-verbeamtete Adorno-Kenner in Frankfurt am Main...

"Adorno gegen seine Liebhaber verteidigt (und kritisiert)", unter diesem Motto versammelten sich am 31. Oktober und 1. November 2003 nicht-verbeamtete Adorno-Kenner in Frankfurt am Main. Nicht im für die Frankfurter Schule legendären Universitätshörsaal VI, sondern im katholischen Kolpinghaus am Allerheiligentor. Aber nicht hier fand statt die Heiligsprechung des Frankfurter Standortfaktors Theodor Wiesengrund Adorno, sondern zuvor bei den längst stattgefundenen Konferenzen verlegener Suhrkamp-Denker, die TWA zu seinem 100. Geburtstag am 11. September nochmals beerdigten, indem sie ihn zum Ästhet und Musikphilosoph verharmlosten.

Wer zu spät kommt, der bestraft die Reden: Und so kredenzten Lorenz Jäger und Michael Rutschky ihre Jubiläums-Spätlese "Was von Adorno übrig blieb". Rutschky studierte ab 1963 bei Adorno und erwarb etwas von dessen "mikrologische Darstellungskraft" (Hans-Jürgen Krahl dixit), wie Rutschkys Reisebuch "Unterwegs im Beitrittsgebiet" zeigt, in dem es heißt: "Das DDR-Großrestaurant wird jetzt von McDonald’s betrieben, dessen apostrophiertes S auch im Beitrittsgebiet zu Verheerungen geführt hat." In Frankfurt lobte Rutschky Adornos Beiträge zur "Entmilitarisierung des Krankenhauses" (durch Aufhebung der strikten Geschlechtertrennung und Flexibilisierung von Besuchszeiten), auch zur "Kulturrevolution in der Schule". Das seien allerdings Probleme von einst gewesen, so daß ihm Adorno-Lektüre heutzutage vorkomme wie "die Hits von ’65, wie die Supremes".

Der Adorno-Cliché-Jäger aus der Geisteswissenschaften-Redaktion der "Frankfurter Allgemeine", dessen soziologischer Blick einst das Studium in der Marburger Schule des Marxisten Wolfgang Abendroth geschärft hat, nahm das politische Engagement Adornos ins Visier. "Der Einfluß Horkheimers und Adornos auf’s Hessische Kultusministerium wäre ein eigenes Buch", meinte Jäger (Autor einer gerade in der Deutschen Verlagsanstalt erschienenen "politischen Biographie" Adornos), der sich "als Schüler des Adorno-Schülers" Heinz Maus vorstellte, an diesen Mitstreiter Abendroths von "chaplinesker Figur" erinnernd: Die französische Abwehr habe Maus nach ’45 in ihrer Besatzungszone ausgeschaltet, nachdem er in der Zeitschrift "Umschau" Exiltexte Adornos veröffentlicht und Kontakte zu einem kommunistischen Offizier hatte. Maus ging in den Osten Berlins an die Humboldt-Universität, wo er mit dem Nationalrevolutionär Ernst Niekisch Imperialismuskurse abhielt, später landete er an der Seite Abendroths in Marburg und gab mit Friedrich Fürstenberg die Reihe "Soziologische Texte" im Luchterhand-Verlag heraus. Zur Illustration von Adornos Liebe zu Deutschland und seinem Leiden an diesem Land verwies Jäger auf den jüngst erschienen, fast 600 Seiten dicken Band mit Adorno-Briefen an die Eltern aus den Jahren 1939 bis 1951. Denen schrieb er am 26. September 1943: "Fast muß man bitten, daß es nicht zu schnell geht, daß nicht ein politischer Zusammenbruch erfolgt, der den Deutschen die offene militärische Niederlage erspart", und er wünschte: "möchten die Horst Güntherchens in ihrem Blut sich wälzen und die Inges den polnischen Bordellen überwiesen werden, mit Vorzugsscheinen für Juden." In seinem Brief vom 1. Mai 1945 liest man: "Alles ist eingetreten, was man sich jahrelang gewünscht hat, das Land vermüllt, Millionen von Hansjürgens und Utes tot."

Unterbelichtet in bisheriger Forschung erschien Jäger der "Kriegseinsatz der Frankfurter Schule". Zwar lägen von Herbert Marcuse (der für Adorno im Mai 1935 im Brief an Max Horkheimer nur ein "durch sein Judentum verhinderter Faszist" war) oder Franz Neumann Schriften für den USA-Geheimdienst inzwischen veröffentlicht vor, nicht aber die Memoranden, die Adorno in Washington D.C. abgeliefert hat. Dieser direkte politische Einsatz für die USA war nicht mit dem Zweiten Weltkriegs beendet. Jäger berichtete, wie ihm im Studium von linken Wissenschaftlern die Universität Marburg in den siebziger Jahren völlig zusammenhangslos eine Schrift Siegfried Kracauers als Grundlagentext kritischer Soziologie vorgelegt wurde, von dem man inzwischen weiß, daß er dessen Interviews mit Ostblockflüchtlingen reflektiert. Nach 1945 erkundeten Kracauer und Leo Löwenthal die Wirkung des Senders "Voice of America", einer Waffe der psychologischen Kriegsführung, auf sozialistische Staaten. Seit 1950, als aus dem Kalten Krieg in Korea ein heißer wurde, übernahm Kracauer Auftragsarbeiten der "VoA". Zusammen mit Paul L. Berkman veröffentlichte er 1956 "Satellite Mentality - Political Attitudes and Propaganda Susceptibilities of Non-Communists in Hungary, Poland and Czechoslovakia". Sogar das "Amt Blank", befaßt mit der Remilitarisierung Westdeutschlands, klopfte bei der Frankfurter Schule mit Beratungsbedarf an.

Nach diesen sehr konkreten Ausführungen ging es hinauf in schwindelnde Höhen der Abstraktion. Koryphäen wie der Altlinke Heinz Brakemeier, der Schriftsteller Martin Mosebach oder der Ex-Maoist und Linke-Analytiker Gerd Koenen lauschten dann dem Wertformanalytiker Hans-Georg Backhaus, der, angereichert mit eigenen Kommentaren und mitunter (unbewußt?) Habermas Redeweise imitierend, die Kritik des Kapitalbegriffslogikers Helmut Reichelt an Jürgen Habermas verlas: Habermurx & PDS wollten "einen gesunden Teil der Gesellschaft vom kranken unterscheiden" - wider Adornos Erkenntnis, kondensiert im Diktum "Das Ganze ist das Unwahre" .

Stefan Dornuf präsentierte sich als "Schüler der Lukács-Schüler Leo Kofler und Wolfgang Harich" und insistierte auf illusionslosem Marxismus: Lukács habe gewußt, "daß die Revolution in jedem Fall Opfer verlangt - und seien es nur stilistische". Dornuf sprach über "Die Heimkehr des marxistischen Maulwurfs Adorno" und dessen Verhältnis zu USA und Deutschland. 1962 konzedierte Adorno als Grund der Rückkehr, auf die deutsche Sprache verwiesen zu sein. Adorno habe es eiliger gehabt, aus Eisenhowers USA wegzukommen als vorher aus Hitlers Deutschland. Dabei erinnerte Dornuf an Widersprüche in Adornos Annahme, daß Hanns Eislers bei der Komposition der DDR-Nationalhymne gescheitert sei. Einerseits galt dessen Musik ihm als falsch, weil der Weltgeist nicht mehr die Komposition einer Nationalhymne erlaube. Andererseits, so zitierte Dornuf Berichte der Gräfin Dorothea Razumovsky, habe Adorno dies im privaten Kreis als Sabotage erklärt, als Ausdruck von Eislers Widerstands gegen das DDR-Regime.

Günter Maschke war der nächste Referent. (Seinetwegen habe die Krisis-Gruppe ihre Teilnahme abgesagt, so Dornuf, die Neue Linke als "legitimen Nachfolger McCarthys" bezeichnete.) Maschke kokettierte damit, ein "kaleidoskopischer Wirrkopf" zu sein, der eigentlich lieber über "Habermas als autoritärer Charakter" referieren würde. Der einstige Bundeswehr-Fahnenflüchtige gen Kuba (vgl. Maschkes "Cubanischer Taschenkalender" im "Kursbuch" 30/1972 sowie dessen 1973 erschienene "Kritik des Guerillero") sezierte die 1950 nur in den USA, erst viel später dann doch noch in der BRD erschienen Studien zum autoritären Charakter ("The Authoritarian Personality") als einflußreichstes, aber schlechtestes Buch Adornos. Das Buch markiere seinen "Tiefpunkt als Intellektueller"; die nur ein Jahr darauf in der BRD erschienenen "Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben" (1951) qualifizierte er hingegen als "nicht genug zu preisende Schrift". Maschke mokierte sich über die legendäre "F-Skala", mit der faschistische bzw. autoritäre Konstitution ermittelt werden sollte. Noch heute werde beispielsweise hierzulande ins Abseits gestellt, wer über Verschwörungen spekuliere. Maschke wetterte gegen "den deutschen Sonderweg des Verbots von Verschwörungstheorien", denn die seien doch "etwas höchst Aufklärerisches", wie schon der Blick in irgendeine Institutsleitung lehren könne. Er warf Adorno vor, in jener Schrift Demokratie und Liberalismus zu verwechselt zu haben, auch sei das, was Erich Fromm ("Die Kunst des Liebens") beim Marktmenschen oder David Riesmann ("Die einsame Masse") beim Außengeleiteten seinerzeit diagnostizierten, soziologisch ergiebiger als Adornos Vermutungen über den "autoritären Charakter" gewesen. Schließlich habe Adorno mit seiner F-Skala auch revolutionäre Charaktere zersetzen geholfen, so Maschke unter Berufung auf ein Friedrich-Engels-Zitat aus dem Jahre 1874: "Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt" ("Von der Autorität", in: Marx/Engels-Werke Band 18). Das führte im weiteren Verlauf der Tagung zu einer Kontroverse Maschkes mit dem ebenfalls - wie immer weiß gewandet -erschienenen Rainer Langhans, der bereits 1967 mit aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund ausgeschlossenen Kommunarden gefragt hatte, was ihn der Vietnamkrieg angehe, solange er Orgasmusschwierigkeiten habe.

Eine merkwürdige Verkehrung üblicher Fronten gab es beim Vortrag "Adorno - Narziß der Negativität" des "bekennenden Konservativen" Winfried Knörzer: Der rechte Referent, stolz darauf, daß er als Arbeiterkind habe promoviert werden können, kritisierte Adorno als Apologeten eines elitären Bildungskonzepts. Dabei bezog er sich auf Adornos "Theorie der Halbbildung" (1959), in der nicht Unbildung, sondern Halbbildung als "Todfeind" von Bildung gilt ("Die Halbbildung geht nicht der Bildung voran, sondern folgt auf sie."). Dies sei, so Doktor Knörzer, eine "verkleidete reaktionäre Gesellschaftskritik", die auch an Adornos "reaktionärer Taschenbuchkritik" deutlich werde. Daß Adorno beispielsweise Rowohlt-Taschenbücher vor Augen hatte, in denen - lange vor dem deutschen Börsenvolkswahn - für Pfandbrief und Kommunalobligation geworben wurde, brachte Dornuf in Erinnerung, und Maschke höhnte über Knörzers Adorno-Kritik, darin stecke der Wunsch nach einem "Adorno als verkappten Hilmar Hoffmann" (dieser Frankfurter Kulturdezernent galt mit seinem Buch "Kultur für alle" als Vordenker sozialdemokratischer Kulturpolitik) mit dem Motto "Schönberg für alle".

Hans-Klaus Jungheinrich, Musikkritiker der "Frankfurter Rundschau", befragte Hans G Helms "Zum Schicksal der Neuen Musik im Spätkapitalismus" und seiner Beziehung zu Adorno. Als Adorno nach Deutschland zurückkehrte, lebte Helms, der als Jude nie wieder in Deutschland hatte leben wollen, in Schweden. Der Komponist Helms erhielt jedoch Arbeitsmöglichkeiten beim Westdeutschen Rundfunk in dessen elektronischem Studio, einem Mekka der musikalischen Avantgarde. Helms lebte seit 1957 in Köln und begegnete in Darmstadt, dem Zentrum der Neuen Musik, Adorno und war "so eine Art Privatschüler über mehrere Jahre". Er wurde von Adorno eingeladen, ein einwöchiges Privatseminar über Max Stirner abzuhalten; seine Hörer waren u.a. Jürgen Habermas, Max Horkheimer, Gerhard Schweppenhäuser, Rolf Tiedemann, - und eine Frau: Gretel Adorno. (1966 veröffentlichte Helms in Köln die 600-Seiten-Schrift "Die Ideologie der anonymen Gesellschaft - Max Stirners ‚Einziger’ und der Fortschritt des demokratischen Selbstbewußtseins vom Vormärz bis zur Bundesrepublik", 1968 edierte er in München Max Stirners "Der Einzige und sein Eigentum und andere Schriften". Trotzdem riet 2003 der in Erfurt lehrende Philosoph Wilhelm Schmid, Helms Stirner-Kritiken unerwähnt lassend, der den Wert des Privateigentums entdeckenden PDS, sich auf Stirner zu besinnen: "Bis heute ein Unruheherd für das marxistische Denken: Max Stirner und sein Buch ‚Der Einzige und sein EigentumÂ’ - Nicht Revolution bringt Freiheit, sondern Selbstmächtigkeit", in: "Neues Deutschland" vom 2./3. August 2003.)

Mit Hörbeispielen aus seiner Komposition "Golem" (1962, eine Auseinandersetzung mit Martin Heidegger) und dem aktuellen "Münchhausen-Projekt" (zur [Vor-]Geschichte der Entwicklung John Cages: Cagliostro und Casanova treffen sich im Zug nach St. Petersburg) erläuterte Helms seine Nähe und seine Differenzen zur aleatorischen Musik sowie zu Adorno, nicht zuletzt auch in Bezug auf den Jazz: Während Adorno, der "nie im Leben Jazz gehört" habe (Helms), diesen ablehnte, war Jazz dem in Mecklenburg geborenen Helms "Musik der Befreiung", die er ab 1944 im US-Soldatensender hörte. (Unerwähnt blieben Adornos Schriften aus der Anfangszeit des National-Sozialismus: Im Artikel "Abschied vom Jazz" gab er im Mai 1933 dem Verbot von "Negerjazz"-Rundfunkübertragungen theoretische Weihen; im Aufsatz "Kritik" fanden im Juni 1934 Chorpublikationen, u.a. nach einem Gedichtband des NS-Jugendführers Baldur von Schirach, Adornos Anerkennung.)

Abgesehen von provozierenden, oft kabarettreifen Zwischenrufen Maschkes, bei denen dessen Wurzeln in der der "Situationistischen Internationale" zuzurechnenden "Subversiven Aktion" der sechziger Jahre aufblitzten, gab es zwei Tage ernsthafter Anstrengungen um den ohne Facelifting junggebliebenen Hundertjährigen. Denn nachdem er einen Tag Vorträge und Diskussionen verfolgt hatte, weigerte sich der Neue-Frankfurter-Schule-Satiriker Eckhard Henscheid antiautoritär, die Textcollage "Adorno - ein (unfreiwillig) komischer Fall" als "bunten Abend" (Veranstaltertext) den kaum zwei Dutzend Teilnehmern vorzutragen und verschwand.

· Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant. Erscheinen sollen sie bei Müller & Nerding, dem Verlag der Harich-Gedächtnisschrift.

(Gekürzt in junge Welt vom 10. November 2003)