Was heißt und zu welchem Ende studiert man Theologie?

Wir dokumentieren wir einen Vortrag, den Wolfgang Ullmann am 28. November 2002 bei einer Veranstaltung des Vereins "Berliner Debatte" gehalten hat. Die Textfassung eigens zu vollenden, war ihm ...

... nicht mehr vergönnt. Wir haben sie möglichst getreu erstellt. Mit unvermindertem Wohlgefallen an der Klugheit des Vortragenden und in dem Gefühl, auf diese Weise seiner gedenken zu können. Die Redaktion Die Kritik der Gottesbeweise beschließt Immanuel Kant in der "Kritik der reinen Vernunft" mit den eindrucksvollen Sätzen, er hoffe gezeigt zu haben, daß man gegen die Theologie einen Prozeß führen mußte, daß der Prozeß nun aber abgeschlossen sei und die Prozeßakten archiviert werden könnten. Einige Jahrzehnte später wird Karl Marx bilanzieren, daß die Kritik der Religion in Deutschland im wesentlichen beendet sei. Beendet vor allem durch Feuerbachs anthropologische Reduktion. Alle Religion sei als Anthropologie entdeckt worden, das häßliche Wort "entlarvt" vermeide ich. Das Thema habe sich erledigt. Die Religionskritik solle zu den Akten gelegt werden. Mit solchen Feststellungen hat der junge Marx in seiner Kritik an Hegels Rechtsphilosophie eigentlich nur den Gedanken wiederholt und verstärkt, der schon bei Kant zu lesen war. Obwohl Kant über Religion erheblich anders dachte als Marx, ist die Stimmungslage bei beiden in etwa die gleiche. Die Akte "Religionskritik" gehört geschlossen. Nun ist es ungemein interessant, zu sehen, wie abermals Jahrzehnte später zwei Philosophen, die alles andere als Theologen sind, plötzlich ein enormes Interesse an Theologie erkennen lassen. Walter Benjamin und Carl Schmitt. Beide fangen in einer bestimmten historischen Situation an, die Theologie nachgerade zu beschwören. Sie tun das ähnlich, wie der aus dem alten Testament bekannte König Saul in seiner Verzweiflung den Schatten des Propheten Samuel anruft. Etwas Gespenstisches hat das an sich. Ein merkwürdiges Bild Was Walter Benjamin betrifft, so kennt man ja den berühmten Schachautomaten, den er erfunden hat. Den Schachautomaten des historischen Materialismus. Im Automaten sitzt eine Puppe, die alle Schachspiele gewinnt. Warum? Weil unten im Kasten heimlich die Theologie eingeschleust wurde. In der ersten seiner Thesen über Geschichte sagt Benjamin sinngemäß: An der Theologie kommt man nicht vorbei, und da sie klein und häßlich ist und sich nicht blicken lassen darf, läßt sie sich auch mühelos unterbringen. Warum sagt Benjamin, an der Theologie kämen wir nicht vorbei, wir brauchten sie doch, und zwar nicht zu irgend-einem Behufe, sondern für den historischen Materialismus? Antwort geben die Thesen, die Benjamin unter dem deprimierenden Eindruck eines Bündnisses zwischen Hitler und Stalin beschrieben hat. Der schwerkranke Benjamin will nach Spanien flüchten, im Gefühl der Verzweiflung darüber, daß die politische Größe, auf die er alle Hoffnung gesetzt hatte, sie werde ein Ende machen mit der Barbarei des Nationalsozialismus - ausgerechnet die verbündet sich nun mit Hitler. In dieser Situation setzt er zu einer Fundamentalkritik des historischen Materialismus an. Ein folgenschwerer Irrtum sei es gewesen zu meinen, wir bewegten uns auf der Bahn des geschichtlichen Fortschritts und brauchten nur zu vollstrecken, was ohnehin geschieht. Er sucht nach einer Alternative zu dem historisch desavouierten Fortschrittsdenken. Und er findet sie beim Messianismus. Messianismus als Rettung und Erlösung der ganzen Welt. Das besagt freilich auch, daß der historische Materialismus eben etwas anderes ist als der bürgerliche Fortschrittsoptimismus, der lediglich versucht, Friedrich Schiller in die Ökonomie und Technik zu übertragen. Weil eine solche Übertragung niemals gelingen kann, wird von Benjamin auf einmal die Theologie herangezogen und beschworen, als Instanz des Messianismus. Was Carl Schmitt betrifft, so erinnere man sich des Titels einer 1922 von ihm publizierten Schrift. "Politische Theologie" lautet er. Ein überaus bezeichnender Titel. Bezeichnend auch Schmitts These, heute sei alles Theologie, mit Ausnahme dessen, was die Theologen von sich geben. Alles sei Theologie, ausgenommen das unzuständige Zeug, das von Theologen stammt. Wie kommt Schmitt, der Rechtphilosoph, der Staatsrechtler, auf die Theologie? Ähnlich wie das später Benjamin tun wird, beschwört er die Theologie aus anderen als aus intern theologischen Gründen. Aus politischen Gründen interessiert sie ihn. Wir stehen in einer weltgeschichtlichen Auseinandersetzung, denkt er, in einer Auseinandersetzung, für die der politische Begriff des Feindes als Kriegsgegner oder als politischer Konkurrent nicht mehr ausreicht. Er denkt da ganz ähnlich, wie das heutigentags aus gewissen Kreisen um Präsident Bush zu hören ist. Man muß einen Feindbegriff formulieren, der den Feind außerhalb der Welt verortet, außerhalb der Kultur, dort also, wo er mit uns nicht mehr auf einem gemeinsamen Boden steht und zu stehen kommen kann. Aber wie läßt sich der Feind derart definieren? Dafür bietet sich ein überliefertes Feindbild an, eines von theologischer Provenienz. Das ist der Begriff des Antichristen. Der Feind, so beschließt Schmitt seine Überlegung, muß wie der Antichrist stigmatisiert werden. Daraufhin gilt es eine politische Theologie zu formulieren. So verlegt Schmitt sich angesichts der Oktoberrevolution von 1917 auf die Theologie. In der Oktoberrevolution erblickte er eine apokalyptische Katastrophe, eine Katastrophe, der sich mit gewöhnlichen Mitteln schwerlich begegnen lasse. Deshalb griff er auf den Begriff des Antichristen, auf Theologie zurück, ein unfehlbar brandmarkendes Feindbild zu mobilisieren. Dabei gedanklich anschließend an die Gegenrevolution nach 1789. Sein Vordenker war ja der spanische Reaktionär Cortez. Ein ganz merkwürdiges Bild zeichnet sich da ab. Auf der einen Seite sehen wir einen Niedergang der Theologie, zumal als wissenschaftlicher Autorität, aber auch als kirchlicher Autorität. Auf der anderen Seite wird die Verschmähte um die Mitte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts innerhalb der politischen Auseinandersetzungen dieser Zeit quasi zum Bundesgenossen erkoren, und zwar von Zeitgenossen, die nichts weniger als Theologen sind. Man muß freilich hinzufügen: In beiden Fällen handelt es sich um eine Theologie ohne Gott. Walter Benjamins Gedanke zielt keineswegs auf irgendeine Lehre über Gott, sondern auf den Messianismus. Und selbst dieser Messianismus ist noch einer ohne Messias. Ähnlich schon bei Carl Schmitt. Nicht der Begriff eines Gottes zieht ihn an, sondern der Begriff eines Gegenspielers, der des Antichristen. Und damit gerät das ohnehin schon merkwürdige Bild, das sich uns darbietet, noch verwunderlicher. Theologie ohne Gott, Messianismus ohne Messias. Derjenige, der solch paradoxe Gedanken längst zu Ende gedacht hatte, ist Friedrich Nietzsche.

Friedrich Nietzsche oder das Paradox einer atheistischen Theologie

Friedrich Nietzsche ist insofern eine, denke ich, weithin noch wenig verstandene Figur. Er hat aus der Philosophie allen Ernstes eine atheistische Theologie gemacht. Das ist ein ganz anderer Atheismus als der bürgerliche. Für den bürgerlichen fand Nietzsche die schärfsten Worte. Anders auch als ein Atheismus im Stile Gottfried Kellers. Erst recht ein anderer als der Atheismus von David Friedrich Strauß, dem Ex-Theologen. Strauß schrieb seinerzeit ein Buch über den neuen Glauben, der sich als ein ganz alter neuer Glaube erwies, als die trockenste, biederste und trivialste Bürgerlichkeit, die sich denken läßt. Man kann es richtig nachfühlen, warum Nietzsche so etwas nicht aushielt, warum er nicht anders konnte, als derlei zu verachten und dem David Friedrich Strauß eine unzeitgemäße Betrachtung zu widmen. Nietzsche verstand unter Atheismus etwas ganz anderes, für ihn war Atheismus die bewußte Absage an Gott. Er hat dafür ein Bild gefunden, ein faszinierendes, ein schreckliches Bild. Im vierten Teil von "Also sprach Zarathustra" wird es gezeichnet: "Der häßlichste Mensch". Da erscheint der Atheismus nicht als eine heitere Emanzipationsbewegung, die dem Erwachen eines heranwachsenden Menschen aus dem kindlichen Glauben an den Weihnachtsmann gleicht. Nein, für Nietzsche ist das eine hochernste Angelegenheit. Deshalb erzählt er in "Die fröhliche Wissenschaft" die berühmte Parabel von dem tollen Menschen, der mit der Lampe herumläuft und sucht und sucht, um schließlich in der Kirche zu landen und ein Requiem auf den verstorbenen Gott anzustimmen. Wie wenig Nietzsches Atheismus mit dem wüsten Milieuatheismus des Bürgertums verwechselt werden will, hat der junge Salvatore Dali gut bemerkt. Dalis Vater vertrat einen fanatischen Atheismus, wie sich das für einen Spanier gehören mag. Und dieser fanatische Atheist empfahl nun dem Sohn, Nietzsche zu lesen. In seinen Memoiren notiert Dali, was ihm bei der Lektüre aufging. "Gott ist tot", las er. Solch einen Satz wollte der Vater ihm ans Herz legen? Das hatte er nicht erwartet. Gott ist tot, das heißt doch immerhin, er ist gestorben, und starb er, so muß er gelebt haben. Gott gibt es nicht mehr, aber es hat ihn einmal gegeben. Keine Imagination, keine Fiktion, kein Opium fürs Volk ist Gott, sondern einer Verstorbener. - Für Nietzsche ist der Atheismus eine überaus schwerwiegende Absagehandlung. An einer Stelle des "Ecce homo" beschreibt Nietzsche die Offenbarung. Er sagt zwar nicht, woher sie kommt und was sie eigentlich sei, aber doch, wie man sie erfährt. Sie überfällt einen, plötzlich empfindet man sich nur noch als Mundstück, bis in die letzten Fasern und Glieder durchströmt sie einen. Das ist abermals so ein Stück atheistischer Theologie. Ganz am Schluß des Textes heißt es: Habt ihr verstanden, worum es geht? Dionysos gegen den Gekreuzigten! Nichts geringeres als ein Gott, der griechische Gott Dionysos, wird gegen den Gekreuzigten aufgeboten. Dionysos gegen den Gekreuzigten, das bedeutet sehr wohl: die dionysische Lebensbejahung gegen die Lebensverneinung des Gekreuzigten. Aber nicht nur, daß diese Lebensbejahung auch nur im mindesten an den flachen Optimismus eines David Friedrich Strauß erinnert - schließlich hat sie eine schreckliche Konsequenz, die ewige Wiederkehr des Gleichen - vor allem stellt sie doch eine göttliche Lebensbejahung dar. Mit diesen Erinnerungen und Verweisen will ich nur zeigen, wie wenig die Akte "Gott" einfach geschlossen worden sein kann. Immanuel Kant meinte, den Prozeß gegen die Theologie abgeschlossen und die Prozeßakte dem Archiv menschlicher Irrtümer übergeben zu haben. Karl Marx meinte, nach Hegel und Feuerbach seien die Theologen eigentlich arbeitslos. Tatsächlich aber ist jener Prozeß wieder und wieder in eine neue Runde gegangen. Immerfort werden neue Aktenstücke beigebracht. Darunter höchst beachtliche Aktenstücke, wie ich sie bei Nietzsche gefunden zu haben meine, Stücke, an denen man schwer vorbeikommt. All das mit Georg Lukács zum Irrationalismus zu erklären, bringe ich nicht übers Herz. Nach dieser Einführung in die paradoxen Hintergründe der Frage "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Theologie?" muß ich sie auch nach allen Regeln der Kunst beantworten. Meine erste Antwort mag unter folgender Überschrift stehen.

Theologie als Wissenschaft

Ich sehe jetzt von allen Instrumentalisierungen der Theologie ab, von den Instrumentalisierungen à la Benjamin und Schmitt genauso wie von allen anderen. Vernutzt werden kann die Theologie genauso wie jede Wissenschaft. Die Möglichkeit, sie zu instrumentalisieren, spricht nicht grundsätzlich gegen sie. Überdies gehöre ich nicht zu den Menschen, die dafür, daß sie dieses Fach zu ihrer Profession erwählt haben, um die Anrechnung mildernder Umstände bitten. Von einer Wissenschaft spreche ich bei der Theologie aus keinem anderen Grunde als dem, daß ich das so sehe. Vielleicht wird meine Behauptung an Plausibilität gewinnen, indem ich deutlich genug hervorhebe, wie wenig die Theologie von den Christen erfunden worden ist. Es gab sie bereits vorher. Der älteste Beleg dafür, das wissen alle Philosophen, findet sich bei Platon, in seinem Werk "Der Staat". Was dort über Theologie zu lesen steht, ist überaus interessant. Im Dialog zwischen Sokrates und Adeimantos entsteht die Frage: Wollen wir über die Götter reden? Wir sind doch keine Poeten, wird zu bedenken gegeben, sind vielmehr, ähnlich einem Städtebauer, mit dem Aufbau eines Gemeinwesens befaßt; wie sollten wir da in eben der Art miteinander reden, in der die Poeten mit ihren Mythen daherkommen? Oder läßt sich auch noch auf eine andere Weise über Gott sprechen? Wenn ja, wie? Wie können wir über Gott sprechen, ohne über Mythen zu sprechen? Das ist der Punkt, wo Theologie als Wissenschaft konzipiert wird. Der bedeutendste Schüler Platons, Aristoteles, hat das Konzept ausgeführt. Wie man anders als auf mythische Weise über Gott spricht, davon handelt das 12. Buch der Physik. Freilich nicht unter dem Titel "Gott" - Aristoteles schrieb in einem atheistischen Milieu - wohl aber unter dem Begriff des unbewegten Bewegers. - All dies wurde im vierten vorchristlichen Jahrhundert geschrieben. Längst gab es Theologie, als die Christen auf den Plan traten. Gewiß kann nicht jeder Art von Theologie vorbehaltlos der wissenschaftliche Charakter zugeschrieben und zuerkannt werden. An dieser Stelle darf ich an eine Art Typisierung von Theologien erinnern, an eine Typisierung, die ein lateinischer Autor zur Lebenszeit des Aurelius Augustinus vorgenommen hat. Ihm zufolge gibt es drei Arten von Theologie: 1) Die theologia civilis. Das ist diejenige, die dem Platon wird vorgeschwebt haben, als er versuchte, ein vollkommenes Staatswesen unter Berufung auf das göttliche Wesen gleichsam zu legitimieren. Religiöse Legitimation eines Staatswesens, das macht die theologia civilis aus. Man darf dabei etwa an die Funktion des Pontifex maximus im alten Rom denken, oder daran, wie der Stadtstaat Athen im alten Griechenland sich auf die Göttin Athene zurückgeführt hat. 2) Die theologia mythica. Das ist die Art, wie die Dichter von den Göttern sprechen. Sie reden eben in einer mythischen Weise über die Götter. Denken wir zum Beispiel an Homer, an all die Beschreibungen von aparten Beziehungen zwischen jeweils einzelnen Akteuren des Trojanischen Krieges und jeweils einzelnen Göttern, die ihnen beigestanden haben oder solchen Beistand zu hintertreiben versuchten. 3) Schließlich die theologia philosophica. Worin besteht das Besondere dieser Theologie? Bei jeder Aussage, die sie macht, reflektiert sie zugleich, ob man so über Gott überhaupt reden kann. Sie macht Aussagen nur unter der Bedingung, daß die Aussagen unter der Frage reflektiert werden, ob das die Art ist, in der sich über Gott angemessen reden läßt. Erst diese Theologie verdient recht eigentlich, eine Wissenschaft genannt zu werden. Ich möchte behaupten, Paulus und Johannes sind bereits Theologen im wörtlichen und wissenschaftlichen Sinne des Wortes. Wie gesagt, Theologie gab es schon, bevor die Christen ihre Wirksamkeit zu entfalten begannen. Aber als sie damit begannen, haben sie die Theologie verändert. Gerade zu jener Reflexion, die für die theologia philosophica typisch ist, steuerten sie grundsätzliche Einsichten bei. Sie hatten die Einsicht, daß die Rede von Gott nicht in der Weise möglich ist, die den vorchristlichen und nicht alttestamentlichen Autoren unbedenklich schien. Die haben nämlich Theologie auf eine recht einfache Weise definiert. Theologie sei das Nachdenken oder die Rede über Gott. Dagegen erheben die Propheten, die Vertreter der alttestamentlichen Überlieferung, Jesus und schließlich Paulus und Johannes fundamentale Bedenken. Die Theologen, die aus der biblischen Überlieferung herkommen, sagen: Man irrt sich, wenn man meint, Theologie sei ein Reden über das Gottsein, über die Gottheit. Warum? Ein Reden über Gott kann es strenggenommen gar nicht geben, weil es in bezug auf Gott keine Metasprache gibt noch geben kann. Die Reformatoren werden das Jahrhunderte später immer wieder erklären, erläutern, herausstreichen: Wir können überhaupt erst theologisch denken, wenn wir uns klarmachen, daß wir nicht über Gott reden, sondern angesichts Gottes, nicht über ihn, sondern angesichts seiner. Dabei handelt es sich in der Tat um eine ganz eigentümliche Diskursform. Die Reformatoren lehren keineswegs, Gott würde über sich selbst dieses oder jenes sagen, und wenn wir über ihn sprechen, dann hätten wir das und das zu sagen. Statt dessen begeben sie sich in eine Art Dialog mit ihm. Sie antworten ihm, statt sich über ihn zu ergehen. Denken wir nur an den Propheten Jesaja, wie er da im Tempel aufwärts sieht und von Gott die Säume seines Mantels erfühlen kann und plötzlich den Ruf hört: Wen soll ich senden? Und wie er zu verstehen sucht, zu antworten versucht. Da eröffnet sich ein Dialog. Dieser Dialog hat gewiß eine objektsprachliche Dimension, aber die macht vor Gott halt. Der kann unmöglich zu einem Redegegenstand namens Gott herabgesetzt werden. Natürlich kann einen niemand daran hindern, eine Rede über Gott zu halten. Rein sprachlich bleibt es freilich möglich, über Gott zu sprechen. Und die alttestamentlichen Autoren tun das auch, ausgiebig sogar; es fragt sich aber, ob sie dann nicht einfach Literaturwissenschaft statt Theologie betreiben. Jemand, der bei Jesus denken gelernt hat, oder bei Paulus, Johannes und den Kirchenvätern, der ist sich darüber im klaren, daß die theologische Rede ein Reden in Realpräsenz Gottes ausmacht. Sinnfällig erinnert daran eine Sitte der Juden. Wenn sie den Namen Gottes in den Mund nehmen, pflegen sie ihrem Gedanken die stehende Wendung einzufügen: "Gepriesen sei sein Name." Sie tun das in dem sicheren Gefühl, das angesprochene Wesen unmöglich zum Gesprächsgegenstand herabsetzen zu können. Sie wollen sich nicht an ihm vorbeischleichen, wollen angesichts seiner sprechen, in einer lebendigen Beziehung mit ihm - "Gepriesen sei sein Name". Es gibt einige Stellen in der Heiligen Schrift, an denen besonders eindringlich deutlich wird, wie wichtig es den Autoren war, die rechte Art, von Gott zu reden, zu finden, und wie sie mit einem vertrackten und doch eingängigen sprachlichen Ausdruck diese Art zu treffen suchten. An einer Textstelle, wo es um die Berufung Mose geht, findet sich ein auffälliger Beleg dafür. Mose wird von Gott zu den Israeliten gesandt, die in Ägypten Sklavenarbeit verrichten müssen. Aber wie soll Mose vor den Israeliten von Gott sprechen? Die werden ihn fragen: Wie heißt der, der dich schickt? Was soll ich ihnen antworten?, fragt Mose Gott. Darauf antwortet dieser ihm mit einem Satz, der es wahrlich in sich hat: "Ich, der ich immer da sein werde, schickt mich." (Exodus 3, 14) Der hebräische Satz, den ich so übersetze, ist derart konstruiert, daß er sich in andere Sprachen kaum übertragen läßt. Gleichviel, ob man ihn so wie eben vorgetragen oder etwas anders überträgt, in jedem Falle spürt man, für wie wichtig das Problem der angemessenen Rede von Gott gehalten worden sein muß, damit man nach solchen Sätzen suchen wollte. "Ich, der ich immer da sein werde, schickt mich." Unbedingt sollte eine vergegenständlichende Ausdrucksweise und eine Metasprache vermieden werden. Später wird Plotin an eben diesem Satz Anstoß nehmen. In der zweiten Hälfte des nachchristlichen Jahrhunderts ist der Satz bereits Gegenstand der philosophischen Diskussion. Plotin kritisiert ihn im hellenistischen Geiste: Wie sollte Gott überhaupt reden können? Das höchste Seiende sei doch das Sein, und das redet nicht, das denkt nicht einmal. An dieser Stelle wird überdeutlich, welch gewaltiger Abstand zwischen der griechischen Tradition einerseits und der biblischen Tradition des Alten und Neuen Testaments andererseits besteht. Deutlich genug mag auch geworden sein, daß die vorchristliche Weise, von Gott zu sprechen, nämlich über ihn, nicht einfach fortgeschrieben werden konnte. Es galt eine angemessene Rede auszubilden - in Realpräsenz Gottes zu sprechen, angesichts seiner zu sprechen, coram deo. Und es fragt sich nun, wie die Grammatik solcher Rede näher beschaffen ist.

Wahre und falsche Religion

1. Die erste Grundregel dieser Grammatik besteht in einer gewissen Disjunktion, in einer bestimmten Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf, die jenseits der christlichen Theologie unüblich ist, die es ansonsten gar nicht gibt. Deshalb kann sie auch leicht mißverstanden werden. Sie wird mißverstanden, wenn man sich unter dem Schöpfungsgedanken eine Art Kosmologie vorstellt. Am besten wurde die in der christlichen Theologie gemeinte und für die Grammatik ihrer Rede fundamentale Disjunktion von Schöpfer und Geschöpf durch Luther ausgedrückt. Was bedeutet es, fragte er, wenn ich sage, daß ich an Gott und den allmächtigen Vater, den Schöpfer des Himmels glaube? Das bedeutet, so antwortet er, ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen. Man sieht, damit ward alles beiseite geschoben, was das Mißverständnis auslösen könnte, diese Lehre von der Schöpfung sei eine Art Kosmologie. Der christliche Schöpfungsgedanke als Kosmologie, das ist nun wirklich völlig daneben. 2. Eine weitere Grundregel besteht in der ähnlich schwerwiegenden Disjunktion von wahrer und falscher Religion. Es gibt falsche Religion. Und die Theologie existiert auch zu dem Zweck, wahre Religion von falscher unterscheiden zu können. In unserer Zeit sind plötzlich die Scientologen aufgetaucht mit der Behauptung, sie seien eine Kirche. Welch großen Ärger hat das bei den Kirchen hervorgerufen. Sie rufen nach der Polizei, nach einem Verbot. Statt zu zeigen, daß die Vereinigung der Scientologen nur fälschlicherweise von sich behaupten kann, eine Kirche zu sein. So zu reagieren, ist keine Theologie, sondern Ratlosigkeit. Statt Prozesse zu führen, hätte Theologie klipp und klar aufzuzeigen, warum die Scientologen gerade nicht das sind, als was sie sich darstellen. Dazu gibt es die Unterscheidung von wahrer und falscher Religion und eine Wissenschaft, die diese Unterscheidung vollzieht. 3. Ferner, und das ist eine der ganz großen Leistungen auch der altkirchlichen Theologie, die Absage an den Dualismus und den Skeptizismus. Der Dualismus ist eine Gesinnung, die heutigentags wieder heftig gepredigt wird. Dualismus predigen jene, die vom Reich des Guten und des Bösen sprechen. Man kennt die Politiker, die solche Redensarten allenthalben im Munde führen. Die Einteilung der Menschheit in ein Reich des Guten und ein Reich des Bösen, das ist etwas, das es nach christlicher Theologie nicht gibt. Zwar ist im Neuen Testament gelegentlich vom Reich des Bösen die Rede, aber wie, in welchem Sinne? Wie von einem besiegten Reich! Die Kirchväter werden nicht müde, zu erklären, daß dieses Reich vorbei sei. (Wenn ich höre, wie George W. Bush seinen Soldaten verkündet, sie seien dabei, die Menschheit zu retten, dann kann ich als Christ und Theologe nur sagen: das ist Blasphemie. Die Welt ist gerettet, und sie wurde gerettet lange bevor Herr Bush solch gottlose Reden zu führen anhob. Das will ich an dieser Stelle wenigstens in Klammern vermerkt haben.) Nicht minder als dem Dualismus steht christliche Theologie dem Skeptizismus entgegen. Bekanntlich stellte der Skeptizismus in der Spätantike eine überaus einflußreiche, um nicht zu sagen, eine beherrschende Philosophie dar. Augustinus hat mit ihr polemisiert. Namentlich in seiner Streitschrift "Contra academicos". Den Skeptizismus zu widerlegen, wird von vielen Philosophen für unmöglich gehalten. Wie schwer es ist, die typisch skeptizistischen Argumente zu entkräften, wußte Augustinus sehr wohl. Er hat aber ein Argument gegen den Skeptizismus vorgebracht, das meines Wissens bis heute nicht widerlegt ist. Ihr Skeptiker, so argumentiert er, mögt recht damit haben, daß wir unsere Urteile so lange zurückhalten müssen, wie wir sie nicht beweisen können, wie es uns noch an Beweisen für sie fehlt. Allein, ihr verwickelt euch sofort in Widersprüche, wenn ihr nicht zugebt, daß wahre Aussagen wirklich möglich sind, daß es wahre Aussagen gibt. Das könnt ihr nicht bestreiten. ansonsten müßtet ihr aufhören zu reden. Wenn ihr behaupten wollt, daß es auch nicht eine einzige wahre Aussage gebe, dann müßtet ihr sogar diese Eure Behauptung für unwahr halten. In Wirklichkeit, fährt Augustinus fort, gibt es unendlich viele wahre Aussagen. Denn ich kann zu einer wahren Aussage auf der metasprachlichen Ebene sogleich eine weitere wahre Aussage bilden, indem ich sage: "Diese Aussage ist eine wahre Aussage." Und zu dieser schon metasprachlichen Aussage kann ich in der gleichen Weise eine weitere wahre Aussage formulieren. Und so weiter und so fort. Auf diese Weise lassen sich zu Recht unendlich viele wahre Aussagen erzeugen. Darin scheint mir ein nicht zu entkräftendes Argument zugunsten der Wahrheit zu liegen. Die Kirchenväter selbst waren der Meinung, daß sie ein noch viel gewichtigeres Argument gegen den Skeptizismus vorzubringen haben. Dabei handelt es sich um die Lehre vom Subjektcharakter der Wahrheit. Was das meint, kann man am ehesten ersehen an folgendem Spruch aus dem Johannesevangelium: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben." (Joh 14, 6) Die Wahrheit ist nicht etwas, sondern jemand. Eine Aussage, die ich gerne mit einem Gedanken Platons vergleichen möchte. Platon hat einmal sinngemäß gesagt: Der Vorgang der Erkenntnis läßt sich nicht schriftlich fixieren. Warum? Weil wir ihn nicht abbilden können. Wir können ihn lediglich vollziehen. Was damit zusammenhängt, daß er die Gestalt eines Blitzes hat. Wir haben die Wahrheit nicht, schon gar nicht wie den sprichwörtlichen Stein des Weisen in der Tasche; wenn überhaupt, so vollziehen wir Wahrheit, und zusammen mit ihr vollziehen wir uns. So in etwa versteht sich die Lehre vom Subjekt der Wahrheit. Im übrigen, das darf nicht unterdrückt werden, haben die Kirchenväter mit Nachdruck die Meinung vertreten, vernünftig und unumgänglich sei es‚ in die Theologie die Logik aufzunehmen - wegen des unüberbrückbaren Gegensatzes zum Skeptizismus, wegen des Subjektcharakters der Wahrheit. Die Logik ist ein Teil der Theologie. Wobei der theologische Diskurs freilich stets die trinitarische Voraussetzung einhalten muß und durchgängig den Grundfehler zu vermeiden hat, von Gott wie von einem Objekt zu sprechen. Als ein wissenschaftlich theologischer Diskurs jedenfalls ist er keineswegs damit befaßt, von Gott in irgendeiner Objektsprache zu handeln.

Eine normative Wissenschaft

Mit den vorstehenden Aussagen habe ich implizit bereits eine Behauptung aufgestellt, der gemeinhin heftig widersprochen wird, die Behauptung nämlich, daß die Theologie zu den normativen Wissenschaften gehört. Die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion, die ich für besonders wichtig halte, ist offenkundig eine normative. Und ich halte gar nichts von der verbreiteten Redensart, mit der nämlichen Unterscheidung würde ein Absolutheitsanspruch erhoben werden, zumal von Christen, von Theologen, bei denen solch ein Anspruch besonders anstößig anmute. Nein, mit jener Unterscheidung wird nicht nur kein Absolutheitsanspruch gestellt, es wird überhaupt kein Anspruch erhoben. Was wahr ist, ist wahr. Und diese Feststellung beansprucht nicht die Wahrheit, sie spricht sie schlicht und einfach aus. Wenn ich sage, zwei mal zwei ist vier, dann spreche ich eine Wahrheit aus, statt Wahrheit zu beanspruchen. Analog im Falle einer Theologie, die normative Aussagen macht. Statt Wahrheit zu beanspruchen, spricht sie Wahrheit aus. Freilich macht sie sich damit beweispflichtig. Und selbstredendend muß sie dann theologische Beweise vorbringen, statt sich zum Beispiel auf die Naturwissenschaften herauszureden, nur weil die Naturwissenschaften in Sachen Wahrheit eine besondere Autorität zu besitzen scheinen. Wer normative Aussagen macht, hat auch die Beweislast zu tragen, muß den Beweis antreten, und zwar zu den Bedingungen, unter denen nicht irgendwelche, sondern eben theologische Normative formuliert werden. In einer gesellschaftlichen Situation wie der unsrigen und heutigen ist es sogar dringend erforderlich, daß man in dieser Sache ehrlich ist und darum auch offen sagt: die Theologie gehört zu den normativen Wissenschaften. Meines Wissens gibt es vier normative Wissenschaften. Als erstes will ich die Mathematik nennen. Die Mathematik geht normativ vor, indem sie vor allem ausmacht, was gleich und was ungleich ist. Wozwischen besteht eine Gleichung, und wozwischen besteht keine Gleichung? Nicht die Zahlen bilden das große Geheimnis, das die so normative Mathematik lüftet, sondern das Gleichheitszeichen. Was ist gleich und was ungleich, was identisch und was nicht identisch? - um diese Frage gruppiert sich die Normativität der Mathematik. Sie unterscheidet sich darin durchaus von den Naturwissenschaften, die größtenteils keine normativen, sondern deskriptive Wissenschaften darstellen. Es gibt natürlich im Unterschied zu den normativen auch die deskriptiven Wissenschaften. Deskriptiv ist die Physik, deskriptiv auch die Chemie. Als eine weitere normative Wissenschaft ist die Rechtswissenschaft zu nennen. In ihrem Falle leuchtet es wohl noch am ehesten ein, daß es normative Wissenschaft gibt. Man heißt sie eine Wissenschaft, und diese Wissenschaft ist mit Recht und Unrecht befaßt, was offenkundig eine normative Leistung darstellt. Ferner finden wir unter den normativen Wissenschaften die Soziologie. Bei der Soziologie handelt es sich insofern um eine normative Wissenschaft, als sie nach der Struktur unseres Handelns fragt. Denn darin eingeschlossen ist, daß sie auch nach den Strukturen jenes Handelns fragt, das zerstörerische Wirkungen zeitigt und eben darum unzulässig ist. Insoweit geht sie normativ vor. Und schließlich die Theologie. Worin besteht die Normativität der Theologie? Sie besteht in einer bestimmten Weise, über die Qualität unseres Handelns zu urteilen. In welcher Weise urteilt die Theologie über die Qualität des Handelns? Auf diese Frage hat Luther eine wunderbare Antwort gegeben: Nicht auf moralische und metaphysische Weise, sagt er, sondern auf eine spirituelle. Nicht in der Weise der Moral und der Metaphysik betrachtet die Theologie unser Handeln, sondern auf spirituelle Weise. Welche Qualität hat unser Handeln spirituell? Danach fragt sie. Und das Fragen nach der spirituellen Qualität des Handelns will nicht verwechselt werden mit einer Beurteilung vom Standpunkt der Kirche. Ebensowenig will die Frage nach der spirituellen Qualität des Handelns mit einer Beurteilung der Religiosität von Menschen verwechselt werden. Religiosität spielt im Spirituellen eine enorme Rolle, aber das Spirituelle umfaßt viel mehr. Und es interessiert auch nicht allein die religiös Gebundenen. Von welchem Geiste das Zusammenleben der Menschen ist, von welcher spirituellen Qualität es ist - diese Frage beschäftig eigentlich alle Menschen. Keineswegs beschäftigt die Frage allein die Gläubigen oder nur die Christen oder lediglich deren Theologen. Ob Menschen sich für Atheisten halten oder sich zu einer Religion bekennen, ob sie der einen oder der anderen Religion anhängen, die Spiritualität unseres Lebens bewegt sie alle.

Spiritualität

Es gibt ein Wort des Heraklit, das meines Erachtens die ganze Bedeutung der Spiritualität in einem Satz auf den Punkt bringt: "Dem Menschen ist sein Ethos der Dämon" (SV 22B 119). Mit diesem Aphorismus scheint mir Heraklit exakt die spirituelle Dimension unseres Handelns getroffen zu haben. Ich will das an einem trivialen Beispiel verdeutlichen. Man kennt die Seligpreisung, bei der Jesus sagt: "Selig sind die Armen, denn ihnen gehört das Reich Gottes." Im Matthäus-Evangelium wird der Gedanke mit einem Zusatz versehen, den niemand so recht zu übersetzen weiß und von dem ich meine, er will als ein Hinweis darauf verstanden werden, die Armut einmal in der spirituellen Dimension zu gewahren. Betrachtet man nun die Armut in der spirituellen Dimension, fällt es einem wie Schuppen von den Augen. An dem Verhalten einer Gesellschaft zu den Armen läßt sich mühelos der spirituelle Zustand dieser Gesellschaft ablesen. Schauen wir nur genau hin, wie man sich im christlichen Abendland zu den Armen verhält. Nicht genug, daß sie aus Bahnhöfen und städtischen Bahnen verjagt werden, sie werden vom Vorplatz des Kölner Domes vertrieben! Was für ein Geschichtszeichen. Wie heißt es dagegen im Neuen Testament, wo sei - nach dem Zeugnis der Apostel - der Platz der Armen? An der schönen Tür des Tempels möge er Platz nehmen, dort wo die meisten Leute vorbeigehen, nicht an der Ecke des Tempels, wo ihn niemand sieht. An der schönen Tür sitze der Bettler - das ist der spirituelle Zustand der Gesellschaft zur Zeit der Apostel im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Und was ist der spirituelle Zustand unserer Gesellschaft im einundzwanzigsten nachchristlichen Jahrhundert? Die Vertreibung der Armen vom Kölner Domplatz. Mit Fragen wie dieser befaßt sich nach meinem Verständnis die Theologie. Ihr Forschungsgegenstand ist eben nicht Gott, in bewußter Abweichung von Platon und Aristoteles gesagt. Ihr Forschungsgegenstand ist in der Tat nicht Gott, sondern unsere Situation, die freilich coram deo, angesichts Gottes. Als junger Mann habe ich einmal die Frechheit besessen, und daran wäre meine Promotion fast gescheitert, folgenden Satz im ersten Teil der Dissertation niederzuschreiben: "Philosophie ist die Lehre vom Sein, Theologie ist die Lehre vom Leben." Was den ersten Teil des Satzes betrifft - Philosophie als Lehre vom Sein - so würde ich ihn heute wohl etwas anders formulieren, was aber den zweiten Teil betrifft - Theologie als Lehre vom Leben - so ist das nach wie vor meine Überzeugung. Die Theologie hat die Aufgabe, auf die Frage zu antworten: Was ist der (spirituelle) Zustand unseres Lebens, unseres Handelns und unserer Welt? Das unterscheidet die Theologie von allen anderen Wissenschaften, daß ihr Forschungsgegenstand die Gesamtwirklichkeit bildet, genauer gesagt: die gesamte Wirklichkeit als eine, in der ich stehe, die ganze Wirklichkeit, so wie ich darin stehe. In der Konsequenz bedeutet das zum Beispiel: Wer sich mit Schopenhauer zum Pessimismus bekennt, verhält sich damit als Theologe, und wer sich zum Optimismus bekennt, wie das der große Leibniz tat, verhält sich damit ebenfalls als Theologe.

Universität und Theologie

Für die Idee der Universität ist die Theologie bis auf den Tag unentbehrlich. Die Theologie ist nichts geringeres als die Stifterin der Universität schlechthin und überhaupt. Man erinnere sich, wie die Universität historisch entstand. Sie ging daraus hervor, daß die Theologie nicht mehr an Klosterschulen und Kathedralschulen betrieben wurde, sondern außerhalb dieser Schulen. Das ist hauptsächlich das Werk eines kühnen Neueres namens Petrus Abaelardus. Der große Franzose lehrte Dinge, die für seine Zeitgenossen so unselbstverständlich waren, daß er allenthalben Streit bekam. Als er zum Beispiel seine Lehrtätigkeit an der Kathedralschule von Laon aufnahm, dauerte es nicht lange, bis er sich mit seinem Lehrer, dem Bischof Anselm von Laon, überwarf. Anstoß erregte vor allem sein Streben nach einer Art Formalisierung der Theologie. Er gehört zu den bedeutendsten Figuren der Geschichte der Logik und war um eine bewußte logische Durchgestaltung der Theologie bemüht. Heute läßt sich leicht herausstellen, wie sehr er damit der wissenschaftlichen Theologie zugearbeitet hat, seine Zeitgenossen indes nahmen daran größtenteils Anstoß. Wohin er kam, wurde er alsbald vertrieben. Aber weil seine Studenten ihn unbedingt hören wollten, folgten sie ihm von Ort zu Ort. Zuletzt versammelten sie sich in einer Siedlung bei der Stadt Melun. Dort wurde die Idee der Universität geboren. Die Versammlungen von Studierenden und Lehrenden, die zunächst unter freiem Himmel, später auch in Gebäuden stattfanden, ließen eine Gemeinschaft entstehen, die man "Universitas" nannte. Man nannte sie so nicht deshalb, weil sie vielleicht eine Gesamtheit der Wissenschaften repräsentiert hätte. Der Begriff der Universitas verstand sich urtümlich in einem, wie wir heute sagen würden, soziologischen Sinne. Eine bestimmte Gemeinschaftlichkeit von Lehrenden und Lernenden hat man darunter verstanden. Jeder der Beteiligten konnte Lehrender in einem Fach und zugleich Lernender in einem anderen Fach sein, wie auch Lernender und Lehrender im gleichen Fach. Diese Gemeinschaft der Lernenden und Lehrenden, das ist die urtümliche Idee der Universität. Das kennzeichnet auch die mittelalterliche Universität, daß man durchaus Professor in der einen Fakultät und gleichzeitig Student an einer anderen Fakultät sein konnte. Und was man in dieser Form von Gemeinschaftlichkeit betrieb, das war natürlich die Theologie. Aus der neuen Gemeinschaft gingen schließlich wie aus einer Keimzelle die berühmte Sorbonne, die Universität von Oxford, die Universität von Salamanca usw. hervor. Es entstanden Gemeinschaften aus Lehrern und Lernenden, die mit Theologie nicht irgendwie, sondern unabhängig von den Bischöfen, unabhängig auch vom Papst befaßt waren. Zwar haben sie sich gern in den Schutz von Bischöfen und Päpsten begeben, was im Mittelalter ja unumgänglich war, aber sie vermochten dabei doch weitestgehend ihre Unabhängigkeit zu bewahren. In den Kollisionen ihrer Zeit haben sie diese Unabhängigkeit wieder und wieder verteidigt und bekräftigt. So zum Beispiel in dem berühmten Streit um die Physik des Aristoteles. Es gab eine Zeit, da war die Physik des Aristoteles für die westeuropäischen Gelehrten ein Buch, das sie bis dahin nicht kannten, ein brandneues Buch sozusagen, und vor allem das modernste Buch über Physik. Als dieses Buch an den noch jungen Universitäten plötzlich auftauchte, wurde vor allem sein Dissens mit der Bibel wahrgenommen. In vielen Punkten stimmt es mit der Heiligen Schrift nicht überein. Die Kurie hat darauf zunächst mit Untersagungen reagiert. Aristoteles, vor allem aber die Physik des Aristoteles, dürfe nicht behandelt und gelesen werden. Aber dieses Verbot hat sich nie durchsetzen können. Durchgesetzt hat sich die Unabhängigkeit der Universität und zusammen mit ihr Aristoteles, auch und gerade in der Theologie. Darin besteht ein historisch besonders wichtiger Gesichtspunkt, der für die Theologie spricht. Weil die Theologie eine Wissenschaft ist und es schon damals war, weil sie wissenschaftlich betrieben werden mußte und dazu der Unabhängigkeit bedurfte, deshalb hat sie jene unabhängige Stätte gestiftet, die wir seitdem "Universität" nennen. Historisch ist sie die Keimzelle der Universität. Ohne diese geschichtliche Leistung der Theologie läßt sich übrigens auch die Reformation schwerlich vorstellen. Wie hätte sich die Reformation vollziehen können sollen, ohne ihren Ausgang an der Universität zu nehmen, an einer Stätte, die der päpstlichen Weisung entzogen war? Friedrich der Weise avancierte zum Förderer der Reformation, als er 1502 die Universität Wittenberg gründete, an der Professoren die Bibel nach bestem Wissen und Gewissen auszulegen vermochten und darauf bestehen konnten, daß ihre Auslegung frei von päpstlicher Bevormundung bleibt. Mit der Herrlichkeit der Theologie war es schlagartig vorbei, als die Universität neuen Typs entstand. Sie entstand in Gestalt der Humboldt-Universität. 1810 geschah das, hier in unserem schönen Berlin. Die Universität neuen Typs ist zweifellos durch den Geist der Philosophie Fichtes geprägt. Aber der eigentliche Erfinder der neuen Universitätsverfassung von Berlin war nicht ein Philosoph wie Fichte. Das wäre unter den damals gegebenen Verhältnissen auch schwerlich möglich gewesen. Der Erfinder der Universitätsverfassung war Schleiermacher, der Theologe. Schleiermacher hatte sich durchgesetzt gegen Fichte. Fichte war viel zu revolutionär, um unter den Verhältnissen seiner Zeit eine solche Karriere zu machen. Schleiermacher ließ sich auf einen Kompromiß ein, den er auch gar nicht zu verhindern suchte, weil er ihm als ein weiser Kompromiß erschien. Er stimmte dem Zeitgeist darin zu, daß nicht mehr die Theologie als die oberste und erste Fakultät gelten könne, daß dieser Rang vielmehr der Philosophischen Fakultät gebühre. Begründet hat er das mit einer überaus folgenreichen These. Mit der These nämlich, die Theologie besitze keinen eigenen Zugang zur Wahrheit. Heute würde man eine solche These sicherlich ein wenig anders formulieren. Aber der Zustand von Universität und Theologie in unserer Zeit ist der gleiche. Es ist, wenn man so will, der "Schleiermachersche Zustand". Und darin liegt, wie ich glaube, einer der Gründe für die mittlerweile unübersehbare "Kleinhaltung" der Theologie, für die heute so unverkennbare Häßlichkeit der Theologie. Freilich kann ich dies nicht einräumen, ohne sogleich anzumerken, daß die zeitgenössische Philosophie nach meiner Meinung der Theologie an Kleinheit und Häßlichkeit in nichts nachsteht. Die alte Universität, mit der Theologischen Fakultät als Kernstück, hat sich über Jahrhunderte bewährt, hat sich vor allem in der Epoche der Reformation bewährt, aber im Gefolge des deutschen Idealismus ist sie für immer vergangen. Die neue Universität hat obsiegt. Aber auch sie taugt nicht für die Ewigkeit. Ich denke, wir brauchen abermals einen neuen Typ von Universität. Wir brauchen eine Universität, in der die normativen Wissenschaften - und zwar alle vier und im Verbund - den Herzschlag des geistigen Lebens bestimmen. Und es ist meine Überzeugung, daß dazu mehr geschehen muß als eine Uni-Reform. Dazu bedarf es einer ganzen Reformation des Universitären. Und dazu obendrein einer Reformation der Kirche, die uns endlich der absurden und anachronistischen Zersplitterung der Konfessionen enthebt. Prof. Dr. Wolfgang Ullmann †, Theologe und Kirchenrechtswissenschaftler aus: Berliner Debatte INITIAL 15 (2004) 4, S. 92-102