Gesetzlose Zone

Der Fall Cap Anamur - ein antirassistisches Tagebuch

Der Fall Cap Anamur hat in diesem Sommer die unmenschliche Realität an der EU-Südgrenze öffentlich gemacht. Für die Mainstream-Medien ist das längst kein Thema mehr.

Denn es ist ein scheinbar abgeschlossener Fall: 36 der 37 Flüchtlinge aus verschiedenen afrikanischen Ländern, darunter Sudan, wurden nach Ghana und Nigeria abgeschoben. (vgl. ak 486) Alessandra Sciurba aus Palermo, Aktivistin von Laboratorio Zeta und Rete Antirazzista Siciliana, hat über die (letztlich erfolglose) Unterstützung der Cap-Anamur-Flüchtlinge durch italienische AntirassistInnen ein politisches Tagebuch geschrieben, das nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Alessandra Sciurbas Bericht beginnt am 11. Juli. Einen Tag später werden die 37 Flüchtlinge in dem Hafen von Porto Empedocle an der Südküste Siziliens an Land gebracht. Während Elias Bierdel und der Kapitän der Cap Anamur in Polizeihaft genommen werden, kommen die Afrikaner in das Aufnahmezentrum San Benedetto. Später wird die Gruppe geteilt: 14 werden nach Rom gebracht, einer "kooperiert" mit den Behörden (was immer das heißen mag), 22 bleiben im Aufnahmezentrum von Agrigento (Südsizilien). Bierdel und der Kapitän der Cap Anamur werden am 16. Juli aus der Haft entlassen. Seit der Landung der Cap Anamur in Porto Empedocle demonstrieren AntirassistInnen für das Recht der Flüchtlinge, in Italien Asyl zu bekommen. Schnell wird ihnen klar, dass der "Fall Cap Anamur" Sache des Innenministeriums in Rom ist, das mit dem örtlichen Polizeipräsidium in ständiger Verbindung steht. Erst fünf Tage nach der Landung haben die 22 Flüchtlinge erstmals Kontakt mit Anwälten. Neben Alessandra und Ilaria vom neugegründeten Antirassistischen sizilianischen Netzwerk (Rete Antirazzista Siciliana) gehören auch zwei Politiker zu der Delegation: der Stadtrat Peppe Caccia aus Venedig und Sandro Metz, Regionalrat in der norditalienischen Provinz Friuli. Hier beginnt Alessandra Sciurbas Bericht:

Samstag, 17. Juli

Wir gehen hinein, und das Herz schlägt uns bis zum Hals. Zum ersten Mal sind wir alle zusammen. Die Anwälte verlangen, mit den Jungen allein zu sprechen. Es ist schwer, die Polizei davon zu überzeugen, dass jeder das Recht hat, allein mit seinen Anwälten zu sprechen. Mit viel Mühe setzen wir durch, dass wir mit den 22 Asylsuchenden allein bleiben dürfen. Als das endlich erreicht ist, sind wir in dem Container zusammengepfercht: die 22, die drei Anwälte, Ilaria und ich. Die Gesichter der Flüchtlinge sind kaum zu beschreiben. Niemand schaut uns ins Gesicht. Sie haben uns auch kaum gegrüßt. Ich fange an zu reden, ihnen zu erklären, dass ich gut verstehe, wie verloren sie sich vorkommen, dass sie meinen müssen, niemandem mehr vertrauen zu können, aber dass sie uns jetzt vertrauen müssen, dass das ihre letzte Chance ist. Dass wir Freunde sind. Nicht alle verstehen Englisch. Die Sudanesen mit nur wenigen Jahren Schulbildung haben es in ihrem Land nicht gelernt. Also übersetzt Ilaria ins Arabische, was ich gerade gesagt habe. Aber das hilft wenig. Alle bleiben verschlossen und schweigen. Bis endlich einer von ihnen Ilaria und mich erkennt. Auf Englisch fragt er mich, ob ich nicht auf der Mole in Porto Empedocle gebrüllt habe, als sie ankamen. Er erinnert sich, uns gesehen zu haben, als die Polizei uns gewaltsam von ihnen fern hielt. Er spricht mit den anderen in einer Sprache, die weder Englisch noch Arabisch ist. Dann übersetzt jemand ins Arabische. Ihre Gesichter verändern sich. Sie sehen Ilaria und mir in die Augen, etwas löst sich in ihnen. Sie wollen uns anhören. Sie sagen, dass sie es gut finden zu hören, dass wir dort draußen sind, wenn wir die Musik laut stellen und sie sich erinnern, dass es ein Draußen gibt und dass es Musik gibt. Schließlich sprechen die Anwälte und erklären, dass sie Vollmachten brauchen, um ihnen beizustehen, dass sie ihre Freilassung und Asyl beantragen werden und dass sie sie nicht allein lassen werden. Aber zuerst stellen sie uns eine grauenvolle Frage, die uns verstehen lässt, was sie in den vergangenen Tagen durchgemacht haben. Einer von ihnen fragt mich auf Englisch, ob ihre 14 Freunde noch am Leben sind oder ob die italienische Regierung sie schon umgebracht hat. Die Anwälte beschließen zu gehen, Ilaria und ich wissen nicht so recht, aber Caccia und Metz wollen allein "ein bisschen Legalität wiederherstellen". So gehen wir denn, während die zwei Politiker mit dem Polizeipräsidenten diskutieren. Außerhalb des Zentrums gehen die Proteste weiter. Die Leute von Rete Antirazzista besetzen symbolisch einen Seitenflügel des Zentrums, der keine Verbindung mit dem Teil hat, wo die Flüchtlinge inhaftiert sind. Man lässt uns machen. Denn drinnen haben sie anderes zu tun. Zehn Minuten später erreicht uns aus dem Inneren des Zentrums ein Anruf von Sandro Metz: "Ich bin in einem Polizeiauto eingesperrt, ich bin verletzt, sie bringen mich weg ..." Aus dem Tor des Zentrums kommen drei Polizeiwagen, drinnen sind Caccia und Metz. Wir versuchen sie aufzuhalten, werden aber wieder weg gedrängt. Nach ein paar Minuten noch ein Anruf: "Ich bin`s, Sandro. Sie haben uns auf die Straße gesetzt, ich blute." Die Leute von Rete Antirazzista bringen sie ins Krankenhaus. Zwei Kommunalpolitiker von den Ordnungskräften verprügelt und dann auf die Straße gesetzt, das ganze unter Aufsicht eines stellvertretenden Polizeipräsidenten, der inzwischen befördert wurde. Und die 22 drinnen. Immer noch drinnen. Schiffbrüchige, Asylsuchende, die Gemeinden in ganz Italien aufnehmen wollen, bleiben eingesperrt. Es wird Nacht, und wir bleiben immer noch draußen.

Sonntag, 18. Juli

Die Situation bleibt blockiert. Wir sind immer noch draußen. Sie sind immer noch drinnen. Die 14 sind weit weg in Ponte Galeria (Rom). Erklärungen und Dementis über das Los aller 36 wechseln sich ab; der 37. ist in Racalmuto (Sizilien), als "erster migrantischer Pentito" ("reumütiger Kronzeuge") der Geschichte.

Montag, 19. Juli

Ein weiterer Morgen vor dem Zentrum. Jetzt sind wir wirklich erschöpft, aber das zählt nicht. Wir sprechen weiter mit den Flüchtlingen, wir draußen, sie drinnen, mit Hilfe der Musik und einem Mikrofon. Wir haben einen Generator, und wir sprechen ihnen laufend Mut zu, so weit wir können. Immerhin wissen wir jetzt, dass sie uns hören. Am Nachmittag kommen die Anwälte wieder. Wir verlangen erneut, eingelassen zu werden. Die Anwälte müssen mit ihren Mandanten reden, wie das Gesetz es vorsieht. Im übrigen ist jetzt, von drei bis fünf Uhr nachmittags, Besuchzeit. Man sagt uns, dass heute niemand hinein darf. Die Anwälte zeigen ihre Vollmachten, zitieren das Gesetz, aber vergeblich. Der Rechtsstaat existiert nicht vor und hinter den Toren des Zentrums. Schließlich kommt ein Anruf aus dem Polizeipräsidium. Die Anwälte dürfen hinein, um mit den 22 Flüchtlingen zu sprechen. Aber die Besuchszeit ist fast um. Wir gehen hinein. Nur die beiden Anwälte und ich als Übersetzerin. Die 22 Flüchtlinge sind noch erschöpfter, aber froh, uns zu sehen. Sie umarmen mich. Sie sagen den Anwälten, dass sie erneut von einem "black man" befragt worden seien. Er wollte aber nur etwas hören über ihre Reise und über die Deutschen. Sie sagen, dass sie raus wollen, und fragen, warum sie noch immer eingesperrt sind und was aus ihnen wird. Wir wissen keine Antwort. Wir sind genauso traurig wie sie. Während wir gehen, hoffen wir, sie bald wiederzusehen. Wir werden sie nicht mehr wiedersehen. Draußen geht die Besetzung weiter, und ich gehe wieder an meinen Platz zu meinen GenossInnen. In der Nacht werden fünf der 14 aus Ponte Galeria nach Lagos in Nigeria gebracht.

Dienstag, 20. Juli

Nichts. Wir bleiben. Wir draußen, sie drinnen. Aber am Nachmittag klingelt mein Handy. Es ist Issa, einer der 22, der von innerhalb des Zentrums anruft. Ich hatte ihnen einige Telefonnummern gegeben für den Notfall. Aber dies scheint kein Notfall zu sein, sondern eine gute Nachricht. "Alessandra, wir sehen dich bald wieder, wir kommen bald raus. Schwester Alina - wir erfahren später, dass es sich um eine gewisse Elena von der Kooperative handelt, die das Zentrum verwaltet - hat uns Zettel unterschreiben lassen." Er liest mir auf Englisch vor, was sie unterschrieben haben. Es ist ein Dokument, das ich kenne. Es ist die Ablehnung der Zentralen Kommission für die Anerkennung des Flüchtlingsstatus, aber unten steht die Empfehlung an das Polizeipräsidium, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsgenehmigung auszustellen. Ich lasse mir den Text noch einmal vorlesen. Ich wiederhole ihn laut für alle Anwesenden, darunter der Jurist Fulvio Vassallo, der bestätigt, was ich schon wusste: Einem Dokument dieser Art folgt üblicherweise die Anerkennung aus humanitären Gründen. Aber ich habe Angst. Ich sage den Flüchtlingen, dass es sicher eine gute Nachricht ist, aber dass sie verlangen sollen, ihre Anwälte zu sehen, und dass sie absolut nichts mehr unterschreiben sollen außer in Anwesenheit der Anwälte. Dennoch schöpfen wir neue Hoffnung. Den ganzen Abend kümmern wir uns darum, die Bürgermeister ausfindig zu machen, die den Flüchtlingen Gastfreundschaft angeboten hatten, damit wir die genauen Adressen auf die Aufenthaltsgenehmigungen setzen können. Wir wollen keine weiteren Hindernisse, die Flüchtlinge sollen nicht wegen bürokratischer Probleme nur eine Minute länger eingesperrt sein. Um Mitternacht ist alles fertig. Wir warten nur noch darauf, dass sie die Flüchtlinge freilassen. Ein bisschen besserer Stimmung beschließe ich, mal wieder in einem Bett zu schlafen. Aber um zwei kommt ein Anruf von den GenossInnen, die bei der Besetzung geblieben sind: "Wieder ein Bus ... komm schnell ..."

Mittwoch, 21. Juli

Noch vor sechs Uhr am Morgen, vor unseren ungläubigen und verzweifelten Augen und nachdem wir weggetragen worden sind, bringt ein anderer Bus sie weg - obwohl sie eine Empfehlung der Kommission haben, sie, die nicht alle Englisch verstehen, weil einige aus dem Sudan kommen, die nur raus wollten und endlich die Gesichter ihrer italienischen FreundInnen sehen, die draußen für sie Musik spielen. Es ist schwer, nicht zusammenzubrechen. Es ist schwer, nicht zu weinen. Aber wir dürfen nicht aufgeben. Zehn von uns springen in zwei Autos. Per Telefon erfahren wir, dass der Bus Richtung Catania fährt. Auf dem Flughafen von Catania angekommen, beschließen wir, den Check-in der Alitalia zu blockieren. Wir sind wenige, nur etwa zehn. Wir wissen, dass die, deren Existenz schlicht geleugnet wird, mit dieser Linie nach Rom gebracht werden sollen. Wir können nichts anderes tun. Von den Reisenden, die einchecken wollen, ist niemand gegen uns. Zwei Frauen schließen sich uns für kurze Zeit an. Kein Polizist erscheint, um uns wegzudrängen. Schließlich, gegen zehn, geben sie zu, dass die 22 tatsächlich da waren, aber dass sie schon nach Rom geflogen sind. Wir sind zu müde um zu begreifen, dass sie uns noch einmal hereinlegen. Erst später erfahren wir, dass das Flugzeug erst eine Stunde, nachdem wir weinend den Flughafen verlassen haben, abgeflogen ist. An diesem Punkt weiß niemand mehr, was vor sich geht. Innenminister Pisanu erklärt im Fernsehen etwas, von dem wir, besser als alle anderen, wissen, dass es nicht wahr ist: 31 Männer aus Ghana und sechs aus Nigeria seien an Bord der Cap Anamur gewesen; deshalb würden alle abgeschoben. Es besteht kein Zweifel, dass laut Gesetz nicht nur Menschen aus dem Sudan politisches Asyl beantragen können. Es besteht kein Zweifel, dass die Maßnahmen zur Inhaftierung und bei den Verhören der Flüchtlinge völlig ungesetzlich waren. Es besteht auch kein Zweifel an der Gewalt, mit der die Anwälte konfrontiert waren, die die Legalität wieder herstellen wollten und erst über das Fernsehen vom Schicksal ihrer Mandanten erfahren haben. Alessandra Sciurba, Palermo Übersetzung: Js. Von der Misshandlung der Flüchtlinge auf dem römischen Flughafen Fiumicino haben Alessandra Sciurba und ihre MitstreiterInnen nur in Andeutungen erfahren. Auch Issa, der nach seiner Abschiebung mehrmals aus Ghana angerufen hat, spricht nicht darüber. Eines Tages will er noch einmal versuchen, Italien zu erreichen, von dem er nur eine schöne Erinnerung hat: die an Alessandra und Ilaria. aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 489 / 19.11.2004