Das Ereignis und sein Versprechen

Derrida, die Dekonstruktion, der Marxismus

So kurz nach seinem Tod über Jacques Derrida zu schreiben, findet einen ersten Anhalt immerhin darin, dass sich Derrida selbst wiederholt zum Tod, zum Tod anderer und ...

... zu seinem eigenen, kommenden Tod geäußert hat, zuletzt im August dieses Jahres, im Interview mit Le Monde: "Ich lasse ein Stück Papier da, ich gehe, ich sterbe." Er hat über den Tod seiner engsten Weggefährten gesprochen, die alle vor ihm starben, ihn als ihren Letzten zurückließen, er hat zum Tod immer auch als Philosoph und immer wieder als politischer Intellektueller gesprochen. In besonders ergreifender Weise anlässlich der Ermordung des südafrikanischen Kommunisten Chris Hani, 1993, auf einer Konferenz, die unter dem zweideutigen Titel "Whither Marxism?" stand, was mit "wohin geht der Marxismus?", aber auch mit "verschwindet der Marxismus?" übersetzt werden kann. In diesem Nachruf besteht Derrida darauf, dass das Leben wie der Tod eines jeden Menschen zu "einzig" sind, um darüber in "einer Rhetorik der Fahne oder des Martyriums" sprechen zu dürfen, auch wenn das schon hunderte, ja tausende Male getan worden ist und immer wieder getan wird. Dann aber schreibt er: "Und dennoch. Und dennoch, dies im Gedächtnis behaltend (...) erinnere ich daran, dass es ein Kommunist als solcher gewesen ist, ein Kommunist als Kommunist, der von einem polnischen Emigranten und seinem Komplizen - sie alle die Mörder Chris Hanis - vor wenigen Tagen, am 10. April, getötet wurde. Die Mörder haben selbst erklärt, dass sie es auf einen Kommunisten abgesehen haben (...), genau in dem Moment, in dem er beschloss, sich von neuem einer kommunistischen Minderheitspartei voller innerer Widersprüche zu widmen und auf hohe Ämter im ANC zu verzichten." (1) Derrida bittet seine ZuhörerInnen deshalb um die Erlaubnis, seinen Vortrag trotz der eigenen Vorbehalte dem ermordeten Kommunisten Chris Hani als einem Kommunisten widmen zu dürfen.

Den Marxismus radikalisieren?

Als erste Fassung seines noch im selben Jahr veröffentlichten Buchs Marx' Gespenster gedenkt dieser Vortrag nicht nur Chris Hanis, sondern der historischen kommunistischen Bewegung und mit ihr des Marxismus. Das Buch bezeugt, was Derrida unter Denken verstand: der Spur von etwas zu folgen, das einem jetzt, wie man so sagt, "zu denken gibt", obwohl es im Augenblick dieses Denkens nicht mehr oder noch nicht gegenwärtig, also kein Objekt ist, dessen sich ein denkendes Subjekt in zweifelsfreier Gegenwart vergewissern könnte. Die derart flüchtige Gabe des Zu-Denkenden anzunehmen heißt dann, ihr, der abwesenden, verschwundenen, verschwindenden Sache des Denkens, die Treue zu halten, ihr einen Ort der Ankunft zu bereiten. Derrida hat sein Denken der "Dekonstruktion" deshalb als Denken der Gastfreundschaft bezeichnet und diese Gastfreundschaft ausdrücklich und gerade dem Marxismus gewährt: "Die Dekonstruktion hat, zumindest in meinen Augen, immer nur Sinn und Interesse gehabt als eine (...) versuchte Radikalisierung des Marxismus." Präzisierend schränkt er an derselben Stelle ein: "in der Tradition eines gewissen Marxismus, in einem gewissen Geist des Marxismus." Der Einschränkung in Bezug auf den Marxismus folgt per Fußnote die Einschränkung in Bezug auf die Radikalisierung: den Marxismus zu radikalisieren, bedeutet nicht, "noch weiter in die Tiefe der Radikalität, des Fundamentalen oder des Ursprünglichen (Ursache, Prinzip, Arche) fortzuschreiten, noch einen Weg in dieselbe Richtung zu tun." Statt dessen will die Dekonstruktion, will Derrida den Marxismus dort radikalisieren, wo sein "Schema des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen (...) Fragen erfordert, (...) die in dem, was die sich marxistisch nennenden Diskurse beherrscht, nicht oder nicht hinreichend ins Werk gesetzt werden." (2) Radikal sein, so Marx selbst, "ist die Sache an der Wurzel (lat. radix, T.S.) fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst." (3) Bald schon war sich Marx da nicht mehr ganz so sicher, schien sich ihm "der Mensch" doch theoretisch wie praktisch im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verlieren. Die Gesellschaft sollte dann aber über ihr eigenes "Schema des Fundamentalen, des Ursprünglichen oder des Radikalen", also über das Schema der Wurzel (radix) verfügen - das Schema, man weiß es, von Basis und Überbau. "Basis" ist ein griechisches Wort und meint den "Ausgangspunkt" als den im Schritt, im Voranschreiten, im Fortschritt betretenen Boden, also einen Sockel, ein Fundament. Dem Marxismus war die Basis allerdings kein Unbewegtes, in sich Ruhendes, im Gegenteil, sie war der Ausgangspunkt des prozessierenden Widerspruchs, der weltgeschichtlichen Dialektik. Radikal zu sein, an die Wurzel zu gehen hieß, dieser Dialektik zu folgen, sich ihr zu fügen, um sie voranzutreiben. Beides, den Menschen als Wurzel des Menschen und die Basis (und mit ihr den Überbau) als Ausgangspunkt der historischen Dialektik, setzt Derrida einer Befragung, d.h. einer Dekonstruktion aus, um den Marxismus über sich hinauszutreiben, nicht durch eine tiefere Verwurzelung, sondern umgekehrt durch seine Entwurzelung.

Widerspruch und Ereignis, neue Internationale

Etwas einer Befragung auszusetzen kann dazu führen, denken, sagen, schreiben zu müssen, dass es das Befragte gar nicht gibt, jedenfalls so nie gegeben hat oder wenigstens jetzt so nicht mehr gibt, dass es vielleicht "nur" ein Spuk, ein Gespenst war. Ernst wird das nicht nur, aber doch besonders im Feld der Politik, der politischen Praxis wie der politischen Theorie. Immer wieder hat Derrida unterstrichen, dass die dekonstruktiv-radikalisierende auch eine politische Bewegung ist, eine Bewegung, die zum Bruch mit dem verpflichtet, was in den alten, jetzt hinfälligen Fundamenten des Marxismus verwurzelt war und mit ihnen hinfällig wurde: Klasse, Partei, Staat, Internationale. In seiner den Marxismus radikalisierenden Befragung des Schemas von Basis und Überbau ist Derrida sehr weit gegangen, und er hat dabei - trotz und wegen der "Einzigkeit" seines Denkens - seine Weggefährten gefunden, die man wie ihn selbst des "Postmodernismus" oder "Poststrukturalismus" gerühmt oder verklagt hat: Gilles Deleuze, Michel Foucault, Felix Guattari, Jean-François Lyotard. Mit der Ausnahme Lyotards haben sie alle diesen Ruhm oder diese Klage zurückgewiesen und sich statt dessen, Lyotard eingeschlossen, zu Marx bekannt, mit Derrida wohl präziser: zu einer gewissen Tradition, einem gewissen Geist des Marxismus. Einem Marxismus, der ohne Basis oder jedenfalls ohne einen alles bestimmenden "Grund-" oder "Hauptwiderspruch" auszukommen suchte, und der gerade darin - doch wieder ein Wurzel-Wort, ein radikales Wort - seinem "ursprünglichen" Interesse treu blieb: dem an der radikalen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Derrida, Deleuze, Foucault, Guattari, Lyotard haben je in ihrer einzigen Weise zu denken versucht, dass und wie radikal umwälzende Praxis sich am "Ereignis", besser: in einem Gewimmel, einem Würfelspiel von Ereignissen orientieren, zurechtfinden muss, wenn sie nicht länger nur einen ihr vorgegebenen Widerspruch austragen, wenn sie ohne Basis, ohne Wurzel, ohne eine "letzte Instanz" gewagt werden muss. Für Derrida ist ein Ereignis das, was jetzt "im Kommen" ist, dem jetzt die Ankunft zu bereiten, Gastfreundschaft zu gewähren ist: die kommende Demokratie, der kommende Kommunismus. Damit meinte er nicht eine Demokratie oder einen Kommunismus der Zukunft: Utopien haben ihn, wie jede MarxistIn, die sich ernst nimmt, nie interessiert. Denn "im Kommen" ist nicht, was einst sein könnte, sondern was uns jetzt für sich verpflichtet, uns schon in Verantwortung genommen hat, uns das Versprechen der Gastfreundschaft abverlangt: "Es ist eher eine gewisse emanzipatorische oder messianische Affirmation, eine bestimmte Erfahrung des Versprechens, die man von jeder Dogmatik und sogar von jeder metaphysisch-religiösen Bestimmung, von jedem Messianismus zu befreien versuchen kann. Und ein Versprechen muss versprechen, dass es gehalten wird, d.h. es muss versprechen, nicht ,spirituell` oder ,abstrakt` zu bleiben, sondern Ereignisse zu zeitigen, neue Formen des Handelns, der Praxis, der Organisation." Auch das hat Derrida im praktischen Sinn des Worts politisch gemeint: "Mit der ,Parteiform` oder mit dieser oder jener Form des Staats oder der Internationale zu brechen heißt nicht, auf jede praktische oder effektive Form von Organisation zu verzichten. Genau das Gegenteil ist es, was uns hier am Herzen liegt." (4) Das Ereignis, dem Derrida sich verpflichtet wusste, hat er in Marx' Gespenster "neue Internationale" genannt und seit Seattle gehofft, in den Bewegungen der "Altermondialisation", den Bewegungen für eine alternative Globalisierung, ihren ersten, vorläufigen Aufbruch erfahren zu dürfen: "ohne Organisation, ohne Partei, ohne Nation, ohne Staat, ohne Eigentum. Der Kommunismus, dem wir später den Beinamen ,die neue Internationale` geben werden." (5) Nach Derridass Tod ist dieses "später" die Zeit unseres Versprechens geworden, zugleich das, was uns jetzt versprochen ist und was wir jetzt zu versprechen genötigt sind. Wem, "uns", und wer, "wir"? Thomas Seibert Anmerkungen: 1) Jacques Derrida, Marx' Gespenster, Frankfurt 1996, 7f. 2) ebd., 149, im Zusammenhang 143ff. 3) MEW 1, 337. 4) Marx' Gespenster, 144f. 5) ebd., 56. aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 489 / 19.11.2004