Der Staat

- politisches Terrain des Klassenkampfes

In der Diskussion um die Hegemoniepolitik der USA hat sich u.a. Karl Otto Hondrich zu Wort gemeldet in einer Weise, die für unser Thema interessant ist.

Hondrich ist Soziologieprofessor in Frankfurt/Main, und er wendet sich als Staatstheoretiker heftig gegen die Forderung der Europäer nach Multilateralität und völkerrechtlicher Beilegung der internationalen Konflikte. Nein, sagt Hondrich, Grundlage von Gesellschaft ist nicht Rechtsordnung, Grundlage von Gesellschaft ist Gewaltordnung. Die gewaltige Macht der USA ist nicht das Problem, sondern die Lösung. Wenn wir eine Weltgesellschaft wollen, dann muss diese Welt das Gewaltmonopol der USA anerkennen, nur so kommen wir zu Frieden und Ordnung.
Auch wenn wir die Pax Americana, die da als Verheißung an die Wand gemalt wird, ablehnen und bekämpfen, so hat Hondrich doch in einem die historische Wahrheit auf seiner Seite: der moderne Staat, der in seinem Innern für Ordnung und Frieden sorgt, ist ein Monopolist der Gewalt. Er ist auch ein Kind der Gewalt, treibende Kraft waren Krieg und Bürgerkrieg, innerer und äußerer Krieg, aus denen staatliche Organisation, Kriegsverwaltung, Steuereinziehung und zugehörige Verwaltungsorgane, Polizei und Geheimdienste als Institutionen innerer Sicherheit hervorgingen. So wie den Staat nach außen seine Souveränität auszeichnet, die er im Zweifel auch mit Waffengewalt zu behaupten hat, so ist er im Innern durch dieses Gewaltmonopol definiert, ohne das er nicht existieren würde und auf dessen Aufrechterhaltung und Durchsetzung seine Kernfunktionen gerichtet sind.
Das Gewaltmonopol ist die Quintessenz des Staates. Max Weber, ein national-liberaler Soziologe der Weimarer Zeit, nahm dieses Kriterium zur Definition des Staates schlechthin. Ihm komme das "Monopol des legitimen physischen Zwangs" zu. Ein linker Politologe unserer Tage, der Marburger Frank Deppe, formuliert, Staatsmacht im engeren Sinne bezeichnet das System der Normen und Institutionen, welche zur Durchsetzung verbindlicher Entscheidungen für die Gesellschaft notwendig sind. Die Apparate der exekutiven Macht bildeten gleichsam die institutionelle und materielle Kernstruktur der Staatsmacht.
Nun ist die Prägung des Staates durch sein Gewaltmonopol also von links bis rechts unumstritten. Die eigentliche Frage beginnt aber natürlich erst jenseits dieses Definitionsmerkmals des Staates, nämlich: Wer, welche gesellschaftlichen Kräfte setzen dieses Gewaltmonopol, welche Entscheidungen sollen für alle verbindlich gemacht werden? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Staat und Gesellschaft?
Der Frankfurter Politologe Harald Müller, der auch geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung ist, führt zum Beispiel aus, nachdem er zunächst ebenfalls das Gewaltmonopol als Kriterium des Staates definiert hat: " Als zweite Ebene entwickelten sich die Institutionen demokratischer und rechtsstaatlicher Kontrolle im Zuge von Industrialisierung, gesellschaftlicher Differenzierung und dem damit wachsenden Gewicht neuer gesellschaftlicher Schichten und Klassen. Die Exekutive musste - mit begüterten Adligen, dem Klerus, den Handelsherren und Kaufleuten, den neuen Industrialisten, schließlich den Arbeitern - Vereinbarungen über ihre Möglichkeiten treffen, um auf die Ressourcen dieser anderen Akteure zurückzugreifen; dies kostete einen schrittweise höheren Preis von Kontrolle und Teilhabe."
Diese Einschätzung ist typisch für die bürgerliche Politologie und Soziologie. Sie berücksichtigt sehr wohl und selbstverständlicherweise das Einwirken der Gesellschaft auf den Staat, aber sie behandelt Staat und Gesellschaft als zwei getrennte Komplexe, als sei der Staat ein Wesen eigener Art, das in Verfolg eigener Interessen sich mit der Gesellschaft arrangiert. Der Staat, heißt es bei Müller, muss mit den gesellschaftlichen Schichten und Klassen Vereinbarungen treffen, will er an deren Ressourcen heran, muss er ihnen je nach Gewicht Kontrolle und Teilhabe gewähren. Diese Vorstellung ist auch die Grundlage staatsreformistischer Politik. Wenn der Staat als im Wesen der Gesellschaft gegenüber neutral eingestuft wird, dann scheint es möglich und sinnvoll, über Parlaments- und Regierungs-mehrheiten eine Politik unabhängig von den gesellschaftlichen Machtverhältnissen durchzuführen.
Diese Vorstellung vom neutralen Staat aber ist eine Illusion, sie ist falsch. In Wahrheit konzentriert und organisiert sich im Staat das gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis. Der Staat trifft verbindliche Entscheidungen und sorgt für deren Exekution auf der Basis, im Rahmen und nach Maßgabe der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Sie können dies sehr schön an der Entwicklung der Politik der USA verfolgen. 1998 hat Dick Cheney als Vorstandsvorsitzender von Halliburton, dem größten Zulieferer der Welt für die Erdölindustrie, zu Protokoll gegeben, Priorität der US-Außenpolitik müsse der Sicherung der globalen Erdölressourcen eingeräumt werden. Mittlerweile ist Cheney Vizepräsident der USA, mit ihm sind, wie US-Forschungsinstitute gezählt haben, rund 30 hohe Manager der Ölindustrie in die Administration Bush eingezogen, und die Ressourcensicherungspolitik ist unter dem Namen "Krieg gegen den Terror" zur offiziellen Außen- und Sicherheitspolitik der USA geworden. Donald Rumsfeld hat in den Neunzigern v.a. als Lobbyist der Rüstungsindustrie gearbeitet. Nun setzt er als Verteidigungsminister u.a. das Raketenabwehrsystem um, das der Rüstungsindustrie in den nächsten Jahren rund 280 Milliarden $ an Umsatz verschaffen wird. Auch die Rüstungsindustrie hat rund drei Dutzend Spitzenmanager in die US-Administration beordert. Bei jedem Regierungswechsel in den USA bleibt natürlich das Gros der Apparate bestehen, aber die Spitzen werden resolut ausgewechselt - die jeweils siegreichen Kapitalfraktionen übernehmen das Kommando. Demokratie reduziert sich, dies ist auch das Fazit der bürgerlichen Theorie, auf die Auswahl der politischen Elite, deren einzelne Abteilungen aber allesamt im Rahmen der kapitalistischen Herrschaftsordnung agieren.
In Deutschland ist dieser fundamentale Sachverhalt durch die Tradition und Rhetorik einzelner Parteien und Organisationen etwas verdeckt, aber er ist genauso vorhanden. Die SPD ist heute eine neoliberale Partei, nur noch notdürftig sozial drapiert, sehr stramm auf dem Kurs, den die dominierende Kapitalfraktion, nämlich das global operierende Kapital heute verlangt. Dass die SPD eine kapitalistische Partei ist, stellt übrigens keine Unterstellung dar, sondern entspricht ihrer offiziellen Selbstdefinition. Sie hat sich bekanntlich 1959 in ihrem Godesberger Programm zur sogenannten Sozialen Marktwirtschaft bekannt. Sie unterscheidet sich von der anderen großen Volkspartei vor allem dadurch, dass sie einerseits versucht, für die sozialen Interessen der beherrschten Klassen und Schichten mehr herauszuholen, andererseits eben die staatsreformistische Illusion weckt, "soziale Gerechtigkeit" und Emanzipation durch Teilhabe am staatlichen Prozess ohne Änderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu erreichen. Wohin diese Teilhabe dann aber in Wahrheit führt, beweist soeben wieder die Agenda 2010, ein wahrer Katechismus des Neoliberalismus.
Wir halten es also mit der marxistischen Soziologie, die zu dem Schluss kommt, beim Staat handele es sich um das politische Machtinstrument der ökonomisch herrschenden Klasse einer Gesellschaftsformation. " Der Staat", sagt Engels, " ist ... ein Produkt auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, dass diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der `Ordnung` halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat." (M/E, 21, 165). Der Staat ist demnach eine nur scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht, der sein Gewaltmonopol nutzt, um die gesellschaftlichen Konflikte im Rahmen der "Ordnung" zugunsten der herrschenden Klasse zu lösen.
Nicos Poulantzas, ein französischer Soziologe und Staatstheoretiker, baute diesen marxistischen Ansatz aus: Der Staat stellt ein Terrain des sozialen Kampfes dar und organisiert auf diese Weise die herrschenden Klassen und Klassenfraktionen als Machtblock.
Herrschaft ist ein Prozess, der sich nur in ständigen Reibungen und Konflikten innerhalb der Herrschenden, aber unter der Hegemonie einer ihrer Gruppen vollzieht. Der Staat ist die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Innern des Staates in spezifischer Form ausdrückt. Die Besonderheit des "kapitalistischen Staates" ist, dass er das Kräfteverhältnis der sozialen Klassen und fraktionen in der Form von Apparaten verdichtet und damit den "bürgerlichen Block" an der Macht organisiert. Nach Poulantzas organisiert der Staat die Einheit der herrschenden Klassen und desorganisiert die beherrschten Klassen. Schauen wir uns das Vorgehen der rot-grünen Regierung und der einzelnen Staatsapparate gegen den Sozialstaat und zuletzt gegen den Streik der IG Metall in Ostdeutschland an, die gewaltigen Versuche, neoliberale Konzepte als modernen Umbau des Sozialstaates zu popularisieren, dann sieht man sich gedrängt, Poulantzas zuzustimmen.
Die Funktionen des Staates, Ordnung herzustellen im Interesse der herrschenden Klasse, haben über die Androhung und Anwendung legitimen physischen Zwangs hinaus zweierlei Charakter. Einmal, und darauf hebt die Politologie traditionell vor allem ab, geht es darum, die Legitimität der gesellschaftlichen Ordnung zu begründen, d.h. die ungleiche Verteilung von Macht, Autorität, Eigentum, Einkommen, Bildung usw., die allesamt vor allem durch staatliche Entscheidungen entstehen oder stabilisiert werden, zu rechtfertigen. Staatliche Macht wie Politik überhaupt zielt auf die Herstellung von Ordnung auch in dem Sinne, dass eine friedliche Koexistenz zwischen den widerstreitenden Klassen und Gruppen hergestellt wird, Übereinstimmung, Gemeinschaft gestiftet wird hinsichtlich der Projekte, die von den sozialen und politischen Akteuren als allgemein verbindlich durchgesetzt werden sollen. Wir haben es hier immer, wie Frank Deppe sagt, mit moralischen, ideologischen Kontroversen um gut und schlecht, um gerecht und ungerecht zu tun, in denen die herrschende Klasse ihre Interessen als optimal für das angebliche Gemeinwesen durchsetzt. Der Versuch der beherrschten Klassen, ihre Interessen in den gesellschaftlichen Projekten unterzubringen, muss also immer diesen Kampf um die kulturell-ideologische Hegemonie als zentralen Bestandteil mit einschließen.
Wenn wir uns die derzeitige Lage in Deutschland anschauen, dann ist festzustellen, dass die ideologische Hegemonie der herrschenden Klasse außerordentlich groß ist. In der Debatte z.B., wie die Arbeitslosigkeit abzubauen ist, durch Senkung der Lohnkosten und Sozialleistungen oder ganz im Gegenteil durch Stärkung der Löhne, Gehälter und Sozialtransfers und damit der dringend benötigten privaten Nachfrage, hat sich der Interessenstandpunkt des global operierenden Kapitals als der bestimmenden Kapitalfraktion so total durchgesetzt, dass die zaghaften Versuche der Gewerkschaften, sich gegen die Agenda 2010 zu positionieren, im Sperrfeuer der veröffentlichten Meinung zusammengebrochen sind. Diese ideologische Hegemonie zeigt sich ebenso auf den übrigen Feldern der öffentlichen Debatte, vom Umgang mit Arbeitslosen, der Wahrnehmung des Streikrechts durch die Gewerkschaften, der allmählichen Liquidierung des Flächentarifvertrags bis zur Steuerreform, die Reichen besondere Vorteile verschafft, was damit gerechtfertigt wird, dass es sich bei diesen um die Leistungsträger handele, die ihr Geld in Investitionen stecken und damit Arbeitsplätze schaffen würden.
Die Legitimation, die Rechtfertigung der staatlichen Herrschaft, das System der Herstellung der friedlichen Koexistenz zwischen den Klassen und Gruppen selbst, ist in höchstem Maße abhängig von der Entwicklung der Produktivkräfte. Platon in Athen und Cicero in Rom konnten ihre Theorien über den Staat der Gerechtigkeit und die Eintracht der Stände entwickeln, ohne die Sklaverei, auf denen ihre Produktionsweise beruhte, auch nur zu berücksichtigen. In der vielgerühmten Verfassung der USA, als Geburtsstunde der Demokratie gefeiert, wurde der "Schutz von Leben, Freiheit, Eigentum" ebenso wie das "Streben nach Glück" zu allgemeinen Menschenrechten und Verfassungsgütern erhoben. Ungeachtet der Tatsache, dass nur reiche Grundbesitzer das Wahlrecht besaßen, Frauen und arme Weiße davon ausgeschlossen waren, Schwarze in Sklaverei gehalten und Indianer systematisch ausgerottet wurden. Erst die Umwälzung der Produktionsverhältnisse brachte die von Harald Müller genannten begüterten Adligen, Handels- und Industriekapitalisten und schließlich die Arbeiterklasse in der jeweiligen Epoche näher an die Zentren der politischen Entscheidung bzw. an die Staatsmacht. Nach dem Verschwinden des Realsozialismus ist die "bürgerliche Demokratie" die höchste Form der Teilhabe, die den vom Kapital beherrschten Klassen bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung zukommt.
Wir haben jetzt über die Funktion des Staates gesprochen, Ordnung zu stiften im Sinn von ideologischer Gemeinschaft der verschiedenen Klassen und Gruppen unter der Dominanz der stärksten Fraktion der herrschenden Klasse. Eng damit zusammen hängen die Regulations- und Leitungsfunktionen, die der Staat zu übernehmen hat. Je komplexer die Gesellschaft wird, desto komplexer werden die staatlichen Regulationssysteme, die gesellschaftliche Reproduktion, Stabilität und Kohäsion sichern sollen. Neben die klassischen administrativen und repressiven Staatsfunktionen treten zunächst zunehmend infrastrukturelle Funktionen: Verkehr, Nachrichtenwesen/Kommunikation, Bildung, Wissenschaft. Dazu kommen in wachsendem Maß Interventionen des Staates in der Wirtschafts- und Sozialpolitik - es geht einmal darum, die Verwertungsbedingungen des Monopolkapitals zu sichern und zu verbessern, zum anderen darum, durch soziale Leistungen die wachsende Ungleichheit der Lebenschancen, die der sich selbst überlassene kapitalistische Markt produziert, so weit auszugleichen, dass die beherrschten Klassen sich zufrieden geben.
Dies sagend, referiere ich die Geschäfts- und Wissenschaftslage der Siebziger Jahre. Jürgen Habermas sagte damals - ich zitiere ihn entsprechend im neuen isw-Heft "Demontage des Sozialstaats" - in der Vergangenheit habe der Kapitalismus "systemgefährdende Dysfunktionalitäten hervorgebracht". Deshalb sei nun an die Stelle der Ideologie des gerechten Tausches zwischen Kapitalist und Arbeiter die Lehre der "kompensierenden Staatstätigkeit" getreten. Diese "verbindet das Moment der bürgerlichen Leistungsideologie mit dem Versprechen auf Wohlfahrt (mit der Aussicht auf einen Arbeitsplatz sowie auf Einkommensstabilität). Diese Ersatzprogrammatik verpflichtet das Herrschaftssystem darauf, die Stabilitätsbedingungen eines soziale Sicherheit und Chancen persönlichen Aufstiegs gewährenden Gesamtsystems zu erhalten und Wachstumsrisiken vorzubeugen."
Habermas definiert hier Entstehung und Funktion des Sozialstaats, zu dem sich damals angesichts stabil scheinenden Wachstums, Abhängigkeit vom Inlandsmarkt und der Systemkonkurrenz im Osten das deutsche Kapital bereit fand. Mit dem Sozialstaat wird die arbeitende Bevölkerung besser gestellt, was aber zunächst nichts mit politischer Emanzipation zu tun hat. Dennoch hat der Sozialstaat auch einen eminent politischen Effekt. Zwar wird durch ihn die Dominanz des Kapitals im Klassenkonflikt konserviert, doch stärkt sie das Potential der ArbeiterInnen, sich der Kontrolle durch das Kapital zu widersetzen. (Christoph Butterwege) Wer Kündigungsschutz hat und sozial abgesichert ist, tut sich leichter, im Betrieb und außerhalb dem Unternehmer die Stirn zu bieten, als jemand, der schnell seinen Arbeitsplatz verlieren kann, und dann ebenso schnell auf das Niveau der Sozialhilfe sinkt. Der Kampf um soziale Rechte ist immer auch ein Einsatz für verbesserte Bedingungen in der politischen Auseinandersetzung.
Wie wir wissen, hat es in der Zwischenzeit geradezu einen Umbruch, einen Paradigmenwechsel in der Tätigkeit des Staates gegeben, sowohl hinsichtlich seiner Interventions- wie seiner Funktion der sozialen Kompensation. Im gegenwärtigen Triumphzug des Neoliberalismus wird der Sozialstaat demontiert; immer mehr bislang staatliche Infrastrukturleistungen vom Verkehr über Bildung bis Gesundheit werden privatisiert; staatliche Interventionen in die Wirtschaftspolitik verlieren an Bedeutung, da ein Großteil der Entscheidungen von supranationalen Institutionen getroffen wird. Dieser Verlust an Funktionsmacht, oder neutraler: die andere Funktion des Nationalstaates findet seinen wesentlichen Grund in den veränderten Bedingungen der Verwertung des Kapitals. Die dominante Fraktion der herrschenden Klasse, das global operierende Kapital, kann sich angesichts seiner Größe immer weniger im nationalen Rahmen reproduzieren. Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle entwickelten kapitalistischen Industriestaaten. Die 100 größten Transnationalen Konzerne, die fast ein Fünftel der gesamten Weltproduktion erstellen, haben auf den Auslandsmärkten einen höheren Umsatz als im Mutterland, sie haben dort mehr Beschäftigte und ein etwa gleich hohes Betriebsvermögen als im Mutterland. Dies hat fundamentale Konsequenzen für Staat und Politik:
1) Der Binnenmarkt hat für die TNK seine überragende wirtschaftliche Bedeutung verloren. Die Bevölkerung wird vor allem unter dem Gesichtspunkt der Optimierung der Arbeitsleistung und der Minimierung der Arbeitskosten gewertet, nicht mehr als wesentlicher Nachfragefaktor. Je billiger Arbeits- und Sozialkosten, desto besser die Wettbewerbsposition der deutschen Konzerne auf dem globalen Markt. Medien, Parteien und Regierung haben diese Position voll übernommen, die Agenda 2010 ist die Grundlage der entsprechenden Gesetzesprogramme. Die Zeiten des Sozialstaates sind von Seiten des Kapitals und seiner politischen Kräfte aufgekündigt.
2) Die Orientierung auf den Weltmarkt und die Kostenminimierung in den "nationalen Standorten" führt zu einer Verkleinerung der Weltnachfrage, die sich aus den minimierten nationalen Märkten zusammensetzt. Möglichkeiten profitabler Verwertung des Kapitals reduzieren sich, weshalb die Privatisierung bislang öffentlicher Funktionsbereiche ein wichtiger Ausweg für das verwertungshungrige Kapital ist. Gleichzeitig werden diese Bereiche - Bildung, Kommunikation und andere strategische Elemente gesellschaftlicher Planung - der demokratischen Kontrolle entzogen. Privatisierung hat sowohl ein ordinäres Profit- wie ein ordnungspolitisches Motiv.
3) Konnte man im staatsmonopolistischen Kapitalismus von einer Verschmelzung der Monopole mit dem Staat sprechen, weil die Monopole auf die unmittelbare Intervention des Staates hinsichtlich Technologieentwicklung, Bildung, öffentlicher Nachfrage usw. angewiesen waren, so stellt sich diese Frage für die TNK heute im globalen Maßstab. Dementsprechend werden Instrumente supranationaler Regulation entwickelt wie G7/G8, IWF, Weltbank, WTO usw., die ebenfalls demokratischer Kontrolle weitgehend entzogen sind.
Demontage des Sozialstaats, Privatisierung der öffentlichen Sektoren und die Entwicklung eines supranationalen Entscheidungsgeflechts haben mithin alle zusammen vor allem diese Ursache: die neue, globale Dimension des kapitalistischen Verwertungsprozesses. Für uns, beschäftigt mit der Frage des Staates, ergibt sich nun das Problem, ob der Nationalstaat überhaupt noch der richtige Ansprechpartner ist, ob er noch das wesentliche politische Terrain des politischen Konflikts ist. Ich meine, dass er dies in der Tat noch darstellt. So wichtig es ist, den Kampf international zu organisieren, global zu führen, so sollten wir doch nicht vergessen, dass das internationale System sich im wesentlichen aus nationalstaatlichen Akteuren zusammensetzt. Es gibt NGOs, 25.000 an der Zahl, also private internationale Akteure, es gibt internationale Apparate, die auch - wie z.B. die UNCTAD - bisweilen eigene Vorstellungen in den Diskurs einbringen. Doch die längst vorhandene globale Organisation der Interessen des globalen Kapitals - G7/G8, WTO, Weltbank und IWF - bewegt sich nach den Entscheidungen der großen kapitalistischen Staaten. Der globale Blick hat manche sozialen Bewegungen dazu gebracht, die entscheidende Rolle der Nationalstaaten zu übersehen. Die deutsche Regierung z.B. weigert sich, Konjunkturprogramme, beispielsweise Hilfen für die Kommunen, die den Namen verdienen, aufzulegen, weil sie der europäische Stabilitätspakt angeblich daran hindere. Dort sind 3% Haushaltsverschuldung als Höchstgrenze festgelegt. Nun geht dieser Pakt aber zurück auf Initiative v.a. der damaligen deutschen Regierung. Sie schaffen sich eine internationale Regelung, die dann nachher als Sachzwang ausgegeben wird, dem man sich angeblich nicht entziehen könne. Das selbe geschah z.B. im Krieg der USA gegen Afghanistan, weil angeblich der Artikel 5 des Nato-Vertrages zum Zuge kommen musste, da die Nato einen Angriff auf die USA festgestellt habe. Internationale Regelungen, von Akteuren des Nationalstaats getroffen, sind ein probates Mittel, wesentliche politische Entscheidungen dem nationalen Diskurs und der demokratischen Kontrolle zu entziehen.
Wenn wir im Hinblick auf die globale Zukunft sagen: Eine andere Welt ist möglich, dann setzt dies voraus, dass wir den Herrschafts-, den Klassencharakter des Staates ändern können. Der Staat ist keine neutrale, den Produktionsverhältnissen äußerlich gegenüber stehende Instanz. Er ist ein grundlegender Bestandteil der Reproduktion und Regulierung kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse. In der Verlagerung von Entscheidungen auf die supranationale Ebene folgt er heute exakt den Verwertungsbedürfnissen des global operierenden Kapitals.
Wie also können auf diesem Terrain sozialer Kämpfe, diesem wesentlichen Kristallisationspunkt von Klassenbeziehungen, die Interessen der beherrschten Klassen zur Geltung gebracht werden? Heute, da der sog. Dritte Weg einer neoliberalisierten Sozialdemokratie ersichtlich am Ende ist oder besser gesagt: ins soziale Desaster führt - vom Weg der Grünen von der sozialen Bewegung zur grünen FDP gar nicht zu reden - sollte man staatsreformistische Strategien als die Illusionen erkennen, die sie sind. Dies gilt auch im internationalen Maßstab, wo es im Umkreis von Attac Vorstellungen gibt, durch kluge Politikberatung und unablässiges Werben und Drücken der NGOs und der Entwicklung einer sogenannten internationalen Zivilgesellschaft ließe sich die Richtung des internationalen Systems prinzipiell ändern.
Naomi Klein sagte dazu, wir gewinnen die Argumente, aber wir verlieren den Feldzug für eine neue, andere Welt. Denn, so fügt sie hinzu, wohin diese Welt geht, ist eine Frage der Macht. Wenn die Logik des transnationalen Kapitals gilt, dann geht unsere Welt weiter in Richtung Ausbeutung von Menschen und Natur zugunsten der großen Konzerne. Wenn diese Logik nicht mehr gelten soll, dann muss man die Macht, die staatlich und supranational organisierte Macht der Konzerne überwinden. Das bedeutet die Übernahme der staatlichen Macht durch die heute von den TNK Beherrschten. Eine solche Politik muss vor allem auf die Entwicklung eigener Aktivität der Betroffenen setzen - in Betrieben, in Gewerkschaften, in Stadtteilen, unter Arbeitslosen usw. Sie muss sich auseinandersetzen mit dem ideologischem Übergewicht der Gegenseite. Sie darf sich nicht scheuen, auch im Raum der Parteien und Parlamente zu wirken, so weit ihr dies überhaupt möglich ist. Es ist von großer Bedeutung, die Entscheidungen der staatlichen Instanzen zugunsten der sozialen und politischen Interessen der beherrschten Klassen und Schichten im eigenen Land und der Völker der Armen Welt zu beeinflussen. Dazu kann nach meiner Meinung durchaus das Wirken in Parteien und auch im Parlament gehören, wenn diese Einrichtungen zu Tribünen der Auseinandersetzung um diese Fragen gemacht werden. Doch das Gewicht dieser emanzipatorischen Politik auf dem Terrain des Staates wird letztlich davon abhängen, wie viel eigene Kraft sie in ihren Bewegungen entfalten kann und, davon ausgehend, wie viel Einfluss sie nehmen kann auf das politische Denken der Mehrheit. Über den heutigen Zustand des Kräfteverhältnisses sollte man sich keine Illusionen machen. Die Hegemonie des neoliberalen Blocks ist eindeutig. Doch die gewaltigen Manifestationen der globalen und europäischen Sozialforen und der internationalen Friedensbewegung zeigen an, dass das globale kapitalistische System am Anfang einer Vertrauenskrise steht, dass viele Millionen ihr moralisches Urteil schon gesprochen haben. Gleichzeitig ist das System in eine ernste wirtschaftliche Funktionskrise geraten. Diese Krise wird längerfristig ausfallen. Je schwächer die Legitimität, je tiefer und anhaltender die Wirtschaftskrise, desto aggressiver wird sich das System der kapitalistischen Staaten verhalten. Wir sind schon in einer Phase angelangt, wo der Kampf um Emanzipation mit dem um Frieden und um ein sozial erträgliches Leben zusammenfällt.

aus: isw-report 55: Staat - Steuern - Daseinsvorsorge. Doko des 11. isw-forums