Die Regierung Lula nach ihrem ersten Jahr

Seit über einem Jahr wird Brasilien von einem Arbeiter regiert, der zusammen mit seiner Partei, der PT, im Oktober 2002 einen beachtlichen Wahlsieg errang und eine Mitte-Links-Regierung bildete.

"Angezogen vom Parfümduft der Eliten
und abgestoßen vom Geruch des Volkes"?

Marta Harnecker, Anspielung auf ein Lula-Zitat

Seit über einem Jahr wird Brasilien von einem Arbeiter regiert, der zusammen mit seiner Partei, der PT (Partido dos Trabalhadores - Arbeiterpartei), im Oktober 2002 einen beachtlichen Wahlsieg errang und zum Beginn des Jahres 2003 eine Mitte-Links-Regierung bildete.1 Obwohl dies eine erst kurze Regierungszeit ist, sind die Meinungen zum Wirken und zum Vorgehen der Regierung Lula bereits erheblich geteilt. Heute hat es den Anschein, als ob die Linke in Brasilien gerade wegen dieser Regierung, die sie eigentlich unterstützen müßte, uneiniger ist als je zuvor. Es war gerade eben die Gesamtheit der Linken, die diese Regierung wählte und auch wollte.

Der öffentliche Anlaß zur Explosion der Meinungen zur Regierung und zur PT war der Ausschluß einer Gruppe von vier Parlamentariern, 2 die Front gegen das Gesetz zur Reform der Sozialversicherung 3 machten und diese Reform ablehnten. Sie wurden als "linke radikale Gruppe" bezeichnet, die die Regierung Lula aus der PT heraus wegen ihrer eingeschlagenen Wirtschafts- und Reformpolitik grundsätzlich kritisiere. Der Ausschluß der Vier erfolgte am 12. Dezember 2003 mit der Begründung, daß sie sich nicht an die Beschlüsse der Fraktion hielten, die Parteidisziplin verletzten, sich den Beschlüssen der Partei widersetzten, öffentliche Proteste gegen die Regierung unterstützten und PT-Mitglieder verunglimpften.

In der Resolution des Nationaldirektorats der PT, die in der gleichen Sitzung angenommen wurde, wird, ohne den Ausschluß explizit zu erwähnen, gefordert: "Deshalb ist die Partei, sind ihre Mitglieder und ihre parlamentarische Fraktion, ohne ihre Unabhängigkeit zu verletzen, die besten Garanten und wichtigste Basis für die Unterstützung der Regierung. So müssen sie Schritt für Schritt die Regierung bei der Realisierung ihrer bedeutenden Entscheidungen begleiten und an ihnen teilnehmen." Präsident Lula und weitere Minister seiner Regierung blieben der Sitzung fern. Jedoch wurde deutlich, daß es Lula war, der Treue zur Partei einforderte und für den Ausschluß plädierte.

Noam Chomski und andere Intellektuelle hatten sich an Präsident Lula gewandt und vor dem Ausschluß der vier Parlamentarier aus der PT gewarnt. Andere Stimmen sprachen von einem Rückfall in stalinistische Zeiten. Der Ausschluß dieser Gruppe aus der PT stellt zweifellos eine Zäsur für die weitere Entwicklung der Partei dar, da sich die Mehrheitsströmung rigoros gegen andere Auffassungen in der PT durchsetzte. Es kam zu Parteiaustritten, Erklärungen verschiedenster Persönlichkeiten machten die Runde, und überall wurden Seminare und Versammlungen zum Thema "Ein Jahr Regierung Lula" durchgeführt. Dabei war vor allem zu vernehmen: Die Regierung Lula verfolge eine Wirtschaftspolitik, die - wie Ökonomen, die Medien und große Teile der PT meinen - keine Änderung der Politik im Vergleich zur Vorgängerregierung Fernando Henrique Cardoso erkennen lasse, sondern sich weiter in erster Linie um das "Vertrauen" der internationalen Finanzmärkte bemühe, und die PT sei angesichts der Anforderungen, die an eine Regierungspartei gestellt werden, in eine Krise geraten. So sagte auch der Berater der Präsidentschaft der Republik für internationale Fragen, Marco Aurelio Garcia, die PT durchlebe eine schwere Zeit, sie befinde sich in einer Krise.4

Ist damit die Euphorie, die große Teile der Linken - auch außerhalb Brasiliens - erfaßt hatte, vorüber? Ist das Experiment Lula schon nach dem ersten Jahr seiner Regierung beendet?

Kontroverse Stellungnahmen

Der Präsident der Gewerkschaftszentrale CUT, Luiz Marinho, machte in seiner Einschätzung der Regierung Lula geltend: "Wenn die Regierung Lula eine Niederlage erleidet, kommt als Nachfolge keine Regierung, die weiter links steht. Wahrscheinlich werden wir Jahre brauchen, um eine neue Chance zu erhalten, daß Arbeiter jemanden wählen, der die Möglichkeit hat, eine neue Entwicklungsrichtung für Brasilien einzuschlagen."5 Damit wird an Einschätzungen angeknüpft, die bereits Ende 2002 und Anfang 2003 gegeben wurden und in die gleiche Richtung zielten und besagten, daß mit der Wahl Lulas eine Wende in Brasilien eingeleitet werden kann. So hieß es im Abschlußdokument des "Forums von São Paulo": "Bei den Wahlen im Oktober in Brasilien gelangte die Linke unter der Führung von Lula in einem breiten Bündnissystem an die Regierung. Die Eroberung der Macht durch die Linken im größten Land des Kontinents hat außerordentliche Bedeutung. Damit verändert sich das Kräfteverhältnis in unserer Hemisphäre, und es ist ein starker Antrieb für die Kämpfe um Demokratie und sozialen Fortschritt."6

Eine solche Einschätzung verweist auf wichtige Aspekte der Entwicklung in Brasilien und Lateinamerika: Die PT als relativ junge Partei, die im Widerstand gegen die Militärdiktatur entstand und Ausdruck des Kampfes des brasilianischen Volkes um Demokratie und Selbstbestimmung ist, wird als Verkörperung der Veränderungen angesehen, die sich in Brasilien vollzogen und auf die Entwicklung in ganz Lateinamerika Einfluß haben. Der Sieg der PT im Oktober 2002 wird als Teilerfolg linker und emanzipatorischer Kräfte des Kontinents auf dem Wege zur Überwindung der Abhängigkeit und zur sozialen Befreiung angesehen. In der Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus erweckte der Erfolg der PT neue Hoffnungen und neue Kräfte, wie sie sich in drei Weltsozialforen in Porto Alegre manifestierten.

Eine gänzlich andere Sichtweise kommt hingegen in der Position von Francisco de Oliveira, Professor der Soziologie 7 und Mitbegründer der PT, zum Ausdruck. Er erklärte nach Ausschluß der vier Parlamentarier seinen Austritt aus der PT: "Ich habe kein Vertrauen mehr zu den Führern der Partei - also zu denen, die in der Regierung tätig sind und zu denen, die in den Parteiinstanzen arbeiten." Im weiteren erklärte er, daß entgegen ihren Wahlversprechungen die Regierung Lula eine zerstörerische Wirtschaftspolitik realisiere und eine gegen die arbeitenden Menschen gerichtete Sozialversicherungsreform durchsetze. Die Politik der Regierung Lula sei auf die Erfüllung der Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) ausgerichtet und nicht auf die versprochenen sozialen Reformen. Sie sei eine Regierung des "dritten Mandats für Fernando Henrique Cardoso" (FHC).8

Die PT - so de Oliviera weiter - habe ihren Charakter strukturell verändert, so daß eine Umkehr oder Wende nicht zu erwarten sei. Sie sei gemeinsam mit der PSDB eine Partei des Zentrums geworden, verbürokratisiert, verbürgerlicht und "früh gealtert". Sie tausche die Hegemonie, die sich in einer breiten Bewegung im Kampf gegen die Diktatur formierte, gegen ad-hoc-Allianzen ein, die keinen politischen Bestand haben werden. Zur Person Lula meinte de Olivera, daß, wenn er sich als charismatische Persönlichkeit der Tragweite seiner Verantwortung bewußt sei, die Politik im Sinne der Zivilgesellschaft Brasiliens einem ernsten Risiko ausgesetzt werde, weil der Mythos Lula die Politik zerstören könne.

Andere Intellektuelle beziehen ähnliche Positionen wie de Oliveira und befürchten, daß diese Entwicklungsrichtung der Regierung Lula sich noch verstärken werde und auch künftige Entscheidungen im Sinne der Forderungen des IWF anfallen werden.

Andere wiederum sehen eine solche Bewertung der Vorgänge als voreilig an und setzen auf Dialog mit der Regierung und gleichzeitige Druckausübung. Joao Pedro Stédile, einer der Führer der Bewegung der Landlosen (MST), vermeidet Kritiken an der Regierung Lula und unterstreicht sein Vertrauen in ihn, was er damit begründet, daß Lula sehr genau wisse, "dass er, wenn er kein umfassendes Programm einer Agrarreform durchführt, Gefahr läuft, eine Regierung angeführt zu haben, die gescheitert ist."9

Diese Position erklärt sich aus der Geschichte der PT und aus dem Verlauf des Wahlkampfes. Die PT unterstützte in ihren programmatischen Erklärungen immer die Forderungen nach einer umfassenden Agrarreform in Brasilien. So war auch ihr Wahlkampf gestaltet, in dem sie die Ansiedlung von landlosen Bauern unterstützte. Die MST rechnet der Regierung nun vor, daß es erforderlich wäre, Mittel, die die Nationale Bank für wirtschaftliche und soziale Entwicklung (BNDES) für Kreditlinien zur Finanzierung von multinationalen Unternehmen bereitstellt, zur Finanzierung von landwirtschaftlichen Kooperativen auszugeben. Mit einer solchen Forderung stellt sich die MST nicht gegen die Regierung, sondern verweist auf das Hauptproblem Brasiliens: Allein im Jahre 2003 muß Brasilien 89 Mrd. Reais für den Schuldendienst aufbringen, die besser für soziale Zwecke verwandt werden sollten.

Die von Aktivisten der MST dem Präsidenten während einer Manifestation der MST in Brasilia im November 2003 direkt überbrachten Forderungen zeigten Wirkung. Lula wiederholte in seiner Ansprache "Bilanz des ersten Jahres", daß die Regierung bis 2006 eine umfassende Agrarreform durchführen und bis zu 530 000 Familien ansiedeln werde.10

Die Position der Regierung

In seiner Rede zur Ein-Jahres-Bilanz erklärte Präsident Lula, daß die "Zeit der Ungewißheiten vorbei ist und wir das Vertrauen in unsere Wirtschaft und in die Fähigkeit des Wachstums des Landes wiedergewonnen haben." Nach seiner Einschätzung sei damit die Möglichkeit gegeben, ein nachhaltiges Wachstum zu realisieren und Aufgaben zur Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit zu lösen. Gleichzeitig habe das bedeutet, einige "bittere Maßnahmen" einzuleiten, um dem Land größere Stabilität zu verleihen.

Seine Argumente: Das Land befand sich Ende 2002 am Rande einer schweren Krise, die sich in einer steigenden Inflationsrate und in schwindendem Vertrauen in die Wirtschaft Brasiliens ausdrückte. Die Kapitalinvestitionen waren rückläufig und brasilianische Aktien wurden an den Börsen mit weniger als 50 % ihres Wertes gehandelt.11

Die Inflationsrate, die 2002 bei ca. 30 % lag, wurde durch die Erhöhung der Zinsrate angehalten und wird 2004 nur ca. 5,5 % ausmachen. Im Unterschied zur Regierung FHC, die die steuerlichen Ungleichgewichte durch die Erhöhung der Steuerbelastung (28 bis 36% in der Zeit zwischen 1995 und 2002) auszugleichen versuchte, brach die Lula-Regierung mit diesem Modell und entschied sich für die Einschränkung der öffentlichen Ausgaben. Das machte eine rigorose Kontrolle des öffentlichen Haushaltes erforderlich. Festgelegt wurde per Haushaltsgesetz ein primärer Exportüberschuß von 4,25 % im Vergleich zum BIP. Damit wurde erreicht, daß die Risikoprämien für Staatsanleihen fielen und sich unter 500 Punkten (Ende 2002 bei ca. 2 500 Punkten) einrangierten. Mit diesem Modell soll die Tendenz zur Erhöhung der Verschuldung des öffentlichen Sektors im Vergleich zum BIP (2002 betrug diese 62,51 %) gestoppt werden.

Die Kontrolle der Inflationsrate bewirkte gleichzeitig eine Tendenz zur Senkung der erhöhten Zinsrate, die 2003 von 26,5 % auf ca. 17,5 % durch die Zentralbank reduziert wurde. Zu verzeichnen ist auch eine Reduzierung der Zinsrate des Marktes, die innerhalb des Jahres 2003 um ca. 30 % fiel (auf ca. 18 % Oktober 2003).

Diese Maßnahmen führten zur Wiederbelebung der Industrieproduktion und zur Erhöhung des Exports, so daß der primäre Exportüberschuß bei 4,25 % liegt (das sind real 24 Mrd. US$ Überschuß). Allerdings ist mit einer Erhöhung der Industrieproduktion von ca. 0,5 % noch keine wesentliche Senkung der Arbeitslosenzahlen zu erwarten, die in städtischen Großräumen bei 13 % (São Paulo bei 20 %) liegen. Erst ein industrielles Wachstum von 3 % würde eine wesentliche Erleichterung bringen. Auch andere Kriterien wie Investitionsrate oder ausländische Investitionen bleiben vorerst negativ. 2003 lag die Investitionsrate bei ca. 17,6 % des BIP, die schlechteste der letzten Jahre. Ausländische Investitionen fielen sogar um 50% im Vergleich zu 2002.12

Lula verwies andererseits auf die positiven Auswirkungen der Steuerreform und der Reform der Sozialversicherung. Das sei praktisches Ergebnis eines neuen föderativen Paktes, der in den Verhandlungen mit den Bundesstaaten und den Gemeinden, in denen die Opposition regiert, erreicht wurde. Die PT hatte weder in der Abgeordnetenkammer noch im Senat eine eigene Mehrheit; diese sei erst durch "die Anstrengungen des Präsidentenamtes" erzielt worden. 13 Mit der Annäherung der PT an Mitte-Rechts-Parteien (PP-Volkspartei, PMDB-Partei der Demokratischen Bewegung, PTB-Partei der Arbeit) in Kammer und Senat entstand eine breite und heterogene Basis für die Regierung Lula, mit der es möglich wurde, die Annahme der Reformen durchzusetzen.

Erfolge auf sozialem Gebiet - so Lula - zeigten sich in der Realisierung des Programms "Unterstützung der Familie" (263 Mio. Reais für 13 Mio. Menschen) und des "Null-Hunger-Programms", von dem 5 Mio. Personen profitierten. In gleicher Weise werde das Programm für Mikrokredite erfolgreich realisiert, das insbesondere den bäuerlichen Kleinproduzenten zugute kommt.

Sowohl die Rede Lulas als auch die vom Nationaldirektorat angenommene Resolution 14 stimmten im Tenor überein: Das erste Jahr Lula-Regierung ist positiv zu bewerten. Während der Sitzung des Nationaldirektoriums forderte der Minister des Präsidentenamtes José Dirceu die Stärkung der Einheit der PT. Er beschuldigte die ausgeschlossene Gruppe, nicht zu beachten, daß die PT "mächtige Feinde" habe und sie mit ihren öffentlichen Kritiken die Regierung Lula nach rechts drücken könnte. Gleichfalls charakterisierte José Dirceu Intellektuelle, die die Regierung Lula kritisieren, als "kleinbürgerlich". Nach seiner Meinung verstünden sie weder die Tragweite noch die Notwendigkeit der von der Regierung eingeleiteten Maßnahmen.15

Die Tagung des Nationaldirektorats machte insgesamt deutlich, daß es neben der Gruppe der Ausgeschlossenen weitere Opponenten gegen den Kurs der Regierung im Nationaldirektorat gibt, die, mit unterschiedlichen Nuancen, ein Abgehen vom gegenwärtigen Wirtschaftsmodell fordern, einschließlich der Ablehnung eines weiteren Vertrages mit dem IWF.

Die Regierung Lula und die reale Situation Brasiliens

Im "Brief an das brasilianische Volk" vom Juni 2002,16 der eine entscheidende Bedeutung im brasilianischen Wahlkampf und für die Herausbildung der Allianz der PT mit der Liberalen Partei 17 gewinnen sollte, kommen bereits Grundzüge der heutigen Politik der Regierung Lula zum Ausdruck. Seine Grundthesen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

Erstens: Das Modell, das die Regierung FHC anwandte, hat sich überholt. Dazu gibt es in allen Klassen und Regionen des Landes Konsens. Ein alternatives Modell ist erforderlich, das insbesondere Brasilien als unabhängige Nation voranbringt.

Zweitens: Eine breite Koalition, bis hinein ins Unternehmertum, hat sich herausgebildet, die Aspekte einer Überparteilichkeit angenommen hat.

Drittens: Brasilien muß den Weg struktureller Reformen gehen, um international mithalten zu können. Die Transformation Brasiliens kann nicht überstürzt werden, sie kann weder eine einseitige Entscheidung seitens der Regierung sein, noch kann sie per Dekret voluntaristisch durchgesetzt werden. Sie kann nur Ergebnis eines breiten nationalen Dialoges sein, der sich in einem neuen Sozialpakt niederschlägt.

Viertens: Voraussetzung für eine Transformation ist die Einhaltung der Verträge und Verpflichtungen des Landes.

Fünftens: Brasilien kann nur über den Weg der Erhöhung des Exportes die finanzielle Anfälligkeit überwinden und muß eine Politik der Substitution der Importe betreiben. Damit verbunden werden muß die Aufwertung des Agrobusiness und der Familienwirtschaften.

Sechstens: Die brasilianische Außenpolitik hat die Aufgabe, die kommerziellen Interessen Brasiliens zu unterstützen und mitzuhelfen, daß die Barrieren, die durch die Industrieländer gegen die Entwicklungsländer errichtet wurden, beseitigt werden.

Nach einem Jahr Regierung Lula wurde deutlich, welche Politik dieser Brief schon Mitte 2002 einleitete. Die Transformation Brasiliens, besser der Übergang von einem Modell zu einem anderen, geschieht im Rahmen der gegebenen Verhältnisse. Wenn das Modell des Präsidenten FHC ein umfassendes neoliberales darstellte, so war die Ankündigung des neuen Modells, das die Regierung Lula anstrebt, erst einmal nichts anderes, als die bestehenden Verpflichtungen, vor allem gegenüber dem IWF, einzuhalten (Zahlung der 30 Mrd. US$ und weitere strukturelle Anpassungen). Die beabsichtigte Transformation hat in diesem Sinne vor allem makroökonomische Zielstellungen und ist auf die Rückgewinnung der notwendigen wirtschaftlichen Unabhängigkeit ausgerichtet, auf deren Basis ein anderes Entwicklungsmodell angestrebt werden kann.

Nach Einschätzung der Regierung ist die erste Etappe der Transformation noch nicht abgeschlossen. Wirtschaftsminister Antonio Palocci erklärte auf der Tagung des Nationaldirektorats, daß er dafür sei, den primären Exportüberschuß mit 4,25 % für mindestens zehn Jahre beizubehalten, und forderte abermals die Autonomie der Zentralbank, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt durch gesetzliche Regelungen eingeschränkt ist.18

Gleichzeitig wurde seitens des IWF die Erweiterung des Abkommens aus dem Jahre 2002 bestätigt und Brasilien eine Kreditlinie von 14 Mrd. US$ bereitgestellt. Ricardo Carneiro, Professor an der Universität Campinas, sagt dazu: "Die Taktik der Regierung, sich das Vertrauen der Finanzmärkte zu sichern, heißt, sich weiter in die Abhängigkeit des Internationalen Währungsfonds zu begeben."19 Die Kritik, die von dieser Seite laut wird, anerkennt zunächst die Notwendigkeit der Bindung an den IWF. Sie verweist dann aber darauf, daß es notwendig sei, die Fähigkeit des Staates zur Regulierung der Wirtschaft zurückzugewinnen. Die zentralen Achsen dieses Projektes wären: Regulierung der kapitalistischen Wirtschaft durch den Staat und Schaffung eines breiten inneren Marktes. In einer neuen Beziehung zwischen Wirtschaft und Staat gehe es vor allem um zwei wesentliche Fragen: um die Sicherung der nationalen Unabhängigkeit und um die Lösung sozialer Fragen. Diese Linie wird von Lula gegenwärtig nur in Ansätzen realisiert. Carneiro vermutet, daß Lula den "Weg des geringsten Widerstandes" gehe, um damit weniger Opposition der politischen Gegner hervorzurufen.20 Es werde jedoch auf diesem Wege die Verwundbarkeit der brasilianischen Wirtschaft und ihre Abhängigkeit von der Entwicklung auf dem Weltmarkt keineswegs gemindert.

Carneiro sieht Probleme, die sowohl den Charakter als auch die reale Lage der Regierung Lula betreffen: Mit der Regierung Lula würden alle Widersprüche, die sich in Brasilien akkumuliert haben, verstärkt ausbrechen. Sie werde einen permanenten Raum von Konflikten und von Kampf unterschiedlicher Positionen darstellen. Wie bei einem Schachspiel würden unterschiedliche politische und wirtschaftliche Interessen miteinander ringen.

Schon allein der im "Brief an das brasilianische Volk" angekündigte nationale "Sozialpakt" habe in der Koalition der Regierung Lula die unterschiedlichsten Kräfte zusammen gebracht, die in einigen Fragen übereinstimmen, in anderen aber völlig gegensätzlich sind. Prof. José Luis Fiori, Universität Rio de Janeiro, sieht das wie folgt: "In einigen Fällen ist das eine Entgegensetzung sehr widersprüchlicher Interessen, die sich schon in der Welt der Arbeit ergeben. Aber in vielen anderen sind es sich ausschließende Interessen, die solchen sehr nahe kommen, die zu anderen Zeiten Klassenkampf genannt wurden."21 Damit ist auch gesagt, daß mit der Weiterführung des Reformprogramms neue Konflikte entstehen werden, so in Fragen einer Reform der Arbeitsgesetzgebung, der Bildungsreform, der Reform des Justizwesens etc., die sich mit dem Fortbestehen der Grundkonflikte verstärken werden. Dies sind die Auseinandersetzung mit dem internationalen Finanzkapital und die Bodenfrage.

Eine Transformation stellt die Frage nach der politischen Beziehung zwischen Gesellschaft und Macht. Die Monopolisierung des Reichtums in Brasilien ist nicht einfach Resultat aktueller neoliberaler Politik. Sie ist das Ergebnis einer langfristig wirkenden Tendenz, einer langen Geschichte des Landes, die eine Konzentration von Reichtum hervorbrachte, die über dem Maß der Konzentration von Einkommen liegt. Das bewirkte eine Einschränkung des Marktes und den Ausschluß von mindestens drei Fünfteln der Bevölkerung. Der Neoliberalismus hat diese Beziehung Reichtum-Macht ins Extrem geführt. Der brasilianische Staat ist traditionell Ausdruck und Instrument dieser "Kultur des Reichtums", d. h. der herrschenden Eliten. Zugleich bewirkt der Föderalismus des Landes eine Aufspaltung in territoriale Autarkien, die über weitgehende legislative, exekutive, juristische und wirtschaftliche Autonomie verfügen. Diese sind kooperativ organisiert.

Die lokalen und föderalen Institutionen (Staat, Polizei, Justiz) sind von oligarchischen Gruppen instrumentalisiert 22 und verteilen Ämter und Macht entsprechend klientelistischen Beziehungen. Mindestens 40 % des BIP werden zur Aufrechterhaltung dieses Systems eingesetzt und von den Eliten in Anspruch genommen. Föderale Staaten werden von Familien beherrscht.23 Korruption und Verbrechen sind Teil dieses Systems, einschließlich der Bindungen zum Drogenhandel und zum gemeinen Verbrechen.24

Jeder Versuch des Staates zur Durchsetzung eines anderen Entwicklungsmodells erfordert tiefgreifende Veränderungen der Institutionen, eine umfassende Demokratisierung des Staates und der Nation. Erste Maßnahmen wurden durch die Lula-Regierung eingeleitet, so das Programm des "Einheitlichen Systems der öffentlichen Sicherheit", das auf die Stärkung der Föderalen Polizei ausgerichtet ist.

Widerstand der alten Eliten

Im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen - Willkür örtlicher Organe, Folter, Zustände in Gefängnissen, Mordfälle 25 - entsandte die UNO eine offizielle Mission zur Untersuchung der Menschenrechtssituation in Brasilien. Im Ergebnis des Berichtes, der vor allem den Polizei- und Justizapparat als Quelle von zahllosen Willkürakten namhaft machte, gaben sowohl Präsident Lula als auch der Justizminister grünes Licht für eine internationale Untersuchung des Justizapparates. Der Präsident des Obersten Gerichtshofes des Bundes dagegen lehnte ab und untersagte der UNO-Mission den Zutritt zu den Gerichten.

Ein weiteres Beispiel für die Charakterisierung der realen Lage ist die Annullierung des Gesetzes zum Verbot des Anbaus von genmanipulierter Soja, das die Staatenregierung Paranás durchgesetzt hatte. Anfang Dezember 2003 erklärte der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes des Bundes das Bundesstaatengesetz für unwirksam, da es sich "über die Bundesgesetzgebung hinweggesetzt" habe.26

Landwirtschaftsminister Roberto Rodrigues 27 übte im Interesse der Soja-Lobby - und hier insbesondere des Monsato-Konzerns - Druck auf den Präsidenten aus, so daß dieser - entgegen den Aussagen vor seiner Wahl - eine "einstweilige Maßnahme" verfügte, nach der die Ernte des Jahres einschließlich der genmanipulierten Soja gehandelt werden kann.28

Ein weiterer Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit den alten Eliten (Latifundisten) ist die Landfrage. Vier Millionen Landlose warten darauf, angesiedelt zu werden, während 27 000 Grundbesitzer mit jeweils mehr als 15 000 Hektar Land bereit sind, ihren Besitz mit eigenen bewaffneten Milizen zu verteidigen. Bisher verloren 65 Menschen in der Auseinandersetzung um Land ihr Leben.

Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des Ex-Abgeordneten Plinio Sampaio erarbeitete einen Vorschlag, demzufolge innerhalb von vier Jahren eine Million Familien angesiedelt werden könnten. Die Kosten würden sich auf ca. 18 Mio. Reais belaufen, wobei - so wird von seiten der Gruppe betont - diese Mittel keineswegs aus den für den Schuldendienst bereitgestellten genommen werden müßten. Ihre wesentliche Quelle könnte die Emission von Landtiteln sein. Dieser Vorschlag beinhaltet vor allem aber auch eine Strategie zur Durchführung einer Agrarreform, die von Stedile als eine Agrarreform charakterisiert wird, "die vom Prinzip ausgeht, daß es erforderlich ist, den Besitz an Land zu demokratisieren, indem die großen unproduktiven Liegenschaften enteignet werden, wie das in der Verfassung Brasiliens festgelegt ist."29 In der öffentlichen Politik sind es die Interessenvertretungen dieser Eliten, wie in diesem Falle die Föderation der Agrarwirtschaft des Staates São Paulo, die die MST als "konfliktverschärfende Kraft" bezeichnen. Der Präsident der Föderation erklärte den von der Regierung erarbeiteten "Plan der Nationalen Agrarreform" als schädlich und unproduktiv.30

Nicht weniger angespannt ist die Lage in den Bundesstaaten des Amazonasgebietes. Dort ist es die nationale und internationale Holzindustrie, die Gesetze und Regelungen des Staates unterläuft und mit Gewalt und Druck versucht, ihre Interessen durchzusetzen. Seit geraumer Zeit wird ein harter Kampf um die Markierung von Indianerreservaten in den Bundesstaaten Pará und Mato Grosso geführt. Das Bundesgesetz, das den indianischen Völkern Rechte auf ihr Territorium einräumt, wird von ca. 60 Firmen zunehmend unterlaufen. Das geschieht parallel zur systematischen Vernichtung des Amazonaswaldes. 31 Der Rat der indigenen Missionare stellt deshalb fest, daß die Gewalt gegen die indigenen Völker zunimmt und im Jahr 2003 markierte Gebiete aufgelöst wurden, indigene Völker umgesiedelt werden sollen und auf Weisung des Präsidentenamtes und des Ministers José Dirceu nichtautorisierten Instanzen die Demarkierung von Gebieten übertragen wurde.32

Zweifellos sind diese Fakten bei der Bewertung der Ein-Jahres-Bilanz der Regierung Lula zu berücksichtigen. Sie ist mit einer Realität konfrontiert, die sie zu Kompromissen zwingt. Das ist so in bezug auf die Agrarreform, die nicht in der Konsequenz durchgeführt wird, wie es die PT ursächlich propagierte und wie die MST erwartet. Und das trifft auch zu für die politischen und institutionellen Reformen des Justizwesens, der Polizei und des Staatsapparates. Derzeit macht die Regierung Lula sowohl in der einen wie in der anderen Frage Zugeständnisse.

Die Außenpolitik der Regierung Lula - eine Politik im nationalen Interesse

Von den wenigsten erwartet, wurde die Außenpolitik Brasiliens zu einem besonderen Schwerpunkt der Regierung Lula. Es wurde Kurs auf eine aktive Rolle des Landes in den internationalen Beziehungen genommen, deren Inhalt in der besonderen Betonung der Souveränität des Landes besteht. Der Kurs der "Unterordnung", den FHC gefahren hatte, wurde ersetzt durch eine aktive Positionsnahme im nationalen Interesse. Ausdruck dessen war die Haltung der brasilianischen Regierung gegen die Invasion im Irak.

Ausgangspunkt für diese veränderte Position ist die Annahme, daß mit der Erweiterung des Handlungsraumes Brasiliens negative Auswirkungen der Weltwirtschaft auf die nationale Wirtschaft ausgeglichen werden können. Brasilien gedenkt in diesem Sinne die Rolle wahrzunehmen, die ihm entsprechend der Größe des Landes zukommt. Es will eine direkte Kooperation mit Ländern herstellen, die in etwa der gleichen Lage sind (insbesondere China, Indien, Südafrika und Rußland). Grundzüge dieser Politik sollen der Multilateralismus, die Verteidigung der Demokratie und des Friedens und ein gerechter internationaler Handel sein.

Priorität hat Lateinamerika, besonders der MERCOSUL.33 Der brasilianischen Außenpolitik gelang es - darin bestärkt auch durch die Entwicklungen in Argentinien und Venezuela -, den MERCOSUL neu zu beleben und in den Verhandlungen um die Schaffung der ALCA 34 Fortschritte im Sinne der lateinamerikanischen Länder zu erreichen. Brasilien war in Cancun Initiator der Bildung der Gruppe der G-20, die im Dezember 2003 in Brasília ein weiteres Treffen durchführte. Diese Gruppe fordert die Aufhebung der Subventionen für landwirtschaftliche Produkte seitens der Industrieländer und spricht sich für freien Handel mit Nahrungsmitteln im Rahmen der WTO-Vereinbarungen aus. Lula schlug auf dieser Tagung die Bildung einer Freihandelszone der Entwicklungsländer vor, was allerdings erst einmal nichts anderes beinhaltet als die Schaffung einer taktischen Allianz.

Im Lichte der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA wird es zu keinen Zugeständnissen in Fragen der ALCA seitens der Bush-Administration kommen. Das allerdings bedeutet Zeitgewinn für den MERCOSUL und wird für die Regierung Lula eine bestimmte Wegscheide darstellen: ALCAheißt weitere Bindung an den IWF, MERCOSUL hingegen heißt Entwicklung des inneren Marktes und einer stärker auf soziale Ziele ausgerichteten Politik.

Die PT im Verhältnis zur Regierung Lula und zu den sozialen Bewegungen

Die PT stellt eine politisch und ideologisch sehr heterogene Partei dar. Sie steht für Demokratie, Pluralität, Transparenz und demokratischen Sozialismus. Ihre Zielstellungen sieht sie in Reformen, die die gegenwärtige Gesellschaft grundlegend verändern, die sie aber im Rahmen der bestehenden Institutionen anstrebt. In ihr vertreten sind unterschiedliche Strömungen, die sich in unterschiedlicher Weise benennen und unterschiedliche Plattformen bilden. Die gegenwärtig dominierende ist die "Artikulation", die zwei Drittel der Mitglieder des Nationaldirektorats stellt und mit den Personen Lula, José Dirceu (Minister des Bundesamtes des Präsidenten), Antonio Palocci (Minister für Finanzen), Gushiken (Minister für Kommunikation) und Luiz Dulci (Minister des Generalsekretariats der Präsidentschaft) den dominierenden Kern der Regierung bildet. Dieser Kern bestimmt die Wirtschafts- und Finanzpolitik. José Dirceu als Minister des Bundesamtes hat als ehemaliger Präsident der PT bisher keine Anstrengungen erkennen lassen, um dagegen einen Block der vor allem sozialorientierten Ministerien zu formieren. José Genoino, Präsident der PT seit 2002, gehört ebenfalls zur Majoritätsströmung "Artikulation".35

Es ist charakteristisch für die PT, den Kampf um parlamentarische Positionen, um Positionen in bundesstaatlichen Institutionen und Kommunen zu führen. Die Zahl der Abgeordneten sowohl in der Kammer (von 58 auf 91 Sitze) wie auch in den Staatenparlamenten und kommunalen Vertretungen erhöhte sich von Wahl zu Wahl kontinuierlich. Die PT ist in Regierungsverantwortung bestrebt, eine bürgernahe kommunale Politik zu realisieren. Dazu gehört z. B. die Umsetzung des Konzepts "Bürgerhaushalt" in Porto Alegre, Belo Horizonte, Belém und anderen Orten.

Die PT unterscheidet sich von anderen, vornehmlich den bürgerlichen Parteien Brasiliens vor allem durch ihre größere Organisiertheit. Jetzt, da sie Regierungspartei ist, ist sie die größte und reichste Partei des Landes.36 "Aus der PT", sagen kritische Stimmen, "wurde ein Parteiapparat, der in der Geschichte Brasiliens keinen Vergleich findet."37 Einen mächtigen Sprung machte die PT auch hinsichtlich ihrer Mitgliederzahl: Seit 2001 erhöhte sich die Anzahl der Mitglieder von 300 000 auf 540 000, und sie soll 2004 bis auf 800 000 angehoben werden. Wie in Brasilien üblich, wurde auch eine starke Zuwanderung von Abgeordneten und gewählten Vertretern aus anderen Parteien verzeichnet. Auf Anraten und mit Unterstützung des Nationaldirektorats wechselte z. B. im März 2003 der Gouverneur des Bundesstaates Roraima, Flamarion Portela, zur PT.38 Diese Politik wird betrieben, um Mehrheitsverhältnisse nicht nur in der Abgeordnetenkammer, sondern auch unter den Gouverneuren, die eine bedeutende Rolle spielen, zu schaffen. Veränderungen in der sozia- len und politischen Zusammensetzung der Mitgliedschaft der PT sind damit vorprogrammiert.

Organisatorisch wuchs die PT auch an der Basis. Die Zahl der örtlichen PT-Gruppen erhöhte sich von 2 500 auf 5 338, womit sie auf 96 % des nationalen Territoriums Brasiliens vertreten ist. In elf Bundesstaaten ist sie in allen Gemeinden vertreten.39

Nach Einschätzung des Soziologen Emir Sader 40 war die Wahlniederlage Lulas im Jahre 1994 entscheidend für ein Umdenken in der Führung der PT. In den Mittelpunkt rückte die fiskalische Anpassung Brasiliens, während der Priorität der Sozialpolitik partiell eine Absage erteilt wurde. Allerdings sieht Sader auch in der Institutionalisierung der PT einen wesentlichen Grund für politische Veränderungen. Auf dem letzten Kongreß der PT 2001 in Recife waren drei Viertel der Delegierten Abgeordnete, Bürgermeister, Mitarbeiter des Parteiapparates usw.41 Vertreten war kaum noch die Basis der PT, und es fehlten wesentliche Teile der sozialen Bewegungen, aus denen die PT hervorging.

Mit der Veröffentlichung des "Briefes an das brasilianische Volk" veränderte sich der Inhalt der Wahlkampagne Lulas: Angestrebt wurden nun eine Allianz mit Sektoren des Großunternehmertums und die Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber dem IWF. Ein neues Modell - so heißt es im Brief - sei das "Ergebnis eines breiten nationalen Dialoges, der zu einer authentischen Allianz, zu einem neuen sozialen Pakt führt". Dieser Pakt wird im Sinne dieser Politik mit dem Ziel angestrebt, die Schwäche der öffentlichen Finanzen zu beseitigen und die Exporte Brasiliens qualitativ zu verändern, d. h. eine Politik zu betreiben, die das Agrobusiness und die Familienbetriebe stärkt.

Im Staat Mato Grosso wurde 2002 im ersten Wahlgang Blairo Maggi zum Gouverneur gewählt. Maggi ist der "König der Soja" in Brasilien.42 Maggi ist dabei, aus dem Staate Mato Grosso das "Mekka des Agrobusiness" zu schaffen, wobei er "Tabus bricht und neue Paradigmen schafft."43 Maggi hat die direkte Unterstützung Präsident Lulas, der das "Programm der Partnerschaft öffentliche Hand und Privatwirtschaft" als Beispiel für Brasilien verwenden will. Maggi ist ein Vertreter der neuen Eliten Brasiliens, die eine Politik der Modernisierung betreiben und die Exportstärke Brasiliens repräsentieren. Er realisiert soziale Programme (Vergabe von 200 Landtiteln, Bau der Transpantaneira, Einschränkung der indigenen Reservate) und schafft damit neue soziale Abhängigkeiten. Mit der Orientierung auf eine Allianz mit den neuen Eliten des Landes ergeben sich für die PT neue Beziehungen, aber auch Abhängigkeiten, die sich in der Regierungspolitik widerspiegeln.

Nach wie vor hat Präsident Lula in den Umfragewerten gute Ergebnisse (ca. 40 % unterstützen seine Politik). Breite Kreise der Bevölkerung sehen in ihm einen Mann des Volkes. Allerdings haben der Wahlsieg und die durch die Regierung propagierten Programme und Erfolge auch dazu beigetragen, daß ein Abklingen politischer Aktivitäten zu verzeichnen ist. Eine Politik, wie sie bei der Durchführung des Programms "Null Hunger" deutlich wird, ruft den Protest vor allem der Pastoralen Gemeinschaften der katholischen Kirche hervor, die über Jahre auf Eigenverantwortung der Menschen vor Ort hingearbeitet haben. Sie befürchten eine Rückkehr zu alter klientelistischer Politik, wenn die Verteilung der Güter des Programms in die Hände von Bürgermeistern und Abgeordneten gegeben wird.

Die mit dem Ausschluß der "radikalen" Gruppe vollzogene Zäsur wird Auswirkungen auf das Verhältnis der einzelnen Strömungen zueinander haben. Die verbalen Attacken gegen intellektuelle Teile der PT, so von Seiten José Dirceus, werden das Verhältnis dieser Kräfte zur PT und zur Regierung vorerst nicht verändern. Schon jetzt ist absehbar, daß sich damit außerhalb der PT ein kritischer Pol aufbaut, der nicht ablassen wird, die Politik und die Orientierung der Regierung zu kritisieren. "Was wir beabsichtigen, ist die Schaffung eines Forums von Debatten, in dem sich nicht nur die treffen, die aus der PT austreten, sondern auch solche wie wir, die wir den Kampf innerhalb der PT fortsetzen werden."44

Der "Estado de São Paulo", dem keine linken Positionen unterstellt werden können, kommt zu der Schlußfolgerung, daß "die Linke in der PT Niederlagen einstecken mußte" und "dieser Teil in der PT immer weniger Spielraum hat."45 Seine Prognose lautet: "Niemand in der PT verschweigt, daß die PT die politische, soziale und kulturelle Hegemonie im Lande anstrebt. Ein Ziel, das nicht erreicht werden kann, ohne eine rigorose Reform der Konzeptionen vorzunehmen."

Die grundsätzliche Feststellung eines Strebens nach Hegemonie ist zweifellos richtig. Bezweifelt aber werden muß, ob die PT damit ihren Charakter grundsätzlich verändern wird. Vieles spricht dafür, daß die PT politisch stärker ausgeprägte zentristische Positionen einnimmt. Die Auseinandersetzungen um die zentralen Fragen Brasiliens aber werden damit auch nicht Halt vor der PT und ihrer Führung machen. Der Weg von einer Oppositionspartei zur regierenden Partei ist für sie neu. Es ist nicht gelungen, die Autonomie der Partei gegenüber der Regierung zu bewahren. Francisco de Oliveira verweist eben vor allem auf diesen Zusammenhang: "Die PT Â… bildete sich auf einem langen Wege der Bewegung gegen die Diktatur, in der sie einen festen Platz einnahm und eine zentrale Rolle spielte." Sie "kritisierte den Neoliberalismus und organisierte die Arbeiter und zeigte den Weg zum Sozialismus auf, was alles nicht gegen ein Linsengericht eingetauscht werden kann."46

Das Sozialforum Brasiliens im November 2003 war geprägt von der Haltung der Mehrheit der sozialen Bewegungen, die Regierung Lula auch weiterhin zu unterstützen, aber auch Kritik zu üben, wenn die Politik nicht das bringt, was versprochen wurde. Das Jahr 2004 ist das Jahr der Kommunalwahlen in Brasilien. Die PT wird große Anstrengungen unternehmen, um ihre Mandate auf kommunaler Ebene auszubauen.

Das Jahr 2004 wird ein entscheidendes sein. Noch besteht die Möglichkeit, aus der Schere, die sich auftut, herauszukommen und die Wende zu vollziehen, die Brasilien braucht. Die Chance zu Veränderungen, die sich mit der Regierung Lula aufgetan hat, darf nicht leichthin vergeben werden. Es bleibt abzuwarten, ob es die Regierung Lula schafft, sich "dem Parfümduft der Eliten" zu widersetzen und eine Politik mit dem "Geruch des Volkes" durchzuführen.

Joachim Wahl - Jg. 1936; Politikwissenschaftler; nach Studium am Institut für Internationale Beziehungen in Moskau von 1965 bis 1989 Tätigkeit in verschiedenen Ländern Afrikas und Lateinamerikas; seit Ende 2002 Leiter des Regionalbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo (Brasilien).

1 Die Koalitionsregierung wurde gebildet von der PT, der PC do B (Kommunistische Partei Brasiliens), der PDT (Demokratische Arbeiterpartei), der PPS (Sozialistische Volkspartei), der PSB (Brasilianische Sozialistische Partei), der PTB (Brasilianische Arbeiterpartei), der Grünen Partei (PV) und der bürgerlichen Liberalen Partei (PL). Die PDT ist inzwischen aus der Koalition ausgeschieden, da sie die Politik der Regierung Lula ablehnt.

2 Aus der PT wurden auf der Tagung des Nationaldirektoriums mit 55 gegen 26 Stimmen ausgeschlossen: Heloísa Helena, Senatorin, Staat Alagoas; Joao Batista ›Babá‹, Staat Pará; Luciano Genro, Staat Rio Grande do Sul; Joao Fontes, Staat Ceará.

3 Die Sozialversicherungsreform (oder Rentenreform), die im August 2003 vom Abgeordnetenhaus von 358 gegen 126 Stimmen angenommen wurde, sieht eine Angleichung der Renten zwischen Staatsangestellten und privaten Arbeitnehmern vor. Entgegen der bisherigen Praxis - Zahlung entsprechend dem letzten Gehalt in voller Höhe - soll die Rente 60-70 % des Einkommens der aktiven Zeit ausmachen. Das Rentenalter (Frauen 55, Männer 60) wird heraufgesetzt. Es wird eine Höchstrente von 2400 Reais festgesetzt.

4 Folha de São Paulo, 15. Dezember 2003.

5 Teoria e Debate, Nr. 55, September/November 2003, S. 8. - Luiz Marinho war auf dem CUT-Kongreß im April 2003 ins Amt des CUT-Präsidenten gewählt worden. Als Gewerkschaftsfunktionär gilt er als ein Mann Lulas. Das Interview, aus dem zitiert wurde, ist betitelt mit "Eine schwierige Beziehung".

6 Abschlußdokument des XI. Treffens des São Paulo Forums vom 2. bis 4. Dezember 2002 in Antigua, Guatemala.

7 Oliveira ist Leiter der Abt. Soziologie an der Fakultät für Philosophie, Literatur und Humanwissenschaften der Universität Sao Paulo und Koordinator des Studienzentrums der Bürgerrechte. Siehe in UTOPIE kreativ seinen Beitrag "São Paulo als ›Lackmustest‹ der Partizipativen Haushaltsführung", Heft 158 (Dezember 2003), S. 1117-1125.

8 Folha de São Paulo, 14. Dezember 2003. Fernando Henrique Cardoso (FHC) war Präsident Brasiliens in den beiden Wahlperioden von 1994 bis 2002.

9 Carta Capital, Nr. 268, XI/2003, S. 33.

10 www.pt.org.br/noticias, 18. Dezember 2003. Am 21. November 2003 wurde in Brasília der "Nationale Plan der Agrarreform" veröffentlicht. Der Plan sieht u. a. vor: Enteignung ungenutzten Landes, produktive Integration verschiedener landwirtschaftlicher Segmente im Rahmen eines territorialen Entwicklungsplanes, Schaffung neuer Arbeitsplätze für landlose Bauern, Förderung der Familienbetriebe, Kreditvergabe an Familienbetriebe aus dem Verkauf von Landtiteln (TDA).

11 www.pt.org.br/noticias, 18. Dezember 2003.

12 Die Zahlenangaben entstammen der Resolution des Nationaldirektorats der PT v. 13. Dezember 2003.

13 www.pt.org.br/noticias, 18. Dezember 2003. Eine Mehrheit in der Kammer und im Senat kann die PT nur erreichen, wenn sie sich mit Teilen der PSDB (Sozialistische Demokratische Partei Brasiliens) und der PMDB (Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens) einigt.

14 Die Resolution war von der Mehrheitsgruppe, der "Artikulation", dem Nationaldirektorat vorgeschlagen worden und wurde mit 46 von 73 Stimmen angenommen.

15 Folha de São Paulo, 14. Dezember 2003.

16 Der Brief wurde am 22. Juni 2002 veröffentlicht. Er wurde nicht von der Basis, sondern nur im Nationaldirektorat verabschiedet. Vgl. auch www.pt.org.br/documentos.

17 Koalitionspartner ist die Partido Liberal (PL); deren Vorsitzender, José Alencar, ist Vizepräsident Brasiliens. Alencar ist einer der größten Textilproduzenten Brasiliens. José Dirceu in seiner Rede zum Amtsantritt im Januar 2003: "Wir gingen eine breite, generöse Allianz ein. José Alencar repräsentiert diese Allianz. Wir als linke Partei streckten unsere Hand dem brasilianischen Unternehmertum aus und schlugen einen Pakt vor." Vgl. PT Noticias, Nr. 97, 2003.

18 Folha de São Paulo, 14. Dezember 2003. Die Zentralbank betreffend hat die Regierung am 18. März 2003 eine Absichtserklärung abgegeben, laut der mit dem IWF vereinbart werden soll, ehemalige staatliche föderale Banken zu privatisieren und die Autonomie der Zentralbank zu realisieren.

19 Brasil de Fato, 18.-24. Dezember 2003. - Ricardo Carneiro hat an der Ausarbeitung des Wirtschaftsprogramms für die zukünftige Regierung Lula im Auftrag des "Instituto da Cidadania ", das den Wahlkampf Lulas mitführte, maßgeblich teilgenommen. Carneiro ist Direktor des Studienzentrums für Konjunktur und politische Ökonomie an der Universität Campinas.

20 Interview mit Ricardo Carneiro in www.portoalegre2003.org/publique/, 16. Dezember 2003.

21 Carta Maior, 10. September 2003.

22 Beispiel: Brasilien verfügt über 700 000 Mann Militär- und Zivilpolizei, von denen nur 7000 der Föderalen Polizei des Bundes angehören; alle anderen sind Polizei der Bundesstaaten!

23 Im Bundesstaat Bahia dominiert die Familie von Antonio Carlos Magalhaes: einem Gouverneur, Senator, Ex-Minister, Präsidenten der Partei der Liberalen Front (PFL), der in der Militärdiktatur zu den Mächtigsten gehörte und heute Präsident der TV Globo Bahia ist.

24 Rio de Janeiro war 2003 Ort einer spektakulären Welle von Gewalt, die seitens lokaler Drogenbosse gegen die Antikorruptionsmaßnahmen der Regierung in Gang gesetzt wurde.

25 Allein in indigenen Gebieten gab es im Jahre 2003 23 Morde an Dorfältesten und indigenen Vertretern. Vgl. Brasil de Fato, 18.-24. Dezember 2003.

26 Brasil de Fato, 18.-24. Dezember 2003.

27 Roberto Rodrigues war Präsident der brasilianischen Assoziation des landwirtschaftlichen Handels, er ist Eigentümer einer Soja- Plantage von 4 000 Hektar Größe im Staate Maranhão und Befürworter des Anbaus von genmanipulierten Sojabohnen.

28 Nach Angaben des Landwirtschaftsministeriums werden 13-14 % der kommenden Ernte genmanipulierte Soja sein. Vgl. el Diplo, Dezember 2003.

29 Teoria e debate, Nr. 55, S. 40.

30 Primeira Leitura, Nr. 22, Dezember 2003.

31 Gegenüber dem Jahr 2000 hat diese Vernichtung um 40 % zugenommen. Vgl. Brasil de Fato, 18.-24. Dezember 2003.

32 Ebenda.

33 MERCOSUL ist der mit dem Vertrag von Asunción im Jahre 1991 geschaffene, auf eine Vereinbarung zwischen Argentinien und Brasilien aus dem Jahre 1986 zurückgehende Gemeinsame Markt, dem als Gründungsmitglieder Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay angehören und dem 1996/97 Chile und Bolivien beigetreten sind.

34 ALCA ist die Freihandelszone der beiden Amerikas.

35 José Genoino, hieß es in einer Erklärung von ausgetretenen PT-Mitgliedern im Dezember 2003, agiere "nicht als Präsident einer pluralistischen Massenpartei, sondern als Anhängsel der Regierung", in: Jornal do Brasil, 14. Dezember 2003.

36 Von 2000 bis heute haben sich die Einnahmen der Partei um 240 % - von 24,3 Mio. auf 83 Mio. Reais - erhöht. Vgl. Epoca, 15. Dezember 2003, S. 32.

37 So der Politikwissenschaftler Rui Tavares von der Universität Campinas.

38 Flamarion wurde kurze Zeit später mit Veruntreuung von Bundesgeldern in seinem Staate in Verbindung gebracht, so daß er sich für einige Zeit von der PT "beurlauben" ließ. Im Staate Roraima sollen runde 230 Mio. Reais Staatsmittel verschwunden sein. Vgl. Folha de São Paulo, 13. Dezember 2003.

39 Epoca, 15. Dezember 2003, S. 34.

40 Sader ist Professor an der Universität in São Paulo und an der Universität des Staates Rio de Janeiro. An der letzteren ist er zugleich Koordinator des "Laboratoriums für öffentliche Politik".

41 Sader in "Brasilien in Frage. Wirtschaftliche, soziale und politische Analyse", Nr. 1, Dezember 2003, Universität Rio de Janeiro, S. 84-85.

42 Maggis "Imperium" umfaßt 162 000 Hektar bebauten Landes mit einer geschätzten Ernte von 550 000 Tonnen Soja, Mais, Baumwolle. Umsatz 2003: 550 Mio. US$, für Exporte vorgesehen: Produkte im Werte von 400 Mio. US$.

43 Primeira Leitura, 12. Dezember 2003. - Maggi wurde von der PPS (Sozialistische Volkspartei, eine der Nachfolgeparteien der Brasilianischen KP) als Kandidat aufgestellt und gewählt. Interessanter Fakt: Während der Wahl hatte er nur die Unterstützung von 20 von 139 Bürgermeistern des Staates. Heute hat er eine Mehrheit!

44 Carlos Nelson Coutinho im Interview im Jornal do Brasil, 14. Dezember 2003.

45 Estado de São Paulo, 17. Dezember 2003.

46 Folha de São Paulo, 14. Dezember 2003.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 167 (September 2004), S. 838-849

 

 

aus dem Inhalt:

Essay HANS JÜRGEN KRYSMANSKI Die Privatisierung der Macht stabilisiert sich. Überlegungen zur Monetarisierung des Politischen; Krieg & FriedenWOLFGANG SCHELER Welt ohne Krieg? Vom Gewaltfrieden zum gerechten Frieden; GREGOR SCHIRMER Völkerrecht als Friedensinstrument; "Generalplan Ost" und die Vertreibungen DIETRICH EICHHOLTZ "Generalplan Ost" zur Versklavung osteuropäischer Völker; JINDRICH FILIPEC Die "Benes-Dekrete" - Zusammenhänge und Bedeutung; EVA ROMAN-ZUKOWICZ Eine polnische Sicht: Die Aussiedlung der Deutschen; KLAUS EHRLER Das Münchener "Abkommen" - die völkerrechtswidrige Ermächtigung zur Okkupation; ECKART MEHLS Die Benes-Dekrete im historischen und aktuellen Kontext; Standorte JOACHIM WAHL Die Regierung Lula nach ihrem ersten Jahr; Festplatte WOLFGANG SABATH Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Leilian Zhao: Gesellschaftskritik in Heines Lutezia. Unter besonderer Berücksichtigung der chinesischen Heine-Rezeption (THEODOR BERGMANN); Michael Schmidt, Andrea Maurer (Hrsg.): Ökonomischer und soziologischer Institutionalismus (ULRICH BUSCH); Fjodor Dostojewski: Tagebuch eines Schriftstellers. 1873-1881 (MARTIN SCHIRDEWAN); Werner Abelshauser: Kulturkampf. Der deutsche Weg in die Neue Wirtschaft und die amerikanische Herausforderung (JÖRG ROESLER); Michael Schumann: Hoffnung PDS. Reden, Aufsätze, Entwürfe 1989-2000 (WERNER ABEL); Summaries