Harsche Bedingungen für Osteuropas Rückkehr nach Europa:

Warum gibt es nicht mehr Widerstand?

Am 1. Mai 2004 wird die Europäische Union (EU) um 10 neue Mitglieder erweitert, acht von ihnen sind Länder aus Mitttelosteuropa (MOE). Damit hat die EU weitreichende Konsequenzen aus dem ...

Einleitung

Am 1. Mai 2004 wird die Europäische Union (EU) um 10 neue Mitglieder erweitert, acht von ihnen sind Länder aus Mitttelosteuropa (MOE).[i] Damit hat die EU weitreichende Konsequenzen aus dem Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" und dem Ende der Nachkriegsordnung gezogen. Sie trägt den Hoffnungen der osteuropäischen Gesellschaften Rechnung, die lange Zeit in der "Rückkehr nach Europa" das Ziel ihrer politischen und ökonomischen Transformation gesehen haben. Aber auch aus Sicht der EU Akteure scheinen gute Gründe für die Erweiterung zu sprechen. Das Beitrittsangebot an die osteuropäischen Staaten und die daran geknüpften Bedingungen haben es der EU erlaubt, den gegenwärtigen normativen politischen und ökonomischen Rahmen der EU gesamteuropäisch auszudehnen und die osteuropäischen Staaten in das regionalistische Projekt eines neoliberalen Europas einzubinden.

Trotz dieser Vorteile für die EU geht die Erweiterungsforschung zumeist davon aus, dass die Beitrittskandidaten die Hauptgewinner der Erweiterung sind. Moravcsik/Vachudova (2003) argumentieren beispielsweise, dass die Nutzen einer Mitgliedschaft für die neuen Kandidaten so groß ist, dass diese dafür auch bereit sind, den größten Teil der Anpassungskosten zu tragen. Sie führen fort: "Das größte Puzzle, dass die Erweiterung stellt, ist daher nicht warum die Kandidaten so begierig auf die Mitgliedschaft warten, sondern warum die EU bereit ist, sie hereinzulassen." (Moravcsik/Vachodova 2003: 10, Übersetzung D.B.). Sedelmeier (2001) geht noch einen Schritt weiter, wenn er argumentiert, dass die EU Entscheidung zur Erweiterung aus rationalistischer Perspektive unerklärbar sei und vielmehr einer "besonderen Verantwortung" der EU gegenüber den MOE zu verdanken sei.

Eine solche Sichtweise muss aber kritisch hinterfragt werden. Gerade in den letzten Jahren der Verhandlungen hat sich gezeigt, dass die EU derzeit nicht bereit ist, den neuen Mitgliedern sofort die gleichen ökonomischen und sozialen Rechte einzuräumen wie den Altmitgliedern. Sowohl in den Bereichen der finanziellen Transfers wie der Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen werden die Neumitglieder stark benachteiligt. Diese - zumindest übergangsweise - Mitgliedschaft zweiter Klasse ist das Ergebnis mühseliger Verhandlungen zwischen der EU und den MOE, die letztere zu mehr und mehr Konzessionen gezwungen hat. Im folgenden were ich das Muster der EU-MOE Beziehungen und die Vorteile, die wesentlichen EU Akteuren daraus entstehen, kurz nachzeichnen. Anschliessend gehe ich der Frage nach, was die Beitrittskandidaten dazu motiviert hat, trotz der zunehmend harscher werdenden Bedingungen so drängend die Mitgliedschaftsperspektive einzufordern. Abschliessend werde ich einige Grenzen des EU-MOE Kompromisses skizzieren.

Das Muster der EU-MOE Beziehungen[ii]

Die Beziehungen zwischen der EU und ihren östlichen Nachbarn haben sich über die 1990er Jahre nur sehr zögerlich entwickelt, und lange Zeit hatte es den Anschein, dass die EU versuchte, die MOE eher auf Distanz zu halten. Obwohl sich die konkrete Architektur der Osterweiterung erst gegen Ende der 1990er Jahre abgezeichnet hat, ist jedoch von Anfang an ein klargeschnittenes Muster in den Beziehungen zwischen der EU und den MOEL erkennbar.[iii] Dieses ist von einer asymmetrische Machtbeziehung zwischen der EU und den MOEL, sowie einem hohen Grad an Konditionalität charakterisiert.

Dass zwischen der EU und den MOE-Beitrittskandidaten asymmetrische Machtbeziehungen bestehen, ist nicht überraschend. Ökonomisch und politisch ist die EU der stärkere Part in den Beziehungen, und es sind die MOEL, die dem Club beitreten wollen. Die EU hat diese Ausgangsbedingungen jedoch über die 1990er Jahre kontinuierlich verstärkt, indem sie auf einer bilateralen und differenzierten Behandlung der einzelnen Kandidaten beharrte. In der Folge hat sich ökonomisch ein regionalwirtschaftliches Naben- und Speichensystem herausgebildet, in dem die einzelnen osteuropäischen Volkswirtschaften strahlenförmig auf das westeuropäische Zentrum hin ausgerichtet werden (Gowan 1995). Politisch hat die bilaterale und differenzierte Herangehensweise der EU einen Wettlauf der einzelnen MOE um die vordersten Plätze bei der Mitgliedschaft geführt. Dieser Wettlauf wurde durch das regelmässige Ranking, welches die EU in ihren Fortschrittsberichten aufstellt, geschürt.

Der Wettlauf um die Mitgliedschaft wird verstärkt durch das hohe Maß an Konditionalität, welches die EU an die Perspektive der Mitgliedschaft geknüpft hat. Gemäß der Kopenhagen-Kriterien[iv] müssen die Beitrittskandidaten in der Lage sein, politische Stabilität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Respektierung der Menschen- und Minderheitenrechte, die Existenz einer funktionierenden Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck in der Gemeinschaft standhalten zu können, zu garantieren. Diese Kriterien wurden im Laufe der 1990er Jahre zunehmend konkretisiert, und sie begründen, dass die gegenwärtigen Verhandlungen wesentlich stärker von einseitig von der EU vorgegebenen Bedingungen geprägt sind als voherige Erweiterungsverhandlungen (Preston 1997). Die Fortschritte der Kandidaten in der Erfüllung der Kriterien wurde von der EU Kommission regelmässig evaluiert, und als Gundlage für die Entscheidung genommen, welche Kandidaten letztendlich tatsächlich der EU beitreten können.

Mit der Etablierung ungleicher Machtbeziehungen und dem hohen Grad an Konditionalität hat sich die EU einen starken Einfluß in MOE gesichert. Diesen nutzt sie insbesondere, um die Kernbereiche ihres Deregulierungsprogrammes - vor allem die Handelsliberalisierung, sowie wesentliche Bestimmungen des gemeinsamen Binnenmarktes - zu exportieren. Gleichzeitig hat sie jedoch die Ausdehnung all derjenigen Politikbereiche, die den Transformationsprozess in MOE erleichtert und/oder sozial abgefedert hätten - wie einen gleichberechtigten Marktzugang, substanzielle finanzielle Transfers oder die Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen - immer weiter hinausgezögert. Bis vor kurzem war die Annahme weit verbreitet, dass diese Benachteiligung mit dem Beitritt ein Ende haben würde. Die Beitrittsvereinbarungen vom Dezember 2003 haben jedoch deutlich gemacht, dass die EU bislang nicht gewillt ist, den neuen Mitgliedern die gleichen sozialen und ökonomischen Rechte einzuräumen wie den alten. Dies betrifft insbesondere den finanziellen Rahmen der Erweiterung, sowie die Arbeitnehmerfreizügigkeit.[v] Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist dabei nicht nur eine der Grundfreiheiten des Binnenmarktes. In den letzten Jahren hat sie sich im Zusammenhang mit der Unionsbürgerschaft und der Grundrechtecharta zu einem Grundrecht entwickelt (Maas 2002). Die Tatsache, dass die EU in diesem zentralen Feld Übergangsfristen durchgesetzt hat, lässt die Vermutung aufkommen, dass die Osterweiterung "als Beitritt ‚zweiter KlasseÂ’ angelegt" ist (Dräger 2002: 10). Die Übergangsregelung gibt den EU-Ländern die Möglichkeit, während maximal 7 Jahren die Freizügigkeit auszusetzten. Waren zunächst vor allen Dingen Deutschland und Österreich an dieser Übergangsregelung interessiert, so beabsichtigen mittlerweile fast alle EU Länder die Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Nepszabadsag, verschiedene Ausgaben).

Ursachen für die selektive Integration MOEs

Wie ist diese selektive Ausdehnung des acquis communautaire (d.h. der existierenden Regulierungen und Vereinbarungen der EU) nach Osteuropa zu erklären? Ich sehe eine zentrale Antwort auf diese Frage in den herrschenden Kräfteverhältnissen in der EU. Kurz zusammengefasst gibt es eine Gruppe von sozioökonomischen Akteuren, nämlich das transnationale Kapital, welches zwar die Osterweiterung unterstützt und von dieser profitiert, aber kein allzugrosses Interesse an der Ausweitung der sozialen oder kompensatorischen Politiken auf die Beitrittskandidaten hat. Transnationale Kapitalgruppen nutzen die Integration der osteuropäischen Produktionskapazitäten, mitsamt der vergleichsweise niedrigen Lohnkosten und hoch qualifizierten Arbeitskräfte zur Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf europäischen und internationalen Märkten. Die Direktinvestitutionen in die MOEL sind seit Mitte der 1990er Jahre stetig angestiegen (EBRD 2002). Sie fließen sowohl in strategischen Sektoren (wie Finanzsektor oder Telekommunikation) wie in die industriellen Leitsektoren. Die Einbindung der osteuropäischen Produktionsstandorte dient westlichen Unternehmen der Restrukturierung ihrer Wertschöpfungsketten (vgl. beispielsweise Kurz/Wittke 1998). Kurz/Wittke (1998) unterscheiden zwei grundlegende Muster dieser Restrukturierung: der least-cost approach, in welchem arbeitsintensive Fertigungsschritte von West nach Ost ausgelagert werden; und die komplementäre Spezialisierung, die mit know-how Transfer und der Ansiedlung von höherwertigen Unternehmensfunktionen einhergehen kann. Das Hauptziel letzterer Investitionen ist die Erschließung eines komplementären Marktpotentials wie etwa die Erweiterung der Produktpalette für ein speziell auf die "emerging markets" zugeschnittenen Produktes.

Transnationales Kapital gehört zu den stärksten Befürwortern der Osterweiterung (Inotai 1999, ERT 2001). Es ist allerdings nicht notwendigerweise an der Ausdehnung der Agrarpolitik oder Strukturfonds interessiert, und ist vermutlich auch gegenüber der Frage der Arbeitskräftemobilität ambivalent. Gerade Industrien, die in ihren Internationalisierungsstrategien auf die Nutzung der qualifizierten und vergleichsweise billigen Arbeitskräfte in MOE setzen, werden kein Interesse an der Abwanderung dieser Arbeitskräfte nach Westen haben.

Umgekehrt sind schwächere EU Akteure, wie die Eliten der peripheren EU Länder, oder Gruppen, die von den bisherigen Umverteilungspolitiken der EU profitiert haben, wie die Landwirtschaft, gar nicht oder nur bedingt bereit, deren Ausdehnung auf die MOEL zu unterstützen, da sie verschärfte Verteilungskonflikte, die zu ihren Lasten ausgehen werden, befürchten (vgl. beispielsweise Vachudova 2001). Westeuropäische Gewerkschaften haben sich zudem für die Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit stark gemacht (Bohle/Husz 2003). Es sind zum Teil die Auseinandersetzungen um die zu erwartenden Verteilungskonflikte, die das Bild entstehen lassen, dass die EU weniger Vorteile aus der Erweiterung zieht als die neuen Mitglieder. Dieser Eindruck sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass zentrale EU Akteure zu den Gewinnern der Erweiterung gehören, und es den schwächeren Akteuren bislang gelungen ist, die Verteilungskonflikte hinauszuschieben, so dass sich umgekehrt die Vorteile für die neuen Mitglieder verringern. Die herrschenden Kräfteverhältnisse und Kompromissstrukturen in der EU haben sich damit über die 1990er Jahre in zunehmend schärferen Aufnahmebedingungen für die neuen Mitglieder niedergeschlagen, und damit zu Frustrationen in MOE geführt (vgl. beispielsweise Grzymala-Busse/Innes 2003).

Die ökonomischen Kosten der Annäherung an die EU

Aber auch ökonomisch hat die Annäherung an die EU bislang diesen Ländern nicht das gegeben, was sie sich vermutlich erhofft hatten. Über die 1990er Jahre haben die MOEL die Charakteristika einer Semiperipherie entwickelt: duale ökonomische Strukturen und prekäre Wachstumsperspektiven (Neunhöffer/Schüttpelz 2002). Unter dem Einfluß ausländischer Investoren erfolgt eine selektive Aufwertung und Modernisierung ökonomischer, regionaler und sozialer Strukturen, und deren Anbindung an einen transnationalen Verwertungsraum. Dieses modernisierte Segment koexistiert mit den problematischeren Erbschaften des alten Systems: Schwerindustrie, Landwirtschaft etc. Die Übernahme der Kosten für die Restrukturierung und die soziale Abfederung dieser Sektoren, an denen die Modernisierung bislang weitgehend vorbeigegangen ist, obliegt den jeweiligen osteuropäischen Staaten. Da die Unterstützungsleistungen der EU in dieser Hinsicht nicht sehr grosszügig sind, bleiben die MOE Staaten allein mit ihren Sorgenkindern. Dies bedeutet enorme finanzielle, politische und soziale Lasten, für deren Bearbeitung nur ein extrem geringer  Handlungsspielraum vorhanden sind.

Auch die Wachstums- und Aufholperspektiven der Beitrittskandidaten sind bislang nicht stabil zu nennen. Das BIP/Kopf der 10 Beitrittskandidaten lag 2000 bei etwas über 40% des EU-Durchschnitts (Eurostat, zitiert in Neunhöffer/Schüttpelz 2002). Ein - geringer - Aufholprozess gegenüber Westeuropa konnte erst ab der 2. Hälfte der 1990er Jahre festgestellt werden, aber selbst dieser Aufholprozess gilt nicht für alle Länder. Rumänien, Bulgarien, und die Tschechische Republik fielen vielmehr in diesem Zeitraum gegenüber der EU zurück (ebda).

Insgesamt kann also konstatiert werden, dass während der 1990er Jahre die Kosten der Anpassung der MOE an die EU immer deutlicher und gleichzeitig die Nutzen immer unsicherer wurden. Was hat die MOE veranlasst, die Mitgliedschaftsperspektive einzufordern, und trotz dieser Dynamik am eingegangenen Kurs festzuhalten?

Rückkehr nach Europa ohne Alternativen

Die Tatsache, dass die MOEL bislang die von der EU vorgegebenen Bedingungen (fast) widerspruchslos erfüllt haben, ist natürlich wesentlich auf das existierende Machtgefälle zurückzuführen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die MOEL reine policy taker sind. Im Gegenteil, in den meisten Fällen suchten die Reformeliten selber aktiv die Unterstützung der internationalen Finanzorganisationen, förderten die Ansiedlung ausländischen Kapitals und drängten auf einen möglichst schnellen EU-Beitritt. Ich sehe insgesamt drei Ursachen, warum die MOEL die Mitgliedschaftsperspektive eingefordert und trotz zunehmender Konzessionen, die ihnen abverlangt wurden, auch beibehalten haben: Erstens die spezifischen gesellschaftlich-ideologischen Ausgangsbedingungen nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus, zweitens die gesellschaftlichen Konsequenzen der neoliberalen Transformation und EU-Annäherung und drittens die politischen Konsequenzen der EU-Annäherung.

Zentral für die Herausbildung des osteuropäischen Projektes der "Rückkehr nach Europa" war erstens der Zusammenbruchs des Staatssozialismus und die vollständigen Delegitimierung der alten Ordnung. Fast alle MOE schlugen Anfang der 1990er Jahre einen radikal neuen, neoliberalen Entwicklungspfad ein. Der Neoliberalismus hat sich als so attraktiv erwiesen, weil er die radikalste Kritik am staatssozialistischen System darstellt (Szacki 1995). Neoliberale Reformer konnten sich jedoch nicht auf etablierte gesellschaftliche Gruppen und spezifische nationale Projekte stützen. Die bürgerlichen Revolutionen Osteuropas erfolgten ja bekanntermassen ohne Bourgeoisie. Die Träger der neoliberalen Reformprojekte waren daher zumeist Intellektuelle und staatliche Eliten, die häufig nur eine geringe gesellschaftliche Verankerung hatten. Sie suchten daher von Anfang an die externe Absicherung ihres Projektes. Zunächst war hierfür die Unterstützung der Internationalen Finanzorganisationen (IWF und Weltbank) entscheidend (Greskovits 1998). Der EU-Mitgliedschaft kam jedoch schnell eine wesentlich zentralere Bedeutung zu. Die EU repräsentierte genau das, was die osteuropäischen Staaten historisch nicht erreicht hatten und jetzt in ihre unmittelbare Nähe zu rücken schien: ökonomischer Reichtum, stabile Demokratien und eine internationale Integration, die auf der gleichberechtigten Teilnahme der Mitgliedstaaten zu beruhen scheint. Die "Rückkehr nach Europa", die gleichbedeutend ist mit der EU-Mitgliedsschaft, bildete daher nicht nur einen weiteren externen Anker für interne Reformen, sie liefert den osteuropäischen Gesellschaften auch eine ideologische Grundlage, die sie über lange Zeit die Härten der neoliberalen Transformation erdulden läßt.

Zweitens führten über die 1990er Jahre die neoliberalen Reformen und die Anpassung an die EU-Normen zu einer Restrukturierung der internen gesellschaftlichen Kräftverhältnisse in den MOEL und der Herausbildung einer neuen gesellschaftlichen Basis für das Europäisierungsprojekt. Wie weiter oben kurz angedeutet, ist die hohe ausländische Penetration strategischer Segmente der meisten MOE Ökonomien ein zentrales Ergebnis der Transformation ohne einheimische Bourgeoisie. Transnationale Konzerne operieren dabei nicht nur auf dem ökonomischen Terrain, sie organisieren sich auch politisch, und beeinflussen die Erweiterungspolitik in den MOE. In Ungarn wurde beispielsweise 1997 der "Investorenrat" gegründet, der aus ca. 40 multinationalen Konzernen sowie deren Lobbyorganisationen besteht. Voraussetzung für die Mitgliedschaft im Investorenrat sind Investitionen von mehr als 100 Millionen USD, eine Regel, die ungarische Investoren nicht de jure, aber de facto ausschliesst. Der Rat trifft sich zweimal jährlich zu nicht-öffentlichen Beratungen, häufig im Beisein des Ministerpräsidenten (Bohle/Husz 2003). Auch der European Roundtable of Industrialists (ERT), eine zentrale Eliteorganisation europäischen transnationalen Kapitals, hat seit 1999 sogenannte Erweiterungsräte in einzelnen MOEL eingerichtet, die als Verbindungsglied zwischen den nationalen Regierungen, der ERT Arbeitsgruppe Erweiterung und der Europäischen Kommission fungieren, mit dem Ziel, eine zügige Erweiterung herbeizuführen (ERT 2003).

Gegenüber diesen Kräften haben sich in den Beitrittskandidaten zumeist keine gesellschaftlichen Gruppen herausgebildet, die eine Alternative zum eingeschlagenen Pfad vertreten. Das einheimische Kapital ist häufig entweder als Zulieferer oder Partner des westlichem Kapitals auf die Transtionalisierung und Europäisierung angewiesen und vertritt damit keine unabhängigen Positionen.[vi] Gleichzeitig hat der Zusammenbruch des Staatssozialismus, die neoliberale Restrukturierung und sukzessive "Europäisierung" der MOEL zu einer Schwächung der Aktionsfähigkeit von Gewerkschaften und linker politischer Positionen geführt. Insbesondere die Gewerkschaften haben in den 1990er Jahren einen erheblichen Verlust ihrer Organisations- und Mobilisierungskraft hinnehmen müssen. Industrielle Beziehungen sind weitgehend dezentralisiert worden, der neue privatwirtschaftliche Sektor ist in den meisten MOE nahezu gewerkschaftsfrei und die Mitgliederzahl der Gewerkschaften sind rapide zurückgegangen (Langewiesche/Tóth 2002). Ideologisch ist es linken Kräften insgesamt nicht gelungen, ein Gegenprojekt gegen die neoliberale Rückkehr nach Europa zu formulieren.

Drittens haben die Verhandlungsprozesse zwischen EU und den MOEL deren Möglichkeiten der öffentlichen politischen Debatte ebenfalls eingeschränkt.[vii] Die Konkretisierung der Bedingungen für den EU Beitritt hat bedeutet, dass die Kandidaten wenig Spielraum für die Debatte von Alternativen hatten. Mit der Verpflichtung auf die Übernahme des acquis communautaire, wurden den MOEL die Grundsätze ihrer neuen öffentlichen Ordnung sehr detailliert vorgegeben. Im Kontext der Beitrittsverhandlungen wurden die politischen Optionen auf die völlige Zustimmung zu dieser Ordnung eingeschränkt. Die Ablehnung einzelner Elemente, wäre einer Ablehnung des EU Beitritts in seiner Gänze gleichgekommen. Dies war ein Preis, den keine politische Kraft bereit war zu zahlen. Dieses Korsett ist ein zentraler Faktor dafür, dass Parteien jeglicher Couleur, wenn sie an der Macht waren, fast identische Wirtschaftspolitiken vorgenommen haben. Zudem förderte die Vorbereitung auf den EU-Beitritt ein technokratisches Politikverständnis, da die möglichst rasche und effiziente Implementierung von Gemeinschaftsnormen zentral hierfür war. Fragen nach der Legitimität der Normen, oder ihrer Angemessenheit im spezifischen osteuropäischen Kontext hätten nur dazu geführt, den reibungslosen Anpassungsprozess zu stören, und wurden deshalb auf später vertagt.

Schluss: Die Grenzen des Verhandlungskompromisses

In diesem Aufsatz habe ich argumentiert, dass sich über die 1990er Jahre ein spezifischer "Verhandlungskompromiss" zwischen der EU und den Beitrittskandidaten herausgebildet hat. Dieser erlaubte es zentralen EU Akteuren, Vorteile aus der Inkorporierung MOEs zu ziehen und Kosten, die aus der Erweiterung entstehen, möglichst weitgehend auf die MOE abzuwälzen. Ermöglicht wurde dieser Kompromiss durch ein starkes Machtgefälle zwischen der EU und den Beitrittskandidaten, sowie spezifischen gesellschaftlichen, ideologischen und politischen Bedingungen in den MOE, welche die Formulierung von Alternativen zur Rückehr nach Europa selbst dann verhinderten, als sich die Reichweite der Konzessionen, die ihnen abverlangt wurden, immer deutlicher abzeichneten.

Diese Konstellation ist jedoch an ihre Grenzen gelangt, und hat gleichzeitig das Terrain für neue Konflikte geöffnet: So ist erstens die Aufrechterhaltung einer Mitgliedschaft zweiter Klasse für die MOE mit den bisherigen EU Normen nicht vereinbar. Es ist derzeit nicht absehbar, ob die Altmitglieder Möglichkeiten finden werden, auch langfristig von den bisherigen Normen abzuweichen, oder ob es den Neumitgliedern, möglicherweise in erweiterten Koalitionen, gelingt, ihren Anspruch auf rechtliche und finanzielle Gleichberechtigung durchzusetzen. Zweitens transformiert der Beitritt selber einige der Grundvoraussetzungen der Geduld der MOE mit den Kriterien der EU. Als Mitglieder wird es diesen Ländern erstmals möglich sein, die Vor- und Nachteile offen zu diskutieren, ohne dass sie befürchten müssen, von der EU ausgeschlossen zu werden. Es steht zu erwarten, dass diese Debatte angesichts der abnehmenden öffentlichen Zustimmung zum Europa Projekt und der vertieften sozioökonomischen Kluft, welche die Annäherung an die EU mit sich gebracht hat, sehr hart und polarisiert verlaufen wird.

Literatur

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[i] Die neuen osteuropäischen Mitglieder sind Estland, Lettland, Littauen, Polen, die Tschechische und die Slowakische Republik, Slowenien und Ungarn. Malta und Zypern treten ebenfalls 2004 bei. Rumänien, Bulgarien und Kroatien stehen auf der Warteliste, sie hoffen die Beitrittsverhandlungen bis 1997 abzuschliessen. Die Entscheidung, ob der Türkei eine Mitgliedschaftsperspektive eingeräumt wird, steht bevor.

[ii] Zu einer ausführlicheren Diskussion vgl. Bohle 2002b.

[iii] Zu einem Überblick über die Entwicklungen der EU-MOE Beziehungen vgl. Grabbe 1998, Bohle 2002.

[iv] Auf dem EU Gipfel in Kopenhagen wurde den MOE die Mitgliedschaftsperspektive eingeräumt. Diese wurde jedoch mit weitreichenden Bedingungen verknüpft, den sogenannten Kopenhagen Kriterien.

[v] Laut Debbaut (2003) wird Polen im ersten Jahr seiner Mitgliedschaft 67 Euro, Ungarn 49, Slowenien 41 und die Tschechische Republik 29 Euro pro Person an finanziellen Mitteln aus der Gemeinsamen Agrarpolitik oder den Struktur- und Regionalfonds beziehen. Im Vergleich beziehen Griechenland 437, Irland 418, Portugal 211 und Spanien 216 Euro pro Kopf aus den gleichen Fonds. Zur Diskussion des finanziellen Rahmens der Erweiterung vgl. Mayhew 2003.

[vi] Eine Ausnahme bildet Slowenien. Auch wenn hier der EU Beitritt nicht umstritten war, so hat er eine stärkere nationale Basis als in vielen anderen MOE (Lindstrom/Piroska 2002).

[vii] Zu einer ausführlicheren Darstellung anhand des polnischen Beispiels vgl. Bohle 2002a, S. 196ff. Siehe auch Greskovits 1998.