Report Back: European Identity Forum, Paris 2003

Wollen wir auch künftig diese Sozialforen, auf denen es allen möglich ist, Ideen jeder Art zu propagieren, die zum Pflegen individueller Selbstdarstellungsbedürfnisse missbraucht werden?

Markt der Möglichkeiten
Der unsterbliche Che allerorten, neben der roten Fahne ganz häufig die baskischen und katalanischen "National"fahnen, und vor allem das so genannte "Pali"-Tuch, die arabische Kuffijah - als Schal oder Rock, zusammengerollt als Gürtel oder lässig um die Schultern gelegt, als Tischdecke, Kopftuch und Unterlage für die Isomatte - das zweite Europäische Sozialforum (ESF) in Paris präsentiert sich auch als ein Jahrmarkt der Symbole, Identifikations-Logos, Wir-Gefühle, kurz: Identitäten. Die Frage: "Was wollen die Globalisierungskritiker?" löste sich auf, wurde überflutet vom Angebot an verschiedenartigen Ideen und der Unvereinbarkeit ihrer Inhalte. Dicht nebeneinander marschierten auf der Demo Anarchisten und Parteianhänger, Grüne und Sozialisten, Christen und Materialisten.

Ist das die durch die schreienden Ungerechtigkeiten dieser Welt noterzwungene Einheit der Singularitäten (A. Negri) angesichts des globalen Feindes, des Empire? Oder ist ein Bewegungstreffpunkt wie dieser doch mehr dazu da, persönliche Bedürfnisse zu stillen - wie das nach Geborgenheit und Heimat, nach Selbstinszenierung und Geltung, danach, endlich einmal klar zu machen, wer gut und wer böse ist. Und vor allem nach dem trügerischen Gefühl von Einheit mit ganz vielen anderen. Ein nicht unbedeutender Teil des ESF stellte sich leider genau so dar - als European Identity Forum.

Forum der Eitelkeiten
Die nach unserer Erfahrung typische ESF-Veranstaltung sieht etwa so aus: Zehn Menschen sitzen auf einem Podium, geben in der entsprechend begrenzten Zeit recht knappe Statements ab. Elaborierte Analyse bekommen die Zuhörer so leider nicht, aber wenigstens klare Aussagen. Zum Thema Lateinamerika zum Beispiel von drei verschiedenen Referenten hintereinander die gleiche (!) Argumentationskette, die sich im Wesentlichen so anhört: Das neoliberale Umbauprogramm liegt im Interesse der USA und der Konzerne, es hat katastrophale Folgen und in Lateinamerika regt sich Widerstand. Wenn wir nur viele werden, dann stoppen wir den gemeinsamen Feind. Aussagen so wahr wie banal. Welche Teilnehmerin und welcher Teilnehmer am ESF hat sich das nicht schon vorher so ähnlich gedacht?

Doch es empfiehlt sich nicht, nach einer solchen Enttäuschung des Intellekts gelangweilt die Segel zu streichen. Denn nach dem letzten Bühnenstatement wird der Ring für das Publikum geöffnet und fortan zu Selbsttherapierung für Bewegungen bzw. persönliche Eitelkeiten genutzt. Innerhalb von Sekunden bildet sich eine Schlange von fünfzig Menschen. Die Kette von Aussagen und Forderungen nimmt kein Ende. Interessanterweise bezieht sich kaum jemand auf das im Podium Gesagte. Viele Publikumsrednerinnen und Publikumsredner antworten einfach nur etwas auf ihre Vorredner. Andere erzählen, was sie eben gerade so machen oder für wichtig halten, ob es nun zum Thema passt oder nicht. Der Rahmen verbietet sowohl eine strategisch-perspektivische als auch eine inhaltliche Diskussion.

Markt der Zugehörigkeiten
Wir fliehen der geschwätzigen, inhaltlosen Veranstaltung. Die Gaststadt lockt uns zu Workshops, Vorträgen und Seminaren in die vier kommunistisch regierten Vororte Saint-Denis, Bobibgny, la Villette und Ivry-sur-Seine. Neben dem umfangreichen, 55seitigen Programmwälzer, wecken unseren Respekt auch die Pariser Entfernungen. Die Zeit rinnt davon. Doch die immer wieder schöne Stadt kompensiert das alles. Vielleicht sollte man mal wieder hierher fahren, wenn keine Bewegungen in der Nähe sind! Der Pariser Bekannte, arbeitslos, lädt die Autorin zum Essen ein: Schließlich bin ich Franzose!

Damit erinnert er uns unfreiwillig an die Veranstaltung "Cultural and national identities in Europe", die wir am liebsten gleich wieder vergessen möchten, weil man sich plötzlich so verloren vorkommen kann. Dieser traurige Höhepunkt dessen, was der nicht fortschrittliche Teil des ESF aufzubieten hatte, präsentierte uns Vertreter von Volksgruppen, die endlich die nationale Unterdrückung beenden wollen. Doch wer saß da? Nicht etwa Sinti und Roma aus dem Kosovo oder palästinensische Flüchtlinge aus Syrien oder Israel, nicht Jüdinnen und Juden aus dem Iran, nicht Tschetschenen und nicht Kurden. Nein, da saßen ein Baske, ein Flame, ein Katalane und ein Schotte - wahrlich Vertreter der am schlimmsten diskriminierten und leidenden "Völker" Europas.

Und damit nicht genug. Sie forderten so interessante Sachen wie Bevölkerungsökologie, die die Reinheit einer Nation propagiert. Fast zwei Stunden lang gaben sich die Rednerinnen und Redner Mühe, mit ihren unbefriedigten nationalen Erweckungsträumen im Publikum Mitleid zu erregen und uns zu überzeugen, wie wichtig es doch sei, die eigene Sprache zu sprechen, auch wenn ich sie leider nicht so gut beherrsche, und einen eigenen Staat zu errichten. Voll Emotionen und Pathos flossen die Redebeiträge, untermalt mit den jeweils dazugehörigen Flaggen, vom Podium ins Publikum herunter und ernteten zum Teil frenetischen Beifall. Wer es nicht erlebt hat, wird nicht glauben, welche Euphorie die Ankündigung eines Redners, er werde katalanisch reden, hervorrufen kann.

Die größte Performance bereitete aber der schottische Vertreter vor. Sein Auftreten ähnelte dem eines Fernsehpredigers, der im Angesicht des nahenden Weltgerichts noch etwas Gnade zu verbreiten sucht. Im traditionellen schottischen Faschingskostüm spielte er auf der Flöte "Old Lang Syne". Zum Abschluss reichte er schottischen Whisky in einer Schüssel durchs Publikum. Der Jubel war grenzenlos. Die Schüssel ging durch die Reihen. Der nicht im Mindesten verhohlene, stumpfsinnige Nationalismus wurde mit Alkohol zur Botschaft der Völkerverständigung umgelogen.

Die nationalistischen Redebeiträge ließen glücklicherweise das Publikum nicht komplett gleichgültig. Nachdem im Podium nicht die Spur einer Reflexion der negativen Seiten dieser "imaginierten Gemeinschaft" Nation (B. Anderson) zu hören waren, meldeten sich im Publikum doch einige Kritikerinnen und Kritiker zu Wort, die darauf hinwiesen, dass mit der Definition eines Gruppeneigenen auch immer der Ausschluss und schon zu oft die Unterdrückung des anderen verbunden war. Allerdings dominierten auch weiterhin die Stimmen derjenigen, die sich tief ergriffen zeigten von so viel Volkstum, Gemeinschaft und Traditionsstubenflair. Die von jemandem vorgebrachte low-level-marxistische Anmerkung, dass Arbeiter in der ganzen Welt mehr gemeinsam haben, nämlich den Interessengegensatz zu den Besitzenden, als so unterschiedliche Menschen innerhalb einer Nation, fand nur mäßigen Applaus. Wen wunderte es da noch, dass anschließend jemand aufstand und bekundete: Ich bin so froh und berührt, hier sein zu dürfen und zu erleben, wie so viele Menschen sich einig sind und das gleiche wollen, für unsere gemeinsame Sache. Wer angesichts der offenkundigen Differenz voll emotionaler Verzückung solche Einigkeit konstatiert, zeigt ungewollt den gefährlichen Kern seiner nationalen Ambitionen, zeigt, dass das Kollektiv keine Andersartigkeit verträgt, ja sie wohl nicht einmal wahrzunehmen in der Lage ist.

Auf immer Forum der Beliebigkeit?
Für diejenigen, für die Sozialforen mehr sind als Identitätssupermärkte, bleibt die Frage, was sie bringen sollen. Eine der liebsten nachträglichen Äußerungen von Besuchern solcher Events scheint zu sein: Ich bin beeindruckt! Das kann sich auf vieles beziehen. Wenn es als positive politische Gesamt-Einschätzung gemeint ist, kann es nicht stimmen. Zu Gegensätzliches spielte sich in Paris ab, als dass man es ohne ein Aber bewerten könnte.

Wollen wir auch künftig diese Sozialforen, auf denen es allen möglich ist, Ideen jeder Art, auch nationalistische zu propagieren? Wollen wir auch künftig Sozialforen, die zum Pflegen individueller Selbstdarstellungsbedürfnisse missbraucht werden?

Entscheiden wird es sich daran, ob Veranstaltungen der beschriebenen Art langfristig die Sozialforen dominieren, oder ob sich in Zukunft die ebenso vorhandenen Versuche, mehr als symbolische, selbstbeweihräuchernde Politik zu machen, durchsetzen. Denn auch solche Bestrebungen gab es beim ESF; positiv hervorzuheben sind die diversen Gründungen von europaweiten Netzwerken politischer Gruppierungen und die Initiativen zur Vernetzung von an spezifischen Themen Arbeitenden. Eine andere Möglichkeit, die Idee des Sozialforums fruchtbar zu machen, ist die konsequente Ausweitung auf die regionale und lokale Ebene. Denn erst hier kann ein Diskussionszusammenhang dieser immensen ideologischen Breite nachhaltige Wirkungen zeigen. Er könnte Diskussionen fruchtbar machen, weil der Prozess der inhaltlichen Auseinandersetzung institutionalisiert wird.

Noch ist nichts entschieden.

Victoria Kendler - Jg. 1974 (geb. in Russland), Diplom Deutsch- und Russischlehrerin, zur Zeit Studium Anglistik/Volkswirtschaft/ Romanistik in Marburg, aktiv bei der Hochschulpolitischen Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t. und der Initiative Solidarische Welt.

Peter Ullrich - Jg. 1976, Soziologe, promoviert im PHD-Studiengang "Transnationalisierung und Regionalisierung" am Zentrum für Höhere Studien der Universität Leipzig zum Thema "Politik und Identität. Zur Soziologie linker Identität in Deutschland"; verschiedene Veröffentlichungen zu sozialen Bewegungen sowie zum Nahostkonflikt und seiner Rezeption in Deutschland. Zuletzt in UTOPIE kreativ: Die Genuamobilisierung und Lernmöglichkeiten für das Verhältnis der Linken zu sozialen Bewegungen, Heft 160 (Februar 2004). Kontakt: ullrich@uni-leipzig.de

Dieser Bericht wurde von Menschen geschrieben, die, wohl durch ihren Hang zum Absurden und ihren Blick für das Durchgeknallte und sicher auch durch etwas Pech auf dem ESF einen einseitig schlechten Eindruck bekamen. Wir hoffen sehr, dass dieser Eindruck trügt. Bei allem kursiv Gesetzten handelt es sich um nachträgliche Zitate aus dem Gedächtnis.

in: UTOPIE kreativ, H. 163 (Mai 2004), S. 454-456

aus dem Inhalt:

Essay ULRICH BUSCH: Geiz ist geil! Wieso auf einmal? Interview Interview mit PAUL M. SWEEZY "Ich mußte mich einfach dem Marxismus zuwenden" Linksparteien in Skandinavien HENNING SÜSSNER: Parlamentarische Erfolge - organisatorische Krise. Die Erfahrungen der Linkspartei Schwedens; PETER BIRKE: Sosialistisk Venstreparti - eine linkssozialistische Partei in Norwegen Europa im Umbruch JÜRGEN MEIER: Wissenschaft ist fortschrittlich! Und die Kunst?; ANDREA PLÖGER, ERWIN RIEDMANN: Transnational und fragend voran?! Anmerkungen zum Stand der Bewegung angesichts des zweiten Europäischen Sozialforums; VICTORIA KENDLER, PETER ULLRICH: Report Back: European Identity Forum, Paris 2003 StandorteGOTTFRIED STIEHLER: Was wäre wenn? Bücher & Zeitschriften Erhard Hexelschneider: Rosa Luxemburg und die Künste. (MICHAELWEGNER); Detlef Nakath, Gerd Rüdiger Stephan (Hrsg.): Entweder es geht demokratisch - oder es geht nicht. Klaus Höpcke - Kolloquium anlässlich seines 70. Geburtstages (KURT PÄTZOLD); Michael Schumann: Metamorphosen von Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein (MARCUS SCHWARZBACH); Hella Hertzfeldt, Katrin Schäfgen (Hrsg.): Demokratie als Idee und Wirklichkeit (NINA NEUHAUS); Summaries