Alternativen zum Raubtierkapitalismus

Der frühere Bundeskanzler und Mitherausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit", Helmut Schmidt, veröffentlichte Ende 2003 eine Kritik am Gesetz des Dschungels im Raubtierkapitalismus. ...

... "Wo Spekulation und Leichtfertigkeit Unternehmen und Banken in Gefahr gebracht haben, wo deshalb die Versuchung zum Verbergen und Vertuschen, zur Täuschung und Betrug sich ausbreitet, dort stehen wir am Rande des Verfalls. Wo Kapitalismus und Moral sich gegenseitig ausschließen, dort stecken wir bereits tief im Sumpf."
Für diese Gefährdung des demokratisch strukturierten Kapitalismus stehen Vorgänge um die Konzerne Kirch, West-LB, Enron, Parmalat oder die New Yorker Börse; und eben Mannesmann-Vodafone, wo jetzt ein Gericht über die Anklage der Untreue gegen den Vorstandsvorsitzender den Deutschen Bank, Josef Ackermann, und den früheren IG Metall-Vorsitzenden Klaus Zwickel u.a. verhandeln muss.

Unbestritten: Wir befinden uns im Sumpf. Im heutigen Kapitalismus wird weit unter "Normalform" agiert. Der Kapitalismus basiert stets auf der Ausbeutung von Lohnarbeit. Diese verschleierte Form der Lohnsklaverei vermittelt sich allerdings über den Äquivalententausch, damit einen entsprechenden juristischen Überbau und ist deshalb auch angewiesen auf hegemoniale Konsensstrukturen. Wenn der zentrale Gesichtspunkt der Gleichheit von Leistung und Gegenleistung, von freiwilliger Übereinkunft und Rechtsförmigkeit immer weniger Geltung hat, dann ist dies ein untrügliches Zeichen für den Verfall dieser Gesellschaftsformation. Wenn sich Topmanager nicht mehr am Begriff des "ehrbaren Kaufmanns" orientieren, wenn die Corporate Governance nur noch zur Bemäntelung des Raubrittertums herhalten soll, dann sind wir in das Verfallsstadium des Kapitalismus eingetreten.

Wenn die spezifische Gesetzlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft durch Tausch (Freiheit, Gleichheit, Eigentum) nicht spontan erzeugt und respektiert wird, dann nützt auch der Einsatz juristischer Zwangsmaßnahmen nicht viel: "Einige der Missstände können durch Gesetzesänderungen eingeschränkt werden; sowohl die amerikanischen als auch die deutschen Gesetzgeber haben damit schon begonnen. Gleichwohl: Die Wurzel des Übels liegt nicht in unzureichenden Gesetzen und Vorschriften... Die Wurzel der Misere liegt in dem schnellen Rückgang von Moral und Anstand bei einigen Managern... Wenn sich dieser Sozialdarwinismus weiter ausbreiten sollte, dann können der innere Zusammenhang und die Solidarität unserer Gesellschaft zerbröseln." (Helmut Schmidt)

Sonderprämien und Zusatzpensionen in Höhe von 111 Millionen DM nach der erfolgreichen Übernahme von Mannesmann werfen die Frage nach der Kontrolle von Managemententscheidungen auf. Der Konzern wurde verkauft, unmittelbar danach in Teile zerlegt und weiterverkauft, sodass der Name Mannesmann aus der industriepolitischen Landschaft der Berliner Republik verschwunden ist. Die einzigen Leidtragenden dieser Entwicklung waren die Beschäftigten.

Die Bedrohung des Kapitalismus resultiert nicht aus den betrieblichen Strukturen des Wertschöpfungs- und Verwertungsprozesses. Das Machtgleichgewicht und die Kontrolle von Aktionären, Management und Board of Directors ist grundlegend gestört. Deren Interessen waren lange austariert, bis sich eine am Shareholder value orientierte Managergeneration in eine Bubble Economy hineinmanövrierte: Bereichert euch! Gier ist geil!

Dass große Kapitalgesellschaften auf der Basis eines modernen Raubrittertums geführt werden, ist nicht der Normalfall, sondern drückt einen fundamentalen Strukturwandel in den Eigentumsverhältnissen aus. Während die Manager - unter Beteiligung von Board und Investoren (Aktionären) - kurzlebige, kapitalmarktorientierte Unternehmensstrategien verfolgen, drängen Eigentümer in der herrschenden Klasse auf die Rückkehr zur längerfristigen, produktiven Wertschöpfung und der Ausbeutung auf Basis des Äquivalenzprinzips. Nahezu alle Firmenchefs, die sich der Shareholder value-Philosophie verschrieben haben, erzielten Gewinne für die Aktionäre auf Kosten anderer legitimer Anspruchsgruppen. Diese gehen auf die Barrikade, verlangen selbst einen größeren Anteil am Gewinn.

Die Erwartung, nach dem Platzen der Träume einer New Economy stünde nun eine Renaissance der produktiven Unternehmung bevor, ist allerdings trügerisch. Es handelt sich bei der Dominanz der Shareholder value-Orientierung nicht um eine Fehlentwicklung, die durch eine verbesserte Unternehmenskultur oder -strategie abzulösen wäre. Sie ist selbst Ausdruck einer tieferen Krise kapitalistischer Verwertung. Die Umkehrung des Verhältnisses von Real- und Finanzkapital spiegelt sich noch in der aggressiven Verteidigung der Täter wider. Deutschland sei "das einzige Land, wo die, die erfolgreich Werte schaffen, deswegen vor Gericht stehen", tönt der Chef der Deutschen Bank Josef Ackermann.

Angesichts von Massenarbeitslosigkeit, massiven Kürzungen von Sozialeinkommen, der Stagnation der Reallöhne macht es böses Blut, wenn sich Spitzenmanager ohne jeden Leistungsbezug maßlos aus der Unternehmenskasse bereichern. "Dem Magazin Fortune zufolge haben die 100 Spitzenmanager in den USA Ende der neunziger Jahre im Durchschnitt 1000-mal so viel Geld erhalten wie ein durchschnittlicher amerikanischer Arbeiter. In Deutschland ... erreichen einige unser angestellten Spitzenmanager das Zweihundert- und Dreihundertfache des Jahresverdienstes eines durchschnittlichen gewerblichen Angestellten." (Schmidt) Besonders peinlich ist, dass ein Vorsitzender der IG Metall diesem Übergang zum Gesetz des Dschungels per Stimmenthaltung zugeschaut hat. Gewerkschaften werden dadurch unglaubwürdig. Gewerkschaftsvertreter müssen über die Strukturen des Shareholder value-Kapitalismus schonungslos aufklären. Es muss Gegendruck erzeugt werden mit der Zielsetzung, eine demokratische Alternative für die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten von Globalisierung und Shareholder value zu entwickeln.

Die Entwicklung einer neuen politischen Glaubwürdigkeit ist der Bewegung der Altermondialisten gelungen. Der Großteil der Medien hat anerkannt, dass das Weltsozialforum - das nach drei Treffen im brasilianischen Porto Alegre dieses Jahr im indischen Bombay stattfand - sich zur größten internationalen Politikveranstaltung entwickelt hat. Auch die rechtskonservative FAZ kann nicht bestreiten, "dass die Globalisierungskritiker in den vergangenen Jahren etwas erreicht haben. In der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds, in der Welthandelsorganisation und in den großen Konzernen beschäftigen sich längst Fachleute, oft ganze Abteilungen, mit Ideen, Argumenten und Kritiken, die auch auf den Weltforen vorgetragen werden." (20.1.2004) Von Seattle über Porto Alegre bis Bombay ist die globalisierungskritische Bewegung gewachsen, und sie hat mit den Kontinentalforen zugleich an Tiefe gewonnen. Das WSF 2004 hat gezeigt, dass die andere Globalität kein bloßer Anspruch mehr ist. In über 1000 Veranstaltungen konnten die Forderungen einer breiten Protestbewegung entwickelt und öffentlich propagiert werden. Die Feststellung konzeptioneller Schwächen und Widersprüche muss ja nicht im Gegensatz zum Optimismus der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy stehen: "In Brasilien habe ich gesagt, eine andere Welt ist möglich, und sie ist unterwegs. In Bombay sage ich: Schaut euch um, die andere Welt scheint schon hier zu sein."

Alle drei Prozesse zusammengenommen bringen die Konstellation auf den Punkt: Die Eliten der kapitalistischen Metropolen klagen über moralischen Verfall und die Bedrohung der "offenen Gesellschaft"; die Gewerkschaften müssen sich zur Behauptung ihrer Selbstachtung und Existenz aus dem Co-Management von schamloser Bereicherung verabschieden; und die Altermondialisten demonstrieren, dass eine andere Welt möglich ist. Wir haben es gewiss nicht mit einer revolutionären Situation zu tun. Doch "die unteren Schichten wollen in der alten Weise nicht mehr leben, und die oberen Schichten können offensichtlich auch nicht mehr in der alten Weise verfahren." (Lenin)

aus: Sozialismus Heft Nr. 2 (Februar 2004), 31. Jahrgang, Heft Nr. 274