Neue Vorschläge zur Umverteilung von Unten nach Oben

Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe

in (15.12.2003)

Zum ersten Januar 2004 plant die Bundesregierung die Streichung der Arbeitslosenhilfe. Die Arbeitslosenversicherung soll auf die Gewährung von Arbeitslosengeld für Kurzzeitarbeitslose beschränkt werden. Die BezieherInnen von Arbeitslosenhilfe werden in das System der Sozialhilfe überführt. Millionen von LeistungsbezieherInnen und ihre Familien werden in die Armut gedrängt. Anstelle der bisher an der Arbeitslosenversicherung orientierten Arbeitslosenhilfe sollen sie künftig nur noch eine pauschalierte Grundsicherung von 345 Euro monatlich im Westen und 331 Euro im Osten erhalten.1 Außerdem ist beabsichtigt, dass in Zukunft jede zumutbare Arbeit, ungeachtet der beruflichen Qualifikationen angenommen werden muss. Zumutbar ist nach der Definition des Bundeswirtschaftsministers jeder legale Job. Bei Ablehnung des Jobangebots soll das Arbeitsamt die ohnehin knapp bemessene Grundsicherung auch noch um 30 % (ca. 100 Euro) kürzen dürfen. Bei wiederholter Ablehnung kommt es sogar noch schlimmer, anstelle von Geld sollen Arbeitslose dann - wie bisher schon AsylbewerberInnen - nur noch Sachleistungen erhalten.

Bekämpft die Arbeitslosen, sie sind selber schuld

Von Seiten der Bundesregierung wird die Mittelkürzung als Maßnahme zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit dargestellt. Zur Überwindung der Arbeitslosigkeit müssten stärkere Anreize zur Aufnahme von Beschäftigung gesetzt werden. Ursächlich für die Misere auf dem Arbeitsmarkt seien die mangelnden Bemühungen der Arbeitslosen und das hohe Leistungsniveau. Das entgeltorientierte System der Lohnersatzleistung, die bis zum 65. Lebensjahr erbracht wird und auch noch mit dem Aufbau von Rentenanwartschaften verbunden ist, wirke geradezu motivationshemmend in Bezug auf die Eigeninitiative zur Rückkehr in das Arbeitsleben. Dadurch werde die Bereitschaft zur "kalkulierten Arbeitslosigkeit" und die Frühverrentungspraxis, also die Umwandlung von Arbeitslosengeld und -hilfe in eine der Rente wegen Alters vorgelagerte funktionswidrige Vorruhestandsleistung, gefördert. Diese gängige Position ist in ihrer Analyse schlicht falsch und dient als Rechtfertigung zur Diskriminierung der Erwerbslosen. Die tatsächlichen Ursachen der Arbeitslosigkeit sind in jedem Falle vielschichtiger und differenzierter. In bestimmten Segmenten des Arbeitsmarktes wie beispielsweise in der industriellen Produktion wurden aufgrund des technischen Fortschritts Arbeitsplätze wegrationalisiert. Auch sind im Zuge der Produktionsverlagerung in Länder mit billigeren Lohnkosten Arbeitsplätze in der BRD abgebaut worden. Zudem zeichnet sich der Trend einer Konzentration von Arbeit ab. Diejenigen die Arbeit haben müssen immer mehr machen. Ihnen steht eine wachsende Gruppe von Arbeitslosen gegenüber. Leistungskürzungen bewirken im Hinblick auf diese Ursachen überhaupt keine Steuerungswirkung zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Sie erhöhen lediglich den Druck auf Erwerbslose mit noch weniger Geld auszukommen und jede Arbeit zu jeden Bedingungen anzunehmen.

Der Mythos von den leeren Kassen

Als weiteres Argument für die Streichung der Arbeitslosenhilfe wird der öffentliche Geldmangel ins Feld geführt. In Zeiten des Mangels, so der allgemeine Tenor, müssen alle den Gürtel enger schnallen - auch die Erwerbslosen. Auf die berechtigte Anregung linker KritikerInnen, dass es auch andere Möglichkeiten gebe Geld aufzutreiben, um nicht bei denen, die ohnehin nichts haben, zu sparen, folgt der Aufschrei auf dem Fuße: solche Vorschläge werden polemisch als unsoziales Ansinnen von BesitzstandswahrerInnen und SozialschmarotzerInnen abgekanzelt. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Kritik findet nicht statt, obwohl sie die einzige Möglichkeit darstellt, der Sparlogik zu entkommen.
Zwar ist es in der Tat so, dass momentan wenig Geld in den Staatskassen ist, auch ist nicht zu bestreiten, dass die konjunkturelle Situation zur Verschärfung der Situation beiträgt, aber dies ist nicht gottgegeben und liegt auch nicht daran, dass es insgesamt kein Geld geben würde. Ursächlich ist vielmehr die Steuerpolitik. Der Faktor Kapital wird seit Jahren steuerlich entlastet und der Faktor Arbeit dafür belastet, in der irrigen Annahme auf diese Weise Wachstum anregen und Arbeitsplätze schaffen zu können. Während sich die durchschnittliche Lohnsteuerbelastung der Bruttolöhne von 1960 bis 2000 mehr als verdreifachte, sank die steuerliche Belastung der Gewinn- und Vermögenseinkommen im gleichen Zeitraum auf ein Drittel dessen was 1960 entrichtet wurde. Erbrachte z.B. die Einkommenssteuer 1960 noch rund 31 Prozent des gesamten Steueraufkommens, liegt ihr Anteil im Jahr 2000 bei verschwindenden 2,7 Prozent. Hinzu kommt, dass von 1960 bis 2000 die Nettogewinn- und Vermögenseinkommen deutlich rascher gewachsen sind als die Nettolöhne und Gehälter. Folglich ging der Anteil der Nettolöhne am verfügbaren Volksvermögen, die so genannte Nettolohnquote, kräftig zurück. Auf der anderen Seite stieg die Gewinnquote auf etwa 30 Prozent. Obgleich es somit die Gewinne sind, die überdurchschnittlich gewachsen sind, trägt der Faktor Kapital immer weniger zur Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben bei.2 Dieser knappe Abriss zeigt, dass Reichtum vorhanden ist, der im Falle einer angemessenen Besteuerung die öffentlichen Kassen füllen würde, so dass es nicht notwendig wäre bei den sozialen Sicherungssystemen zu sparen. Hierfür fehlt jedoch der politische Wille, da die vermögenden Schichten als eigentliche BesitzstandswahrerInnen bislang ihren Einfluss erfolgreich geltend gemacht haben und die Ideologie der leeren Kassen die politische Entscheidung zugunsten der steuerlichen Förderung privaten Reichtums verschleiert. Die Kürzung sozialer Sicherungssysteme entspringt also gerade keiner zwangsläufigen Notwendigkeit, sondern ist das Produkt der Entscheidung lieber bei den Bedürftigen zu sparen statt die Vermögenden zu besteuern. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ist also ebenso unsozial wie unnötig.

Notwendigkeit einer fairen Reformdiskussion

Der Status Quo der Arbeitslosenversicherung ist zwar besser als das was die Bundesregierung mit der Agenda 2010 umzusetzen gedenkt. Gleichwohl werden auf Grundlage der aktuellen Rechtslage bestimmte Personengruppen erheblich benachteiligt. Eine Reform der sozialen Sicherungssysteme, die im Fall von Arbeitslosigkeit eingreifen, ist daher notwendig. Eine solche Erörterung ist vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte nicht ganz unproblematisch, daher sei hier ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die aufzuzeigenden Ungerechtigkeiten weder im Sinne eines Plädoyers für die Angleichung der Sozialleistungen nach Unten missverstanden werden sollen, noch als ein Ausspielen der Gruppe der Arbeitslosen gegen die Gruppe der SozialhilfeempfängerInnen. Es ist nicht einfach eine faire Diskussion darüber zu führen, wie staatliche Unterstützungsleistungen gerecht verteilt werden sollen, dennoch ist sie notwendig.
Als Grundlage für die Diskussion über eine gerechte Mittelverteilung soll zunächst das bisherige System der Leistungsvergabe in groben Zügen dargestellt werden. Zur wirtschaftlichen Absicherung des Risikos der Arbeitslosigkeit dienen in erster Linie Leistungen der Arbeitslosenversicherung, zunächst in Form des Arbeitslosengeldes, anschließend in Form der Arbeitslosenhilfe. Mittlerweile wird daneben verstärkt auf die Sozialhilfe zurückgegriffen. Im Jahr 2000 bezogen ca. 1,5 Mio. Haushalte Arbeitslosenhilfe. 710 000 Arbeitslose mussten von Sozialhilfe leben.3 Die 710 000 arbeitslosen SozialhilfeempfängerInnen unterteilen sich in 425.000 Personen, die allein auf Sozialhilfe angewiesen sind und 285 000 Personen, deren Arbeitslosenhilfe durch Sozialhilfe aufgestockt wird, da sie ansonsten unter dem Existenzminimum liegen.4
Das Arbeitslosengeld gehört zu den Leistungen des Arbeitsförderungsrechts des Sozialgesetzbuchs III (SGB III). Es wird ausschließlich Menschen gewährt, die Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Sie erhalten im Fall der Arbeitslosigkeit zeitlich befristet 60 %, wenn sie Kinder haben 67 % ihres bisherigen Nettogehalts.5 Die Leistung ist dabei unabhängig von den individuellen Verhältnissen. Das Arbeitslosengeld wird paritätisch durch Beiträge der ArbeitnehmerInnen und der ArbeitgeberInnen finanziert.
Im Gegensatz zum Arbeitslosengeld ist die Sozialhilfe eine klassische Fürsorgemaßnahme. Sie ist nicht an ein bestimmtes Lebensrisiko (wie z.B. Krankheit oder Arbeitslosigkeit) gekoppelt, sondern wird im Falle der Bedürftigkeit gewährt. Voraussetzungen und Umfang der Sozialhilfeleistungen sind streng am Bedarf des Hilfeempfängers orientiert. Sie können ohne Gegenleistung und Versicherungspflicht in Anspruch genommen werden und haben keine zeitlichen Grenzen. Die Sozialhilfe wird aus Steuermitteln finanziert. Zu rund 80 % tragen die Kommunen die Lasten. Die Länder sind zu ca. 20 % an der Finanzierung beteiligt.
Die Arbeitslosenhilfe nimmt in diesem System eine Zwitterstellung ein. Sie ist weder eine reine Versicherungsleistung, da sie aus Steuermitteln und nicht aus Beiträgen finanziert wird, noch ist sie eine reine Fürsorgemaßnahme, da sie nur im Anschluss an das Arbeitslosengeld gewährt wird und die Höhe der Leistung verdienst- und nicht bedarfsbezogen ist. Gewährt werden 53 %, wenn Kinder vorhanden sind 57 % des früheren Nettoverdienstes. Organisationsrechtlich erbringt die Bundesanstalt für Arbeit die Arbeitslosenhilfe als Auftragsverwaltung des Bundes.

Ein Vergleich von Arbeitslosen- und Sozialhilfe

Ein Vergleich der Leistungsniveaus von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe macht die Unterschiede deutlich. Die Arbeitslosenhilfe umfasst 53 % bzw. 57 % des früheren Nettoverdienstes, während die Sozialhilfe nur den notwendigen Lebensunterhalt deckt. Die Beschränkung der Sozialhilfe auf das Existenzminimum hat zur Folge, dass Leistungen der Arbeitslosenhilfe wesentlich höher sein können, als die der Sozialhilfe. Dies richtet sich nach dem früheren Verdienst.
Hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen zeigt sich vordergründig eine Gemeinsamkeit. Sowohl der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe als auch der auf Sozialhilfe erfordern, dass der / die AntragsstellerIn bedürftig ist. Voraussetzung dafür ist, dass kein eigenes anderweitiges Einkommen oder Vermögen zur Verfügung steht. Allerdings sind die Maßstäbe der Bedürftigkeit sehr verschieden ausgestaltet. Während im Rahmen der Sozialhilfe praktisch jedes Einkommen anspruchsmindernd auf die Sozialhilfe angerechnet wird, sind die Maßstäbe bei der Berechnung der Arbeitslosenhilfe großzügiger.
Im Rahmen der Arbeitslosenhilfe wird als Anreiz zur Aufnahme einer weniger als 15 Stunden umfassenden Erwerbstätigkeit ein Freibetrag in Höhe von 20 % der monatlichen Bezüge gewährt. Der sozialhilferechtliche Freibetrag ist in der Regel niedriger. Im Gegensatz zur Sozialhilfe werden bei der Berechnung der Arbeitslosenhilfe einmalige Einnahmen nicht berücksichtigt.
Kinder und Wohngeld gelten im Rahmen der Berechnung der Arbeitslosenhilfe nicht als Einkommen, während sie bei der Sozialhilfe als solches angerechnet werden.
SozialhilfeempfängerInnen müssen sich die Unterstützung aller Angehörigen anrechnen lassen, unabhängig in welchem Verwandtschaftsgrad sie stehen. Bei der Arbeitslosenhilfe werden nur die freiwillig und tatsächlich geltend gemachten Unterhaltsansprüche von Verwandten ersten Grades als Einkommen angerechnet.
Für die Arbeitslosenhilfe gilt ein Barvermögen in Höhe von 4100 Euro als verschont. Hingegen wird im Rahmen der Sozialhilfe nur ein Betrag von ca. 1279 Euro verschont.
Auch die Anforderungen an eine Arbeitsaufnahme werden im Rahmen der Arbeitslosenhilfe großzügiger und differenzierter beurteilt als bei der Sozialhilfe. Gerade die Vorbeschäftigung und das daraus erzielte Gehalt können dazu führen, dass einem Arbeitslosen eine Beschäftigung nicht zumutbar ist, wenn nämlich das zu erzielende Gehalt erheblich niedriger ist als das frühere Gehalt. Im Gegensatz dazu gibt es nur wenige Ausnahmen, die im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes dazu führen, dass eine Tätigkeit unzumutbar ist. Insbesondere stellen die frühere Tätigkeit oder die Ausbildung keinen Ausnahmegrund für die Aufnahme einer Beschäftigung dar.
Für Empfänger von Arbeitslosenhilfe zahlt der Staat Beiträge in die Kranken- und Rentenversicherung ein. Für Sozialhilfeempfänger übernimmt der Staat Beiträge nur in besonderen Fällen. Grundsätzlich steht ihnen kein gegenüber der Fürsorge verselbstständigter versicherungsrechtlicher Anspruch zu. Sie erhalten lediglich eine Kranken- und Altersversorgung in Höhe des Existenzminimums.
Die aufgezählten Differenzen sind nur beispielhaft. Sie beziehen sich auf den Einpersonenhaushalt. Bei Mehrpersonenhaushalten lassen sich weitere Unterschiede aufzeigen.

Benachteiligte Gruppen

Angesichts der erheblichen Vorteile der Arbeitslosenhilfe gegenüber der Sozialhilfe, ist es von zentraler Bedeutung, dass die Kriterien, die für die Zuordnung der Erwerbslosen zum jeweiligen Sicherungssystem maßgeblich sind, zu gerechten Ergebnissen führen.
Die gegenwärtige Rechtslage wird diesen Anforderungen jedoch nicht gerecht.
Arbeitslosenhilfe können überhaupt nur diejenigen erlangen, die im rechtlichen Sinne arbeitslos - also arbeitsfähig und arbeitsbereit - sind. Familien und Schwache werden damit von vornherein von den Leistungen der Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen und benachteiligt. Dies trifft neben Kranken und Arbeitsunfähigen vor allem Alleinerziehende.
Darüber hinaus werden Menschen, die zwar im rechtlichen Sinne arbeitslos sind, aber vor ihrem Eintritt in die Arbeitslosigkeit keine 12 Monate beschäftigt waren, die Leistungen der Arbeitslosenversicherung verwehrt. Auf die Sozialhilfe sind damit vor allem Jugendliche, die nie Eingang in den Arbeitsmarkt gefunden haben, erfolglos gebliebene Selbstständige, Menschen (vor allem Frauen), die wegen Kindererziehung nicht arbeiten konnten, geringfügig Beschäftigte und diejenigen, die die Arbeitssuche unterbrochen und z.B ein Studium aufgenommen haben, verwiesen.
Im Unterschied zu den eben genannten Menschen, die gänzlich von den Leistungen der Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen sind, gibt es auch ArbeitslosenhilfebezieherInnen die dennoch auf die Sozialhilfe angewiesen sind
Ca. 15 % der ArbeitslosenhilfebezieherInnen sind zusätzlich auf Sozialhilfe angewiesen, denn wenn der / die ArbeitslosenhilfebezieherIn unter das Existenzminimum rutscht, so wird nicht nur die Leistungshöhe nach Sozialhilferecht beurteilt, sondern auch das zu verschonende Einkommen und Vermögen sowie die familiären Unterhaltspflichten und die Anforderungen an die Aufnahme von Beschäftigungen. Ursächlich für die zusätzliche Inanspruchnahme von Sozialhilfe ist grundsätzlich das Prinzip der Verdienstbezogenheit. Die Berechnung der Arbeitslosenhilfe basiert auf dem früheren Verdienst als Bemessungsgrundlage.
Die ständige Herabsetzung des Leistungsniveaus auf mittlerweile nur noch 53 % des früheren Gehalts sowie die Absenkung der Bemessungsgrundlage für die Arbeitslosenhilfe haben dazu geführt, dass BezieherInnen von Arbeitslosenhilfe vermehrt unter das Sozialhilfeniveau rutschen.
Ein weiterer Faktor ist, dass die Familiensituation bei der Berechnung der Arbeitslosenhilfe unberücksichtigt bleibt. Die Arbeitslosenhilfe kennt lediglich einen pauschal leicht erhöhten Satz für Hilfeempfänger mit Kind. Dann werden 57 % statt 53% gewährt. Allerdings ist dieser Satz unabhängig von der Zahl der Kinder. Je größer eine Familie ist, um so eher ist sie zusätzlich zur Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfe angewiesen. Schon in einer Arbeitslosenfamilie mit nur einem Kind muss der / die ArbeitslosenhilfeempfängerIn früher rund 3000 Euro brutto verdient haben, um einen Satz zu erreichen, der über dem Sozialhilfesatz liegt. Eine Familie mit 4 Kindern kann diese Grenze, jedenfalls solange man nicht Wohngeld und Kindergeld mit einbezieht, nie erreichen, da die Leistungsbemessungsgrenze eine ausreichend hohe Arbeitslosenhilfe von vornherein ausschließt.6
Das Recht auf Arbeitslosenhilfe begründet also nicht per se ein günstigeres Regime als die Sozialhilfe, sondern nur die Chance darauf. Diese Chance wird von denjenigen realisiert, die relativ viel verdient und wenig familiäre Verpflichtungen haben.

Historischer Exkurs

Ein historischer Exkurs vermag zum Teil die beschriebenen Benachteiligungen zu erklären. Nach der ursprünglichen Konzeption des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe sollten allein diese Sicherungssysteme das Risiko der Arbeitslosigkeit im Sinne einer klassischen Sozialversicherung absichern. Sie waren beide als beitragsfinanzierte Sozialversicherung ausgestaltet. Sozialhilfe sollte nur in Ausnahmefällen und bei untypischen Notlagen in Anspruch genommen werden. In der jungen Bundesrepublik war dieses Modell auch plausibel. Denn es basierte auf zwei den damaligen Verhältnissen entsprechenden Prämissen: Zum einen, dass Vollbeschäftigung mit auf Lebenszeit angelegten Dauerarbeitsplätzen herrscht. Die zweite Prämisse war, dass stabile Ehen existieren und den wirtschaftlichen Rahmen der Kindererziehung bilden. Unter diesen Voraussetzungen konnte davon ausgegangen werden, dass jedeR nach der Ausbildung zu Arbeit oder Familie findet und hierdurch sozial abgesichert wird. Arbeitslosigkeit war unter diesen Rahmenbedingungen lediglich ein Übergangsproblem. Dauerte sie ausnahmsweise länger, konnte sie durch die Arbeitslosenhilfe überbrückt werden.
Fragwürdige Privilegierung
Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich verändert. Bei über 4 Mio. Arbeitslosen wird deutlich, dass Arbeitslosigkeit kein Übergangsproblem mehr ist. Die hohe Arbeitslosigkeit führt aufgrund der erhöhten Zahl der LeistungsbezieherInnen sowie der verlängerten Bezugsdauer zu Finanzierungsproblemen der Arbeitslosenversicherung. Darauf reagierte die Politik mit Mittelkürzungen, welche zur Konsequenz hatten, dass die Arbeitslosenversicherung nicht mehr ausreichend Mittel zur Verfügung stellt, um zu verhindern, dass Arbeitslose unter das Sozialhilfeniveau rutschen. Insofern ist das ursprüngliche Ziel der Arbeitslosenversicherung - zu verhindern, dass Arbeitslose auf die Fürsorge angewiesen sind - hinfällig.
Zudem ist das Kriterium, welches den Bezug von Arbeitslosenhilfe an eine vorherige 12-monatige Beschäftigung knüpft, aus diversen Gründen höchst problematisch. Zum einen beinhaltet es eine systematische Benachteiligung von alleinerziehenden Frauen und Kindern. 37 % der Sozialhilfeempfänger sind Kinder. 22 % der Haushalte, die Sozialhilfe beziehen werden von alleinerziehenden Frauen geführt.7 Angesichts des elementaren gesellschaftlichen Stellenwerts der Reproduktionsarbeit ist nicht nachvollziehbar, warum Lohnarbeitende Bezüge aus der Arbeitslosenversicherung erhalten, alleinerziehende Frauen mit Kindern aber auf die Sozialhilfe verwiesen werden. Ferner werden Jugendliche benachteiligt, die nicht einmal die Chance hatten Eingang in den Arbeitsmarkt zu finden. Und schließlich haben die obigen Ausführungen gezeigt, dass noch nicht einmal alle, die das Kriterium der 12-monatigen Beschäftigung erfüllen, tatsächlich privilegiert werden. Denn GeringverdienerInnen sowie Familien mit mehreren Kindern sind ergänzend zur Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfe angewiesen. Damit wird auch innerhalb der Gruppe der ArbeitslosenhilfebezieherInnen Reproduktionsarbeit wiederum diskriminiert. Das Anknüpfen an eine 12-monatige Beschäftigung für den Bezug von Arbeitslosenhilfe erweist sich insgesamt als ungeeignet und sachlich nicht gerechtfertigt. Die unterschiedliche Absicherung von Erwerbslosen in der Arbeitslosen- und Sozialhilfe ist historisch überholt und ungerecht. Eine Reform ist aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit dringend geboten.

Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz

Die unterschiedliche finanzielle Absicherung im Fall von Arbeitslosigkeit ist auch im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 I Grundgesetz (GG) problematisch. Zwar verfügt der Staat gerade bei der Sozialgestaltung aufgrund des Sozialstaatsprinzips über einen weitgehenden Gestaltungsspielraum, denn staatliche Leistungen führen regelmäßig zu einer Ungleichbehandlung Nichtbegünstigter. Gleichwohl drängt sich in diesem Fall ein Verstoß gegen das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit auf. Die gesetzgebende Gewalt ist verpflichtet, Sachverhalte in sich konsistent zu regeln. Die Kriterien für die Einstufung in Arbeitslosen- oder Sozialhilfe werden diesen Anforderungen nicht gerecht. Insbesondere das Zusammenspiel aus der Höhe des Einkommens in Verbindung mit den familiären Unterhaltsverpflichtungen, welche für das Absinken des Arbeitslosenhilfesatzes unter das Existenzminimum verantwortlich sind, haben eher den Anschein einer willkürlichen denn einer folgerichtigen von Sachkriterien geleiteten Zuordnung zu beiden Systemen. Durch die Abschaffung der Beitragsfinanziertheit der Arbeitslosenhilfe ist die maßgebliche Begründung für eine Privilegierung dieser Gruppe weg gefallen. Heute geht es um das gleiche Geld (Steuermittel), das bei gleichem Risiko (Arbeitslosigkeit) an gleichermaßen bedürftige Menschen verteilt wird. Die Zwei-Klassen-Unterstützung von Arbeitslosen in der derzeitigen Form verstößt gegen Art. 3 I GG. Zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit ist ein Umbau der staatlichen Fürsorge geboten.

Kein schöner Ausblick

Die Zielrichtung der Agenda 2010 ist eindeutig: alle diejenigen, die im Verwertungsprozess nicht mehr gebraucht werden, zählen in unserer Gesellschaft nichts und sollen daher mit möglichst wenig Mitteln verwaltet werden. Die eigentliche und gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit besonders krass zu Tage tretende Problematik, dass Lohnarbeit nicht zur Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum taugt, wird verdrängt. Stattdessen wird unverdrossen mit so genannten Reformen die Spaltung der Gesellschaft in erwünschte und unerwünschte BürgerInnen und damit einhergehend in Reich und Arm vorangetrieben.

Lena Dammann hat zum Glück das erste juristische Staatsexamen hinter sich und lebt in Hamburg.

Anmerkungen:

1 Spiegel-online vom 08.08.2003, http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,260480,00.html.
2 tageszeitung vom 03.12.2002, 12.
3 Süddeutsche Zeitung vom 25.05.2001.
4 Adamy, Soziale Sicherheit 2000, 270 (271).
5 Vgl. §§ 117 ff. SGB III.
6 Vgl. § 136 Abs. 2 Nr. 8 SGB III.
7 Masing, Johannes, Umbau des Doppelregimes von Sozial- und Arbeitslosenhilfe, Deutsches Verwaltungsblatt 2002, 7 (12).