"Drei Schwerter über unserem Kopf"

Zum Tod des marokkanischen Schriftstellers Mohamed Choukri

Als Mohamed Choukri vor einigen Jahren zu Gast in Freiburg war, verlangte er bei seiner Lesung zunächst nach Wein, weil das Trinken die Zunge lockere und die Gedanken zum Fließen bringe. ...

... Ob es wirklich am Spätburgunder lag,dass das Publikum an jenem Abend voll auf seine Kosten kam, sei dahingestellt. In jedem Fall war es vom Charme und Esprit dieses Mannes gänzlich hingerissen. Nach der Lesung verwandelte er die übliche Fragestunde in eine anregende Debatte über Literatur, Politik, Religion und Sexualität im arabischen Raum. Er zögerte nicht, einige anwesende Islamisten mit ihrer eigenen Doppelmoral zu konfrontieren. Es ist diese diskussionsfreudige Offenheit, die Choukris Werk geprägt und seinen Lebensweg bestimmt hat.
Mohamed Choukri wurde 1935 in einem kleinen Dorf im Rif-Gebirge geboren. Hunger und Krieg trieben die Familie in den vierziger Jahren nach Tanger. Die Hoffnung auf ein besseres Auskommen zerschlug sich jedoch schnell. In Tanger herrschte noch größeres Elend, die Gewalttätigkeit des Vaters eskalierte. Choukri entzog sich dem väterlichen Zugriff, so gut es ging, und schlug sich mehr schlecht als recht durchs Leben: als Kofferträger, Kellner, Schmuggler und Gelegenheitsdieb. Mit einundzwanzig Jahren landete er wegen eines kleinen Delikts im Gefängnis. Dieses Ereignis markierte den Wendepunkt seines Lebens. Als ein Mitgefangener ihm Verse des tunesischen Dichters Abulkasim El Schabi vorlas, wurde er von der Faszination der Literatur ergriffen. Er entwickelte eine Leidenschaft, die ein Leben lang anhalten sollte. Noch im Gefängnis lernte er die ersten drei Buchstaben des Alphabets, besuchte nach der Entlassung ein Lyceum in Larache und sog begierig die bislang versagte Bildung auf. Nach der Ausbildung unterrichtete er eine Zeit lang, arbeitete fürs Radio und begann selbst zu schreiben.

Als unmoralisch verschrien
Choukris Zuhause waren vor allem die Bars und Straßencafés. Dort las und schrieb er, dort bewegten sich seine Protagonisten und dort traf er auch Exilliteraten wie Samuel Beckett, Paul Bowles, Jean Genet oder Tennessee Williams. Diese Begegnungen prägten ihn; er reflektierte sie eindrücklich in seinen Tagebüchern. Im Deutschen erschienen sie unter dem Titel "Jean Genet und Tennessee Williams in Tanger"; seine komplizierte Auseinandersetzung mit Paul Bowles (französisch unter dem Titel "Paul Bowles, le reclus der Tanger") gibt es (noch) nicht auf deutsch. Bowles war eine besonders wichtige Person in Choukris Leben: Dieser übersetzte 1973 den ersten Teil seiner Autobiografie "Das nackte Brot" ins amerikanische Englisch und machte ihn damit international bekannt. Erst 1982 erschien das Buch auf arabisch. Heute liegt es in über 40 Sprachen vor.
Während "Das nackte Brot", in dem Choukri die Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend beschreibt, im Westen auf große Anerkennung stieß, wurde es im arabischen Raum von Konservativen und insbesondere von Fundamentalisten als unmoralisch verschrien. Über zwanzig Jahre lang war es in Marokko verboten. Das Buch verletze das religiöse Empfinden, missachte die im Koran verankerte Unantastbarkeit des Vaters und verstoße gegen die Sittlichkeit.
Tatsächlich sind es die radikale Offenheit und der freizügige Ton, die ihm übel genommen werden. Choukri schildert eine Welt der Trinker, Huren und Tagelöhner, ein gewaltsames Milieu, das er weder romantisiert noch mit Opfer-Pathos beklagt. Hart und ungeschminkt beschreibt er, wie Hunger, Armut und Elend regieren. Der Roman ist jedoch mehr als ein Abbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es sind die lichten und vor allem die dunklen Facetten der menschlichen Existenz, die Choukri interessieren: Liebe, Hass, Sexualität, Perversion, Gewalt. Die Unverblümtheit, mit der er diese Themen zur Sprache bringt, zieht einen in den Bann, weil sie einen neuen Blick auf die conditio humana offenbart.

Gift gegen Eiferer
Der Wirklichkeit ins Auge zu blicken, ist Choukris Programm. Deshalb existieren für ihn keine Tabus. "Ich schreibe über den sich prostituierenden Körper, der für alle in einer offenen Weise zu haben ist. Diese Art Sex ist ein miserabler Sex - das gilt für alle Beteiligten, sogar für den Freier, der sexuelle Freizügigkeit sucht, die er im ‚normalenÂ’ Leben nicht findet. Aber dieser miserable Sex ist Realität, und deshalb muss man über ihn schreiben. Zumal er anzeigt, wie viel miserabler noch der ‚normaleÂ’ Sex in der Ehe gehandhabt wird." Dass diese Wahrheit wie Gift auf Traditionalisten und religiöse Eiferer wirkt, ist Choukri klar. Er weiß auch warum: "Körperbewusstsein und Wille zum Genuss wenden sich früher oder später immer gegen Unterdrückung."
Bei aller Verzweiflung, die Mohamed Choukri in seinem Leben erfahren haben dürfte, ist es sicherlich auch dieser Wille zum Genuss gewesen, der ihn angetrieben und das Besondere und Kraftvolle seiner Persönlichkeit ausgemacht hat. Mohamed Choukri war auf seine Weise ein Kämpfer, der sich konsequent für die Freiheit des Individuums einsetzte. Er schrieb an gegen die "drei Schwerter über unserm Kopf, die den Menschen niederhalten: die Religion, die Politik und die Moral." Dieser Mut, der viele jüngere marokkanische Autoren inspiriert hat, ist nicht hoch genug zu würdigen in einer Zeit, in der mit dem Islamismus ein fanatischer Kollektivismus um sich greift, dem das Individuum nichts mehr gilt. Mohamed Choukri ist am 15. November in einer Klinik in Rabat an einem Krebsleiden gestorben. Seine Stimme wird fehlen.

Literatur:

- AsÂ’ad Khairalla: Kein Zwitschern der Vögel. Ein Gespräch mit dem marokkanischen Autor Mohamed Choukri, in: iz3w, Nr. 214, Juni/Juli 1996, S. 44-46

Sigrid Weber ist Mitarbeiterin im iz3w.

Aus iz3w 274 (Jan./Feb. 2004)