Anpassungskurs

Der frühere SPD-Vorsitzende Jochen Vogel bleibt angesichts des Wahlergebnisses für die bayerische Sozialdemokratie (19,6%; Verlust bei den Erststimmen: 770.500) gelassen. Die Partei habe ...

... in den zurückliegenden 140 Jahren etliche Höhen und Tiefen durchlebt, werde auch den Absturz unter die 20%-Marke aushalten und wieder nach vorne kommen.
Diese Überzeugung von der historischen Mission der deutschen Sozialdemokratie ist rührend, ein Argument für eine Aufstiegs- und Erneuerungsbewegung kann freilich auch der Elder Statesman nicht vorweisen. Unbeschadet der Willensverhältnisse in der Wähler- und Mitgliedschaft hält die SPD-Führung Kurs. Alternativen zur Anpassung des Sozialstaats an einen nicht mehr gestaltbaren flexiblen Kapitalismus sind für sie nicht denkbar. Was mit der Einführung kapitalbasierter Alterssicherung (Riester-Reform) eröffnet wurde und mit einem Radikalumbau des Arbeitsmarktes (Hartz-Gesetze) seine Fortsetzung fand, mündet nun im grundlegenden Umbau der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme (Rürup-Kommission). Die Agenda 2010 ist keine bittere Medizin, die für eine kurze Zeit verabreicht wird, damit der Patient nach seiner Gesundung wieder den Nektar sozialer Reformen genießen kann. Sie ist das gesellschaftspolitische Projekt der Neuen Sozialdemokratie par excellance.

Auf die Skepsis des zunehmend angeschlagenen Patienten, ob die verabreichte Medizin möglicherweise falsch sei, erwidert der Arzt, dass die bisherige Dosis zu gering bemessen und mit der Therapie zu spät begonnen worden sei. So hat der Kanzler die Abschaffung des demografischen Faktors in der Rentenformel, mit dem das bürgerliche Lager im Zuge der Renten"reform" 1999 weitere Kürzungen der Altersrenten auf den Weg bringen wollte, als schweren politischen Fehler kritisiert. Muss er auch, wenn als nächste Schritte die Absenkung des Bruttorentenniveaus auf 42% und weitere Abschläge beim vorzeitigen Ausscheiden aus einem gesetzlich verlängerten Erwerbsleben auf der Tagesordnung stehen. Bevor es so weit ist, werden einschneidende Kurzfristmaßnahmen verabschiedet. Um den Beitragssatz im kommenden Jahr unter 20% zu halten, plant die Bundesregierung, auf einer Klausurtagung im Oktober die Anpassung der Renten an die Einkommensentwicklung zu verschieben, den Auszahlungstermin auf das Monatsende zu verlagern, die Schwankungsreserve noch weiter herabzusetzen und die Beiträge zur Pflegeversicherung zu erhöhen.

Eine Regierung, die vor fünf Jahren angetreten war, zumindest einige soziale Grausamkeiten der Ära Kohl zu korrigieren, ist nicht nur auf dem besten Weg, mehr von unten nach oben umzuschichten, als es Neokonservative und Neoliberale vermochten, sondern rühmt sich damit, im Unterschied zu ihren Vorgängern einschneidende antisoziale Systemkorrekturen durchgesetzt zu haben: weg vom Grundsatz öffentlich-solidarischer Daseinsvorsorge vor kollektiven Risiken, weg von der Maxime einer Lebensstandardsicherung im Alter, weg von der paritätischen Finanzierung sozialer Leistungen, weg von einer Politik, den Sozialstaat armutsresistent zu machen.

Das Tempo, in dem sozialdemokratische Politik transformiert wird, ist immens. Seit Ende der 1950er Jahre steht "Bad Godesberg" als Symbol für die programmatische Anerkennung des fordistischen Kapitalismus als sozio-ökonomischer Existenzgrundlage einer modernisierten Sozialdemokratie. Dadurch, dass man sich unter "das Dach der sozialen Marktwirtschaft" (Bruno Kreisky) stellte, sollte Konjunktursteuerung und sozialstaatliche Zivilisierung des Kapitalismus betrieben werden. Diese Gestaltungsperspektive und die mit ihr verbundenen Umverteilungsprojekte zwischen Lohnarbeit und Kapital wurden nach zwei Weltwirtschaftskrisen in den 1980er Jahren ad acta gelegt; Sozialpolitik bedeutete hinfort "Umverteilung innerhalb der Klasse". Nicht einmal ein Jahrzehnt später wurde aus der intensivierten Standortkonkurrenz die Notwendigkeit abgeleitet, den Sozialstaat zu "verschlanken" und dessen Leistungen zu "redimensionieren". Die Perspektive lautete nun, den "Rheinischen Kapitalismus" gegen die Brandungswellen des "Angelsächsischen Modells" zu verteidigen.

Mit der Agenda 2010 wurde auch sie einkassiert. Zwar hatte der Kanzler noch darauf verwiesen, dass für den Finanzcrash des Jahres 2001 und die nachfolgende realwirtschaftliche Stagnation nicht das Sozialsystem und die Gewerkschaften verantwortlich gemacht werden könnten, aber das war nur zur Beruhigung der Basis gedacht und nicht als Richtschnur der Politik. In ihrer zweiten Legislaturperiode will die Regierung ein neues Kapitel sozialdemokratischer Geschichte schreiben: den Umbau des Sozialstaates in Richtung eines Systems nicht mehr armutsresistenter öffentlicher Grundsicherung und wachsender privater Vorsorge. Von der Zivilisierung des "organisierten Kapitalismus" zur Beschleunigung des "flexiblen Kapitalismus", vom asymmetrischen Klassenkompromiss von Lohnarbeit und Kapital zu Deregulierung und Ausbau des Warencharakters der Arbeitskraft.

Ziel des sozialen Interesses der Neuen Sozialdemokratie ist der qualifizierte Bürger und Verbraucher, der nach der Wandlung von Verkäufer- in Käufermärkte die neue wirtschaftliche Macht repräsentieren soll. Ausgangspunkt neusozialdemokratischer Politik ist nicht mehr der Produzent, sondern der Teilhaber (Stakeholder), der seinen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum durch Pflege seines "Humankapitals" sichert. Nicht mehr die Steuerung und Demokratisierung der Produktion, sondern eine "neue Partnerschaft" von Zivilgesellschaft und Staat steht auf der Tagesordnung. Nicht mehr kollektive Sicherung, sondern die Befähigung des "Arbeitskraftunternehmers" durch Förderung von Qualifikation, Flexibilität und Mobilität steht im Zentrum dieser Partnerschaft. Der Begriff der Verteilungsgerechtigkeit macht für die Neue Sozialdemokratie - wie ihr Generalsekretär feststellt - keinen Sinn mehr. "Jeder vor allem auf die Verwaltung vorhandener materieller Bestände setzende Gerechtigkeitsbegriff droht unter diesen Umständen von den fortwährenden Veränderungsprozessen ad absurdum geführt zu werden."

Anfang des Jahres gab es in der SPD noch den Versuch, eine von der Parteiführung zunächst verhinderte Debatte über die Agenda 2010 zu erzwingen und durch innerparteiliche Aufklärung doch noch substantielle Veränderungen zu erreichen. Zumindest zeitweilig, wenngleich vielfach auch halbherzig, wurde die Kritik der SPD-Linken von Teilen der Gewerkschaftsbewegung unterstützt. Ein halbes Jahr später, wenn sich die SPD zum Parteitag im November versammelt, werden etliche Vorhaben der Agenda 2010 den Bundestag passiert haben. Die Protestpause, die der DGB-Vorsitzende Michael Sommer im Mai verordnete, ist in einen stillen Herbst übergegangen. Widerstand wird in einer Melange von Resignation und "Sachzwanglogik" klein geschrieben.

In diese "Stimmungslage" passt der Vorstoß, die Tarifautonomie einzuschränken und die Gewerkschaften mit betrieblichen Standortbündnissen in ihrem "Kerngeschäft" unter Druck zu setzen. Dazu passt auch, dass ein stinknormales Gerichtsverfahren gegen einen Teil des Aufsichtsrates von Mannesmann (Ackermann etc.) wegen Prämienzahlungen (111 Millionen DM) zu einem Schlag gegen den Wirtschaftsstandort Deutschland hochstilisiert wird.

Welche Alternative haben WählerInnen in dieser Situation? In Bayern sind knapp 43% der Wahlbevölkerung "zu Hause" geblieben. Mittlerweile bilden die "aktiven Nichtwähler" die stärkste Partei. Denn vom gesamten Wahlvolk erhielt die nunmehr mit Zweidrittelmehrheit regierende CSU nur ein Drittel der Stimmen (33,6%; weniger als noch vor fünf Jahren mit 35,8%). An Stoibers triumphalem Gestus muss das nicht kratzen, ist doch die SPD auf 11% (aller Wahlberechtigten) abgestürzt und hat zudem noch etliche StammwählerInnen der politischen Rechten zugetrieben.

Die Hoffnung auf einen Aufstieg aus dem Tal der Tränen hat keine Überzeugungskraft. Nicht nur die deutsche, sondern wohl die gesamte europäische Sozialdemokratie ist auf diesen Kurs der Mängelverwaltung oder der Anpassung der sozialstaatlichen Institutionen an die Bedingungen chronischer Überakkumulation und geringen Wirtschaftswachstums festgelegt. Eine Rückkehr der SPD zu einer engagierten Reformpartei innerhalb des Kapitalismus ist illusorisch, die Perspektive ihrer Ausrichtung an einem demokratischen Sozialismus bloße Träumerei. Es gibt weder innerparteilich noch gesellschaftlich eine formierte Gegenposition links von der Sozialdemokratie. Damit soll nicht der Stab über die sozialistischen Strömungen und globalisierungskritischen Widerstandspotenziale gebrochen werden. Zur selbstkritischen Bilanzierung gehört aber, dass das massive politisch-gesellschaftliche Roll-Back von der Linken immer noch unterschätzt wird. Wenn 43% der WählerInnen und Wähler sowohl dem bürgerlichen Block als auch dem rot-grünen Lager kein Vertrauen entgegenbringen und sich der Stimme enthalten, dann ist das auch ein Problem für die Linke.

Auf dem Dritten Weg schwinden nicht nur reale ökonomische Perspektiven, die rückwirkend immer neue Anpassungsleistungen und Umverteilungsoperationen vermeintlich erzwingen. Dieser Weg führt immer tiefer in eine entzivilisierte Gesellschaft. Wer Wählervoten nur noch dadurch zu kommentieren weiß, dass die "Angst vor Veränderung" ein höheres Veränderungstempo erforderlich mache, muss sich nicht wundern, wenn der Wähler - der Schrecken ohne Ende überdrüssig - ein Ende mit Schrecken herbeiführt. Wer innerparteiliche Willensbildung für einen Kropf und Debatten für überflüssig hält, muss sich nicht wundern, wenn Abstimmungen mit den Füßen erfolgen. Gefährlich wird die Lage dann, wenn Alternativangebote nicht zur Verfügung stehen. Von der Formierung eines Blocks fortschrittlicher sozialer Kräfte sind wir in Deutschland möglicherweise sogar noch weiter entfernt als die Linke in den europäischen Nachbarländern.

aus: Sozialismus Heft Nr. 10 (Oktober 2003), 30. Jahrgang, Heft 270