Die EU als demokratisches Sozialmodell

Alternative zur

Am 15. September 2003 ist Egon Matzner (geb. 2. März 1938) plötzlich und völlig unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben. Sein Tod reißt eine tiefe Lücke in die ohnehin gegenwärtig nicht ...

... besonders große Zahl von Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftlern, die Ökonomie als wesentliche Grundlage zur Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse ansehen und sich dagegen wenden, dass die menschlichen Lebensverhältnisse dem Gewinn und der weltweiten Wettbewerbsfähigkeit privater Unternehmen untergeordnet werden.
Die aus der sozialistischen Tradition stammende Position hat seinen Lebensweg, seine wissenschaftlichen Arbeiten sowie seine politischen Projekte bestimmt. Matzner, der 1960 in Wien promovierte, kam Mitte der 1960er Jahre bei einem Forschungsaufenthalt in Stockholm in engen Kontakt mit den führenden Vertretern des skandinavischen Sozialstaatsmodells (Gunnar Myrdal, Rudolf Meidner, Gösta Rehn), das einen tiefen Eindruck auf ihn machte.
Die Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung dieses Versuchs, allgemeinen Wohlstand und demokratische Verhältnisse in Wirtschaft und Gesellschaft des entwickelten Kapitalismus herzustellen und zu sichern, stehen im Zentrum der wissenschaftlichen Arbeit von Egon Matzner, die er von 1972 bis 1998 als Professor für Finanzwissenschaft an der Technischen Universität Wien betrieb - unterbrochen von mehreren Forschungsaufenthalten, u.a. in den 1980er Jahren als Direktor der Abteilung Arbeitsmarkt und Beschäftigung im Wissenschaftszentrum Berlin. Theoretisch handelt es sich dabei um den Versuch, die Keynessche Theorie um eine sozialstaatliche Perspektive zu erweitern. Matzner hat dabei die These von Keynes übernommen, dass kapitalistische Systeme erstens instabil und krisenanfällig sind, zweitens aber durch politische Intervention stabilisiert werden können.
Erweitert und letztlich überschritten wurde der Keynessche Horizont jedoch durch die Aufnahme der Doppelperspektive starker sozialer Sicherungssysteme und demokratischer Partizipation der ArbeitnehmerInnen auf allen Ebenen der wirtschaftlichen Entwicklung. Zentraler Angelpunkt dieser Stoßrichtung ist das Konzept der Vollbeschäftigung, das weit über den rein ökonomischen Horizont hinaus weist und die soziale Dimension gesellschaftlicher Integration sowie die politische Dimension demokratischer Stabilität mit umfasst. In diesem Sinne hat Egon Matzner schon Ende der 1970er Jahre versucht, das Programm der sozialdemokratischen Partei Österreichs zu beeinflussen. In dem 1991 von Egon Matzner und Wolfgang Streeck herausgegebenen Buch "Beyond Keynesianism. The Socio-Economics of Production and Full Employment" wird diese Perspektive in ihrer ganzen Breite sichtbar - in dem vier Jahre zuvor mit Jan Kregel organisierten Band "Barriers to Full Employment" wurden allerdings auch schon die ökonomischen und machtpolitischen Hindernisse analysiert, die ihrer Verwirklichung entgegenstehen.
Nach dem Zusammenbruch der gesellschaftlichen und politischen Systeme in Osteuropa war Matzner führend an dem unter dem Namen Agenda 2000 bekannt gewordenen Projekt zum wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau der mittel- und osteuropäischen Länder beteiligt. Es zielte auf eine Konzeption des Übergangs von einem misslungenen Sozialismus zu einem demokratisch-wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus. Dies sollte eine Alternative sein zu den von IWF, Weltbank und den Regierungen der meisten Industrieländer empfohlenen - und durchgesetzten - Rezepturen schneller Privatisierung, Marktöffnung und Deregulierung der gesamten Wirtschaft.
Diese Arbeit fand zwar Anerkennung in der Wissenschaft und machte einen gewissen Eindruck bei sozialdemokratischen Parteien und Regierungen - im Übrigen aber wurde sie von einer Welle des neoliberalen Fundamentalismus und den Beutezügen großer Konzerne überrollt - mit genau den katastrophalen Folgen, die Matzner vorausgesehen hatte und die durch die Agenda 2000 vermieden werden sollten.
In den letzten zehn Jahren, in denen Matzner mit großem Engagement und großer Produktivität beim Netzwerk "Europäische WirtschaftswissenschaftlerInnen für eine alternative Wirtschaftspolitik in Europa" (Euromemorandum-Gruppe) mitarbeitete, beschäftigte er sich insbesondere mit zwei Problemen: mit der Perspektive des Beitritts der osteuropäischen Länder zur EU und mit der zunehmend militarisierten Politik der USA als einzig verbleibender Supermacht.
Beide Themen verdeutlichten für ihn die Dringlichkeit, ein eigenständiges "europäisches Entwicklungsmodell" auszuarbeiten. Es soll eine Alternative zu dem von den USA intendierten Modell eines "neuen Europa" sein, das, gespalten und handlungsunfähig, abhängig von den USA sein und sich im besten Fall mit der Rolle des Juniorpartners in einer von den Vereinigten Staaten beherrschten "monopolaren Weltordnung" (so der Titel eines der letzten Bücher von Matzner) begnügen sollte.
Im Innenverhältnis des eigenständigen europäischen Entwicklungsmodells komme es darauf an, in der neuen erweiterten Europäischen Union die großen ökonomischen und sozialen Entwicklungsgefälle abzubauen und dadurch, und nicht durch autoritär-militaristische Formierung, eine europäische Identität herzustellen. Hierzu bedürfe es freilich einer sehr weitreichenden Kursänderung in der Makropolitik (d.h. vor allem der Geld- und Fiskalpolitik), der Struktur- und Regionalpolitik und der Sozialpolitik. Zum europäischen Entwicklungsmodell gehöre - darauf hat Matzner in seinen letzten Manuskripten immer wieder eindringlich hingewiesen - ein starker öffentlicher Sektor, der eigenständig durch die "res publica" zu begründen sei und nicht auf eine gnädig - und im Laufe der Entwicklung immer ungnädiger - geduldete Ausnahmeposition einer im Übrigen durch Konkurrenz und Aggressivität dominierten Welt zurückgestutzt werden dürfte.
Für die Außenverhältnisse der EU stand Egon Matzner dem gelegentlich auch bei Linken vertretenen Konzept sehr kritisch gegenüber, sich durch stärkere Aufrüstung und Europäisierung der Militärpolitik eine weltpolitische Machtposition aufzubauen, die der EU einen Umgang von gleich zu gleich gegenüber den USA erlaube. Diesen Weg hielt Matzner für erstens illusorisch und zweitens für prinzipiell nicht akzeptabel. Die Alternative für die EU im "Umgang mit dem Hegemon" solle vielmehr darin bestehen, ihn zunächst in einzelnen Sachfragen zu isolieren. Die EU müsse darüber hinaus glaubhaft auf internationale (nicht nur wirtschaftliche) Beziehungen hinarbeiten, die auf strikter militärischer Nichtangriffsfähigkeit und internationaler Kooperation beruhen. Die zunächst regionale Umsetzung einer derartigen Konzeption werde im Laufe der Zeit für viele Entwicklungs- und Industrieländer eine attraktive Alternative zur Unterwerfung unter oder zum Anschluss an das US-Modell werden. Dies werde dazu beitragen, statt einer amerikanisch geprägten Uniformität die Vielfalt der Welt und der gesellschaftlichen und individuellen Lebensformen zu erhalten und zur Grundlage demokratischer Weltverhältnisse zu machen.
Egon Matzner wusste, dass es nicht nur ein weiter Weg bis zur Verwirklichung dieser Ideen ist, sondern diese selbst weiter ausgearbeitet, konkretisiert und zum Zwecke der schrittweisen Umsetzung heruntergebrochen werden müssen. An beidem hat er zuletzt intensiv gearbeitet. Nicht nur sein wissenschaftlicher "Output" in Form veröffentlichter und unveröffentlichter Texte, Vorträge und Teilnahme an Kongressen, workshops und sonstigen Diskussionen war enorm. Bewundernswert war darüber hinaus seine Fähigkeit, auf Menschen zuzugehen, ihnen seine Ideen vorzutragen, ihre Reaktionen ernst zu nehmen und produktiv zu verarbeiten. Die meisten, die mit ihm diskutierten, hatten hinterher, auch wenn sie nicht seiner Meinung waren, den Eindruck, ein Stück weiter gekommen zu sein. Egon Matzner wird seinen KollegInnen, GenossInnen und FreundInnen sehr fehlen.

Jörg Huffschmid ist Professor für Politische Ökonomie und Wirtschaftspolitik an der Universität Bremen und Mitglied der deutschen und der europäischen Memorandum-Gruppe.

aus: Sozialismus Heft Nr. 11 (November 2003), 30. Jahrgang, Heft Nr. 271