Die PDS am Berliner Krankenbett

in (27.10.2003)

"Die Agenda 2010 stellt einen so dramatischen Abbau sozialstaatlicher Leistungen dar, wie ihn Deutschland noch nie erlebt hatÂ… eine beispiellose Zäsur für den bundesdeutschen Sozialstaat...

... Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, unsere Forderungen nach einem solidarischen Umbau der sozialen Sicherungssysteme... lautstark und deutlich in die öffentliche Debatte einzubringen." Diese zutreffende Einschätzung, formuliert von Mitarbeitern der PDS-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, wurde mehrheitlich abgesegnet vom Landesparteitag der PDS Berlin. Auch am rigiden Sparkurs des rot-roten Senats übte der Parteitag heftige Kritik. Doch dann stimmten die Delegierten auf Drängen des Landesvorsitzenden Stefan Liebich und des Wirtschaftssenators Harald Wolf mehrheitlich der sozial ungerechten Erhöhung der Kitagebühren zu, die vor allem Familien mit mehreren Kindern trifft.
Der Berliner SPD-Landesvorsitzende Peter Strieder begrüßte noch am Abend des gleichen Tages die Beschlüsse des Koalitionspartners: Die PDS beweise Stabilität in der Koalition und nehme ihre Verantwortung für Berlin wahr. Genau so hatte es die Regie im Parteitagssaal gemeint, an dessen Stirnwand die klassenkämpferische Losung "Miteinander für Berlin" prangte. Die Berliner Zeitung, nicht gerade bekannt für ihr soziales Engagement, stellte anderen Tages fest, in Berlin lasse sich beobachten, "wie eine nach Zahlen gar nicht so schwache PDS in der Koalition mit den Sozialdemokraten politisch fast unsichtbar wird. Doch gleichzeitig sorgen ihre Abgeordneten und Senatoren mit dafür, daß in der Hauptstadt ein Politik umgesetzt wird, die mit den Zielen und auch mit dem Wahlprogramm der PDS herzlich wenig zu tun hat. Denn abgesehen vom aktuellen Streit um die Kitagebühren: Dieser Senat verfolgt eine Politik des Sozialabbaues, die der gar nicht so schleichenden Verelendung in manchen Schichten und in manchen Teilen Berlins abseits des glitzernden Regierungsviertels nicht Einhalt gebietet, sondern Vorschub leistet. Das hatte man von Sozialisten eigentlich anders erwartet."
Von Sozialisten, demokratischen dazu, hatte man tatsächlich anderes erwartet. Aber die Kitagebühren-Erhöhung ist nur einer von vielen unbegreiflichen Schritten der PDS-Senatoren und -Abgeordneten. Die lange Kette begann mit dem Koalitionsvertrag, dessen Präambel ganz im Stil der früheren Westberliner Frontstadtpropaganda alle Verantwortung für das Leid der Menschen im Kalten Krieg "ausschließlich bei den Machthabern in Ost-Berlin und Moskau" sieht und dessen Hauptinhalt in dem aussichtslosen Versuch besteht, den von der CDU- und SPD-Politik angehäuften riesigen Schuldenberg den Bürgern aufzuladen. Es folgten - jeweils mit Zustimmung der PDS - die Kürzung der Mittel für die Stadtbezirke, die massive Einschränkung aller Sozialprogramme, die skandalöse Risikoabschirmung für die Bankgesellschaft Berlin in Höhe von 22,6 Milliarden Euro, die Einigung über den Bau des vor den Wahlen abgelehnten Großflughafens Berlin-Schönefeld, die Verteidigung hoher Aufsichtsratsbezüge durch den Wirtschaftssenator, die Aushöhlung des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst und der Rückzug aus der Tarifgemeinschaft des Bundes und der Länder. Jüngstes, aber gewiß nicht letztes Glied in dieser traurigen Kette ist Liebichs Aufforderung an die SPD, in deren Reihen der Widerstand gegen die neuerlichen sozialen Grausamkeiten wächst; doch "Koalitionsdisziplin" zu üben.
Begleitet wird dieser antisoziale Kurs von dazu passenden dümmlichen Erklärungen. Nachdem sich die SPD ein Jahrhundert lang gegen den berechtigten Vorwurf gewehrt hat, Arzt am Krankenbett des Kapitalismus zu sein, orientiert jetzt der PDS-Landesvorsitzende die eigene Partei darauf, daß auch sie ein wenig "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus" sein müsse. Und nachdem selbst CDU-Politiker in jüngster Zeit auf die unsägliche Gleichsetzung von Nazi- und SED-Diktatur verzichtet haben, stellt ausgerechnet PDS-Senator Wolf in seiner Rede in der Gedenkstätte Plötzensee zum Jahrestages des gescheiterten Attentats gegen Hitler vom 20. Juli 1944 eine Kontinuität zwischen dem Widerstand gegen den Hitlerfaschismus, dem 17. Juni 1953 sowie dem November 1989, dem Ende der DDR, her.
Wem nützt diese Politik?
Den Berlinern? Deren Interessen sind höchst unterschiedlich. Der rigide Sparkurs vertieft die Kluft zwischen arm und reich.
Der PDS Berlin? 2001 erreichte sie bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus in ihrer Hochburg, dem Ostteil Berlins, fast 50 Prozent der Stimmen; bei der Bundestagswahl 2002, nach einem Jahr Regierungsbeteiligung, halbierte sich dieser Anteil.
Der PDS insgesamt? Sie kann nicht als Partei der sozialen Gerechtigkeit auftreten und die Agenda 2010 scharf verurteilen, wenn sie gleichzeitig in der Bundeshauptstadt eine Politik des Sozialabbaues und der sozialen Ungerechtigkeit exekutiert. So ruiniert sie ihre Glaubwürdigkeit, marschiert auf den Abgrund zu und droht auch die anderen Landesverbände hineinzureißen.
Statt "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus" zu spielen und im Rot-Roten Rathaus die ungenießbare Suppe auszulöffeln, die CDU und SPD eingebrockt haben, hätte sie aus den Erfahrungen anderer europäischer Linksparteien, z.B. der italienischen und französischen Kommunisten, lernen können, wenn sie es gewollt hätte.
Andere tun es. In Graz, der "Kulturhauptstadt Europas", wo die KPÖ aufgrund ihres starken sozialen Engagements bei der letzten Kommunalwahl mit 21 Prozent Stimmenanteil ein mit dem PDS-Erfolg bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus vergleichbares Ergebnis erzielte, bemühten sich SPÖ und ÖVP nach Kräften, sie in eine Koalition zu locken. KPÖ-Spitzenkandidat Ernest Kaltenegger weigerte sich: "Da wird jahrelang ein feuchtfröhliches Fest gefeiert. Jetzt, wo es an das Zahlen der Zeche geht, werden ausgerechnet diejenigen zur Übernahme der Verantwortung aufgefordert, die stets vor den Folgen gewarnt habenÂ… Die KPÖ hätte sich von vielen ihrer Grundsätze verabschieden müssen und wäre wohl kaum noch erkennbar gewesen."
Von solchen Erkenntnissen ist die Berliner PDS-Führung weit entfernt. Wenn sie fortfährt, die Zeche für die anderen zu zahlen, dann werden diese nach kommenden Wahltagen ob der Ent- und Wegzauberung der demokratischen Sozialisten wieder feuchtfröhliche Feste feiern. Nicht nur in Berlin.