13 Jahre Einheit

in (27.10.2003)

Nach 13 Jahren Einheit ist die Bilanz durchaus widersprüchlich. Die gute Hälfte der Befragten Ostdeutschen, darunter viele Rentner, gibt an, ihre persönliche materielle Situation habe sich ...

... im Vergleich zur DDR verbessert. Das bezieht sich vor allem auf den Wohnkomfort, auf Konsum- und Reisemöglichkeiten. Für westliche Beobachter merkwürdigerweise stieg aber das Wohlwollen gegenüber Politik und Gesellschaft nicht proportional. Das heißt, wachsender Wohlstand zieht im Osten nicht unbedingt wachsendes Wohlbefinden nach sich. Dem Schulbuch meiner Tochter entnehme ich, daß mit der Demokratie in Deutschland im Westen 73% eher zufrieden sind, im Osten nur 48%. Dies ist jedoch keine generelle Demokratiefeindlichkeit und Ablehnung marktwirtschaftlicher Steuerung, sondern eine Kritik daran, wie marktradikal und lobbyistisch das System im Osten übertragen wurde.
Es gibt Fehler, die sind so gravierend, daß sie irreparabel sind. Dazu gehört das Anzetteln von Eroberungskriegen. Nach dem ersten Weltkrieg sank die Industrieproduktion Deutschlands auf 60 Prozent. Nach dem zweiten Weltkrieg sank sie auf 40 Prozent. Auf 30 Prozent sank die Industrieproduktion Ostdeutschlands nach dem Beitritt. Alle Fachleute hatten dies vorausgesagt. Der Bundesrat machte seine Zustimmung zum Vertrag über die Währungsunion in einer nie an die Öffentlichkeit gelangten Entschließung davon abhängig, daß es unverzüglich zu Neuverhandlungen kommt, "sobald sich zeigt, daß die DDR auf Dauer zum wirtschaftlichen Notstandsgebiet zu werden droht". (Bundestagsprotokoll, II. Wahlperiode, S. 17574) "Die Wirkung der Währungsunion zu den Bedingungen von Kanzler Kohl war vergleichbar mit einer ökonomischen Atombombe", konstatierte der Wirtschaftskolumnist des Guardian knapp ein Jahr später (April 1991). Doch statt Nachverhandlung kam die Schocktherapie der Treuen Hand hinzu, die 95 Prozent des Volkseigentums in westliche Hände übergab.
Die Ostdeutschen sind heute die Bevölkerung in Europa, der am wenigsten von dem Territorium gehört, auf dem sie lebt. Immobilien, Betriebe und Bodenreformland wurden unter Konditionen verkauft, von denen die einstigen DDR-Bürger weitgehend ausgeschlossen waren. Egon Bahr hat darauf hingewiesen, daß in Ostdeutschland feudale, frühmittelalterliche Eigentumsstrukturen geschaffen wurden, wie sie selbst in Afrika und im Orient vor zwei Generationen überwunden worden sind. Die politische Vereinigung Deutschlands hat die ökonomische Spaltung auf gewissen Gebieten vertieft.
Das Problem ist beileibe nicht, daß der Osten noch nicht den Wohlstand des Westens erreicht hat. Der soeben erschienene Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit weist für die neuen Länder ein Bruttoinlandsprodukt aus, das immer noch unter dem liegt, das selbst die marode DDR am Ende zustande gebracht hatte. Oder aus der Sicht des 19. Berichts des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung beschrieben: Die Einfuhren nach Ostdeutsch¬ land übertreffen die Ausfuhren auf dramatische Weise. Das jährli¬ che Leistungsbilanzdefizit be¬ trug in den letzten Jahren jeweils 200 Mil¬ liarden Mark. Diese gigantische Summe bedeu¬ tet, daß im Beitrittsge¬ biet jeden Tag Leistungen von etwa 600 Millionen Mark angefordert werden, die durch eigene Wirtschaftskraft nicht ge¬ deckt sind. Anders ausgedrückt: Rund ein Drittel des Ver¬ brauchs in den neuen Ländern wird von draußen finanziert - eine zu DDR-Zeiten undenkbare Disproportion. Es ist freilich ein Bankrott auf hohem Niveau: Unsere Telekommunikation ist auf dem neusten Stand und die meisten Straßen sind ausgebaut. Aber all die schöne Infrastruktur erfüllt hauptsächlich den Zweck, westliche Waren ins Beitrittsgebiet zu karren. Märkte schaffen ohne Waffen.
Das Grundmißverständnis zwischen Ost und West besteht darin, daß eine Seite denkt, sie gibt ihr Letztes, während die andere meint, man nähme ihr das Letzte.
Natürlich entgeht vielen Ostdeutschen nicht, welchen enormen Belastungen inzwischen nicht nur die Städte und Gemeinden in den alten Bundesländern unterworfen sind. Da die Kosten der gegen jede ökonomische Vernunft organisierten Einheit leider nicht durch einen Lastenausgleich aufgebracht wurden, sondern weitgehend den Sozialsystemen aufgebürdet wurden, kann gar nicht übersehen werden, daß auch jeder Arbeiter und Angestellte, jeder Arbeitslose und Rentner im Westen von dieser und jener Agenda empfindlich zur Kasse gebeten wird. "Unser soziales System steht wirklich auf der Kippe", hat Exbundespräsident Herzog gerade gesagt. Daß sich inzwischen herumgesprochen hat, daß auch die Ostdeutschen den Solidaritätsbeitrag zahlen, macht die Sache nicht besser. Soweit ich es beurteilen kann, sieht man im Osten die westlichen Leistungen mit Respekt und Mitgefühl. Und mit dem unbehaglichen Wissen darum, daß die DDR-Wirtschaft am Ende verschlissen war. Sie war krank, aber nicht tot.
Die gesamten Auslandsschulden betrugen etwa ein Viertel dessen, was jetzt jährlich an Transfergeldern nötig ist. Unterstellt, die industrielle Ausrüstung sei ein einziger Schrotthaufen gewesen, bliebe die Frage wie man mit einem Schrotthaufen 1989 immerhin noch ein Bruttosozialprodukt von 354 Milliarden Mark (Statistisches Jahrbuch der DDR von 1990) erwirtschaften konnte. Angenommen es war ein Schrotthaufen - was nicht stimmt, aber bleiben wir dabei - so konnten doch die Immobilien und der schuldenfreie Grund und Boden und vor allem die mitgebrachten, enormen Absatzmärkte in Osteuropa und Asien nicht wertlos sein. Die sind nämlich nicht weggebrochen, wie behauptet wird, sondern weggenommen. Schon nach kurzer Zeit haben westliche Unternehmen diese langjährigen Kunden der DDR in vollem Umfang beliefert.
Ein Zufall war es nicht, daß zwischen 1989 und 1992 die Zahl der Einkommensmillionäre in den alten Bundesländern um beinahe 40 Prozent zugenommen hat. Ein Zufall war es auch nicht, daß 1990 das beste Geschäftsjahr der Deutschen Bank in ihrer hundertjährigen Geschichte war. Im Spiegel (10/94 S.55) konnte man dazu lesen:
"Für westliche Geldhändler hat es einen dickeren Fang wohl nie gegeben: Das komplette Bankensystem eines ganzen Staates, rund 80 Milliarden Mark Spareinlagen und die Schulden auf der anderen Bilanzseite, war im Supermarkt der deutschen Einheit billig zu haben. Fast alle bedeutenden Kreditinstitute griffen zu."
Wenn man bedenkt, daß Kredite in der DDR für einen Zinssatz zwischen zwei und fünf Prozent vergeben wurden, die neuen Geldeigner aber für diese, von ihnen selbst nie vergebenen Kredite plötzlichen einen Zinssatz von zehn und mehr Prozent forderten, und so allein zwischen 1991 und 1996 einen Zusatzgewinn von ca. 100 Milliarden D-Mark erzielten, so muß man sich schon fragen, weshalb nicht auch die Banken einen kleinen Solidarbeitrag zu zahlen haben ...
Die selbe Frage wäre bei fast allen Treuhandgeschäften angebracht. "In Wahrheit waren fünf Jahre Aufbau Ost das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutsche, das es je gegeben hat." Sagte Henning Voscherau (4.12.96 in der Welt), damals Hamburgs Regierender Bürgermeister. Für Westdeutsche, sagte er, nicht für alle Westdeutsche. Für einige, würde ich denken. Eher einige wenige.
Das statistische Bundesamt veranschlagt den "Vereinigungsgewinn" für Westdeutschland auf rund 200 Milliarden D-Mark pro Jahr. Weit mehr also, als der Bruttotransfer in die entgegengesetzte Richtung, der den Ostdeutschen ständig vorgerechnet wird.
Einen Vereinigungsprozeß, der gerecht verlief, hat es in der Geschichte allerdings noch nie gegeben. Der Zusammenschluß verschieden star¬ ker Partner ist immer die Stunde der Lobbyisten. Wenn etwas Warmes und etwas Kaltes zusammenfließen, dann wird das Warme kälter und das Kalte wärmer. So ist die Natur. Wenn sich Reich und Arm vereinen, dann wird das Reiche reicher und das Arme ärmer. So ist der Mensch.
Als sich die reichen Nord¬ staaten Amerikas nach dem gewonnenen Bür¬ gerkrieg 1865 ent¬ schlossen, den armen Süden aufzu¬ bauen, nahm in einem Jahrzehnt der Wohlstand des Nordens um wei¬ tere 50 Prozent zu, während der Lebensstandard im Süden um weitere 60 Prozent sank. So ist das Geld.
In Fachgutachten über die östliche Million leerstehender Wohnungen lese ich von "flächendeckendem Abriß der Stadtbrachen" und, wo auch dafür das Geld fehlt, von Vierteln, die "ausgebucht und eingemottet" werden. Bewohner, die das gleiche Schicksal vermeiden wollen, suchen das Weite. So will über die Hälfte der Jugend in Mecklenburg-Vorpommern mit Sicherheit oder großer Wahrscheinlichkeit wegziehen. (Schweriner Volkszeitung 5.5.02) Kein Wunder bei einer realen Arbeitslosigkeit in dieser Region, die fünf mal so hoch ist, wie in Bayern. Selbst in der Leuchtburg Dresden steht bald jede fünfte Wohnung leer. Das Stadtumbauprogramm Ost ist ein rühriger Versuch der Bundesregierung, das Desaster abzuwenden. Aber die Mittel sind doch nur ein Tropfen auf den kalten Stein. Wenn sich die Menschen weiterhin in gleichem Ausmaß genötigt sehen, aus beruflichen Gründen in den Westen zu ziehen, so werden nach Berechnungen von Demographen schon im Jahre 2020 zwei Drittel aller Bewohner Ostdeutschlands Rentner sein. Ich wage nicht mir vorzustellen, welche Folgen allein für das Lebensgefühl das haben wird. Ironie oder Agonie? Der Aderlaß an Jugend, Kreativität, Bildung, Optimismus und Lebenslust ist die größte Bedrohung für den Osten.
Die beabsichtigte schöpferische Zerstörung dessen, was einst die überindustrialisierte DDR war, hat das Gebiet zu einem strukturschwachen Entwicklungsland gemacht, in dem von fernen Zentralen fremdbestimmte Montagebetriebe einsame Hoffnungsträger sind. Kein einziges der 190 größten deutschen Unternehmen hat seinen Sitz im Osten. Den verlängerten Werkbänken aber droht bei abschwächender Konjunktur als erstes der Abbau. Eine Allianz böser Zungen behauptet, was dann noch blühe, seien Sondermülldeponien.
Vor wenigen Tagen hat der für den Aufbau Ost zuständige Bundesminister Manfred Stolpe verkündet, der Traum von einer baldigen Angleichung der Lebensbedingungen in Ost und West müsse "endgültig beerdigt werden". Gleicher Lohn für gleiche Leistung? Nein, siebzig Prozent Lohn bei gleichen Ausgaben. Erst in 16 Jahren soll das Ziel geschafft sein, aber nicht etwa, weil begründete Wachstumsprognosen zu dieser Hoffnung berechtigen, sondern weil dann die Transfergelder auslaufen. Wundersame Genesung durch in Aussicht gestellten Medikamentenentzug? Andere Fachleute gehen inzwischen davon aus, es werde 80 Jahre dauern, bis sich der Lebensstandard in beiden Teilen des Landes angeglichen habe. Setzt sich diese Tendenz fort, wird es wohl niemanden mehr überraschen, wenn uns demnächst erklärt wird, die Kluft werde überhaupt nie überwunden werden. Viele sagen: der Osten ist aufgegeben worden. Von Chefsache ist längst keine Rede mehr. Das ist auch gut so. Denn die Chefs kommen und gehen, aber der Osten bleibt. Und ein alimentierter Osten schwächt den Lebensstandard der ganzen Bundesrepublik. Nicht nur deshalb wünschte ich mir, der Osten würde zur Herzenssache. Bei einer dramatischen und sozusagen telegenen Katastrophe wie der Flut, ist das eindrucksvoll gelungen. Die Solidarität war nicht nur herzerwärmend, sondern für die Betroffenen auch überlebenswichtig.
Aber die schleichende alltägliche Abwärtsbewegung, der Streit darüber, ob der Osten auf der Kippe steht oder bereits gekippt ist, ist schwer zu vermitteln. Haben wir deshalb zur Aufmunterung die Ostalgiewelle beschert bekommen?
Vor einem Monat stand ich auf der Autobahn Hamburg - Berlin im Stau. Ich meine so einen richtigen Stau, wo man aussteigt und Zeit hat, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Vor uns in der Schlange stand ein Wagen mit großem "sat 1"-Logo. Ihm entstieg eine Truppe junger, lustiger Leute, die an Autos mit Berliner Nummern Einladungen verteilten: zur "Ultimativen Ostshow" am nächsten Wochenende. Ich nutzte die Gelegenheit mit den Redakteuren ins Gespräch zu kommen, die, wie sich zeigte, alle Hamburger waren. Meine Frage, ob sie denn auch einige Ostdeutsche in der Redaktion hätten, überraschte sie zunächst, schließlich glaubten sie zu wissen, daß wohl einige zur Beratung hinzugezogen worden seien. Also keine Sorge - selbst die Ostalgie ist fest in WesthandÂ…
Das wichtigste Freiheitsrecht ist in der Marktwirtschaft das Eigentum. Ludwig Erhard kannte die Spielregel seines Systems: "Nur Eigentum gewährleistet persönliche Sicherheit und geistige Unabhängigkeit." Wenn die Formel von Ludwig Erhard stimmt, so haben die Ostdeutschen, da sie im Pro-Kopf-Vergleich zu den Westdeutschen nur noch über ein Viertel des Eigentums verfügen, auch nur ein Viertel an persönlicher Sicherheit und geistiger Unabhängigkeit. Und wo kein Haben ist, da ist nach hiesigen Spielregeln auch kein Sagen. Man kann die Ostdeutschen nicht in Demokratie und soziale Marktwirtschaft einbeziehen wollen, indem man sie zugleich von deren Voraussetzungen, nämlich Arbeit und Eigentum, weitgehend ausschließt.
Das allerdings trifft auf Westdeutsche, so sie dieselbe Erfahrung machen, ganz genauso zu. Dem letzten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist folgende Kluft zu entnehmen: Auf die vermögendsten zehn Prozent der Haushalte "entfallen" 42 Prozent des gesamten Privatvermögens. Während sich die untere Hälfte aller Haushalte 4,5 Prozent der Bestände teilen muß. Wie lange will sich diese untere Hälfte das eigentlich noch gefallen lassen?
Die Rechnung für die denkbar teuerste Art der Vereinigung wird den Menschen auf beiden Seiten untergejubelt. Dabei wird der Reichtum immer unverschämter, die Armut immer verschämter. Werden wir angesichts eines vor der Tür stehenden Winters mit vielleicht fünf Millionen Arbeitslosen fragen müssen, ob wir demnächst im Abschwung vereint seien? Dagegen anzugehen liegt längst im gemeinsamen Interesse der Betroffenen in Ost und West.
Mögen wir uns dem gütigen Geschick, das uns vor 13 Jahren beschert wurde, gewachsen erweisen.

Daniela Dahn hielt am 3.Oktober in Ingolstadt eine "Rede zur deutschen Einheit", deren voller Wortlaut über www.sopos.org/ossietzky erhältlich ist.