Worüber streitet die IG Metall?

Personelle Machtansprüche oder gewerkschaftliche Strategie

Die IG Metall ist damit gescheitert, die in den alten Bundesländern tariflich durchgesetzte 35-Stunden-Woche auf die Tarifgebiete Ostdeutschlands auszuweiten. ...

... Vier Wochen wurde in den ostdeutschen Bundesländern für eine entsprechende Tarifvereinbarung gestreikt. Das Scheitern der Flächenstreiks führt uns mit aller Härte die Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse infolge der Wirkung der neoliberalen Offensive vor Augen. Die IG Metall konnte sich das Kampfterrain sowenig aussuchen wie die konkreten Forderungen.
Die ökonomisch gescheiterte "feindliche Übernahme" des bankrotten Staatssozialismus auf deutschem Terrain wird auch nach 13 Jahren immer noch als Experimentierfeld zur Aushebelung von Tarifvereinbarungen über Arbeitszeit und Einkommensbedingungen eingesetzt. Es ging also darum, die Angleichung der Arbeits- und Lebensverhältnisse voranzubringen. Im letzten Jahr war von die Tarifvertragsparteien vereinbart worden, in dieser Tarifrunde Verhandlungen über die schrittweise Angleichung der Wochenarbeitszeit aufzunehmen. Bis zum Schluss haben sich die Arbeitgeber der Metall- und Elektroindustrie einem Flächentarif mit einem Stufenplan bis 2009 verweigert.

Allerdings sollte bei der Auswertung dieser Niederlage nicht übersehen werden: Ergebnis der Streiks ist ein Abschluss bei Stahl mit der Einführung der 35-Stunden-Woche bis 2009. Positiv ist weiter, dass mit neun Unternehmen des Metall- und Elektrobereichs Haustarifverträge zur Angleichung der Arbeitszeit abgeschlossen wurden. Gleichwohl: Die Niederlage ist bitter, die ostdeutschen Bundesländer sind weiterhin das Terrain, tarifliche Regelungen im Westen zu unterlaufen. Die an diese Auseinandersetzung sich anschließende Personaldebatte in der IG Metall ist gleichfalls einzigartig und verweist darauf, dass der Konflikt eine grundsätzlichere Dimension hat.

Einig sind sich die verschiedenen Strömungen wie die Kontrahenten in der IG Metall - aber auch in den anderen Gewerkschaftsorganisationen - in der zentralen Herausforderung: Auch die bundesdeutsche Gewerkschaftsbewegung steckt in einer der schwierigsten Situationen nach 1945. Der scheidende IG Metall-Chef Zwickel wertet die mäßige Unterstützung des Protests gegen die Agenda 2010 als Zustimmung des Großteils der Mitglieder zur Neujustierung des Sozialstaates. Die IG Metall müsse deshalb den Weg zurück in die Mitte der Gesellschaft finden. Für eine solche Strategieoption hatte der Leiter des IG Metall-Bezirks Baden-Württemberg Huber seit längerem geworben. Seine Forderung: "Es braucht ein einheitliches, aber dialogbereites Auftreten und die Vorlage überzeugender Gestaltungskonzepte, damit die Gewerkschaften aus dem Stimmungstief herauskommen." (Huber 2003, 7)

Die Gegenposition ist in Jürgen Peters personifiziert. Sein Vorschlag, wie die Gewerkschaften aus der Defensivkonstellation herausfinden können: "Um vor den eigenen Mitgliedern bestehen und darüber hinaus im 'politischen Wettbewerb' mithalten zu können, müssen die Gewerkschaften ihren Einfluss auf die Verteilung zurückgewinnen. Konzeptionell müssen sie ihre verteilungspolitischen Instrumente überdenken und weiterentwickeln. Gleichzeitig sind sie gefordert, politische Mehrheiten für eine andere, gerechtere Verteilung zu gewinnen und für notwendige Reformen zu mobilisieren." (Peters 2001)

Der Widerstreit um die strategischen Konzeptionen ist mit den geläufigen Etiketten "Modernisierer" und "Traditionalist" sicher nicht eingefangen. Veränderungen stehen in beiden Konzeptionen weit oben in der Handlungsumsetzung; übereinstimmend wird betont, dass die Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten mit beschäftigungs- und sozialpolitischen Zielsetzungen überfordert wurden. Es geht vor allem darum, wie die Rückbesinnung auf die klassischen Aufgaben der Tarifpolitik - Arbeitsbedingungen, Arbeitszeit, angemessene Beteiligung am Unternehmensergebnis und faire Entgeltstrukturen - umgesetzt wird. Und in welchem Verhältnis Gestaltungskonzepte zur internen und gesellschaftlichen Mobilisierung stehen.

Arbeitszeitregulierung

Arbeitszeit und qualitative Tarifpolitik waren im Rheinischen Kapitalismus immer ein schwieriges Terrain. 1978 begann in der Stahlindustrie der langwierige Prozess, die 35-Stunden-Woche in der Bundesrepublik durchzusetzen. Es dauerte sechs Jahre mit intensiven Debatten über die Schwerpunkte der Arbeitszeitpolitik - nicht nur kontrovers geführt zwischen IG Metall/IG Druck auf der einen und IG Chemie auf der anderen Seite, sondern auch innerhalb der IGM, selbst innerhalb der Tarifabteilung -, bis 1984 der Durchbruch für die 35-Stunden-Woche erzielt werden konnte.

Das Bestreben einer weiteren Reduktion der wöchentlichen Arbeitszeit ist seit einiger Zeit ins Stocken geraten. Mehr noch: "Seitdem die tarifvertraglichen Arbeitszeitverkürzungen zum Stillstand gekommen sind, stagnieren die tatsächlichen Arbeitszeiten, und es zeichnet sich ein gewisser Gegentrend zur Verlängerung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von Vollzeitarbeitskräften ab. Der Wendepunkt war Mitte der 90er Jahre."(Lehndorff 2003, 276)

Wie geht dieser Widerspruch zusammen - einerseits Tarifverträge mit Arbeitszeitverkürzung, andererseits eine Tendenz zur Verlängerung der Arbeitszeit entgegen den tariflichen Vereinbarungen? Arbeitszeitverlängerungen - so die empirischen Untersuchungsergebnisse - sind vor allem bei höher qualifizierten Beschäftigten zu beobachten. Der Anteil dieser Beschäftigen an allen Lohnabhängigen nimmt zu. Darüber hinaus besteht in der Metallindustrie tariflich eine Differenzierungsmöglichkeit für Arbeitszeiten, die von den Unternehmen weitgehend ausgeschöpft wird. Diese Tendenz von höheren Arbeitszeiten im Bereich der qualifizierten Angestellten wird durch ungelöste Probleme bei der betrieblichen Regulierung flexibler Arbeitszeiten verstärkt. Die Flexibilisierung der Arbeitsorganisation vollzieht sich innerhalb des Normalarbeitsverhältnisses, d.h. des tariflich und gesetzlich geschützten und regulierten Beschäftigungsverhältnisses. Durch den umfassenden Einsatz der Marktsteuerung auch innerhalb der Betriebe und der Stärkung der subjektiven Potentiale der Beschäftigten werden die Bedingungen der Leistungsabforderung, Leistungskontrolle und der Bezahlung radikal verändert. "Die Brisanz der neuen Formen der Arbeitsorganisation für die bisherige Arbeitszeitregulierung liegt deshalb darin, dass sie nicht allein den Unternehmen bessere Möglichkeiten bieten, bei Bedarf die Institutionen der Regulierung machtpolitisch zu untergraben, sondern dass sie zugleich den Beschäftigten nahe legen, diese Institutionen in eigener Initiative zu unterlaufen. Dies wird nicht immer und sofort zu Arbeitszeitverlängerungen führen, doch die Türen zur selbstorganisierten Arbeitszeitverlängerung werden geöffnet."(Lehndorff 2003, 282)

Die Organisationsformen und -inhalte haben sich für die tarifvertraglich regulierte Erwerbsarbeit in den letzten Jahrzehnten radikal geändert. Parallel hat die Arbeitslosigkeit enorm zugenommen und die ungeschützten oder prekären Beschäftigungsverhältnisse haben ein beträchtliches Gewicht an der gesamtgesellschaftlichen Erwerbsarbeit. Grosse Bevölkerungsschichten werden aus dem Prozess der marktvermittelten Kapitalverwertung und aus der Produktion ausgegrenzt oder z.T. in Erwerbsverhältnisse gezwungen, die objektiv die Funktion des Sozialdumpings gegenüber den "Normalarbeitsverhältnissen" erfüllen. Schon der Marktdruck wirkt auf die Beschäftigten in Richtung der Unterminierung von Tarifregelungen - eine Tendenz, die durch die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Kräfteverhältnisse verstärkt wird. Vor allem mit Blick auf die Arbeitszeitverkürzung lässt sich festhalten, dass sich das politisch-kulturelle Legitimationsumfeld seit Beginn des Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche massiv verengt hat.

Auch für die Arbeitsbedingungen gilt: Wir haben es offenkundig mit einem arbeitspolitischen Rollback zu tun. Die unübersehbare Verschlechterung der Arbeitsbedingungen hat dieselben Ursachen: wachsender Wettbewerbsdruck, massive Verunsicherung über die hohe Arbeitslosigkeit und Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse.

Selbst für die Einkommensverteilung - das wichtigste Politikfeld der Gewerkschaften - trifft die Beschreibung der Defensive zu. "Nicht in allen Jahren gelang es, den gesamtwirtschaftlichen Spielraum auszuschöpfen. Im Gegenteil: Verteilungspolitisch positiven Abschlüssen folgten Abschlüsse, die eine deutliche Umverteilung zu Lasten der Beschäftigten bedeuteten. Folglich entwickelte sich auch die gesamtwirtschaftliche Verteilungsbilanz insgesamt negativ." (Huber/Hofmann 2003, 25) Diese Argumentation kann präzisiert werden. Mit dem Arbeitseinkommen liegt der Großteil der Beschäftigten zwar oft weit oberhalb der Armutsschwelle und darüber kann ein ansehnliches Versorgungsniveau gehalten werden. Gleichwohl gilt: "Bei der funktionalen Verteilung des Volkseinkommens auf die Einkünfte aus Erwerbsarbeit einerseits und aus Unternehmertätigkeit und Vermögen andererseits haben sich die Verhältnisse deutlich zu Lasten der Arbeitnehmer verschoben. So blieb die Entwicklung sowohl der Tarif- wie auch der Reallöhne in den vergangenen Jahren zumeist hinter der Produktivitätsentwicklung zurück" (Peters 2001) Der grundlegende Zusammenhang in der kapitalistischen Gesellschaftsformation zwischen Rationalisierung (Technologie wie Arbeitsorganisation), Produktivitätsentwicklung und gewerkschaftlicher Gegenmacht hat sich gelockert. Tarifpolitik soll - neben der Regelung von Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen - die Beteiligung der Lohnabhängigen an der Produktivitätsentwicklung sichern. Diese kollektiven Verträge zielen nicht nur auf die personelle Verteilung, sondern beeinflussen die gesamtgesellschaftlichen Verteilungsverhältnisse (Primärverteilung zwischen Arbeitseinkommen und Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen). Da aber die Systeme sozialer Sicherung (Arbeitslosen-, Kranken-, Alters- und Pflegeversicherung) auf die Arbeitseinkommen bezogen sind, muss eine Veränderung der funktionellen und personellen Verteilung zulasten der Arbeitseinkommen auf diese Säulen des Sozialstaates durchschlagen.

Hinzu kommt, dass bei diesen sekundären Verteilungsprozessen auch die Unternehmens- und Vermögenseinkommen tendenziell weniger herangezogen wurden oder sich durch Steuerflucht der Beteiligung and der Finanzierung der allgemeinen gesellschaftlichen Angelegenheiten entziehen können. "Trotz ihrer Anstrengungen konnten es die Gewerkschaften in den vergangenen beiden Jahrzehnten nicht verhindern, dass die Verteilung in die soziale Schieflage gerutscht ist... Arbeitnehmer wurden bei der Verteilung zunehmend benachteiligt - u.a. durch Verschiebungen bei der funktionalen Einkommensverteilung, aber auch durch die Entwicklung zum 'Lohnsteuerstaat' sowie durch die nachlassende Ausgleichswirkung des Sozialstaates... Die Gewerkschaften sind verteilungspolitisch geschwächt in das neue Jahrhundert gegangen. Mit dieser Schwächung werden sie sich allerdings nicht abfinden." (Peters 2001)

Gewerkschaftspolitik im 21. Jahrhundert

Hinter der weithin geteilten Bewertung, dass die Lohnabhängigen in Deutschland und Europa sich in einer schwierigen Defensivkonstellation befinden, werden durchaus unterschiedliche Akzente in der Gesellschaftsdiagnose sichtbar, die sich in unterschiedliche Vorschläge für eine veränderte Handlungskonzeption der Gewerkschaften umsetzen. Zugespitzt geht jene Strömung, für die der baden-württembergische Bezirksleiter Huber steht, davon aus: "In unserem Kerngeschäft, der Tarifpolitik, sind wir auf der Höhe der Zeit. Unsere offene Flanke ist die Diskussion um die Reformen des Sozialstaates... Die Verhandlungen über gemeinsame Entgelttarifverträge zeigen, dass sich die Gewerkschaften dem Strukturwandel in den Betrieben stellen und die kontrovers geführten Diskussionen über zweistufige Tarifverträge sind Beleg für die Innovationsfähigkeit der Gewerkschaften." (Huber 2003) Der scheidende Vorsitzende Zwickel verweist zudem darauf, dass die Verbetrieblichung der Tarifpolitik ein länger anhaltender Prozess ist. Die Verstetigung dieser Entwicklungsrichtung sei nicht nur von den komplexen Veränderungsprozessen in den Unternehmen vorgegeben, sondern könne auch zur Stärkung der Gewerkschaftsarbeit genutzt werden. Ein zweistufiges Modell der Tarifverhandlung - eine einheitliche Forderung im Flächentarifvertrag und geregelte Öffnung für eine ergänzende, betrieblich zu verhandelnde Komponente (Einmalzahlungen) - würde "zu einer nachhaltigen Stärkung einer solidarischen Lohnpolitik" führen, weil die Belegschaften der kampfstarken Großbetriebe stärker in die Auseinandersetzung mit dem Kapital eingebunden würden.

Dass man so der Politik des Sozialstaatsabbaus ausweichen könne, wird von den Vertretern einer anderen strategischen Konzeption bestritten. Solange die Primärverteilung eine Tendenz der Schwächung des Arbeitseinkommens zeige, werden die finanziellen Grundlagen der sozialen Sicherungssysteme beschädigt. Die eigenen Mitglieder werden auf mittlere Sicht bei den Versuchen, Teile der sozialen Sicherung über die Einkommen der privaten Haushalte finanzieren zu lassen (Riester-Rente, Krankengeld, etc.), eine nachhaltige Verminderung des Lebensstandards erfahren. Die sozialdemokratische Konzeption der Kompensation einer unzureichenden Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum durch staatliche Vermögensförderung könne nicht aufgehen. Die Gewerkschaften müssten sich aus dieser Einbindung in eine Politik der Neujustierung des Sozialstaates befreien und als autonome Kraft sowohl ihren Einfluss auf die Primärverteilung zurückgewinnen, als auch im politischen Raum für eigene sozialpolitische Vorstellung kämpfen. "Gleichzeitig sind sie gefordert, politische Mehrheiten für eine andere, gerechtere Verteilung zu gewinnen und für notwendige Reformen zu mobilisieren." (Peters 2001) Die Konzeption einer solidarischen Lohnpolitik, wie sie Huber und Zwickel ins Auge fassen, wird auch deshalb für nicht tragfähig gehalten, weil das Argument nicht überzeugt, man könne unter den gegenwärtigen Bedingungen mit zweistufigen Tarifverträgen - vor allem in den produktivitätsstarken Unternehmen in den Exportsektoren - Pilotabschlüsse realisieren, um damit die weniger stark organisierten oder auch einfach nur kleineren Belegschaften an der Einkommensentwicklung mit zu beteiligen.

Welche Gewerkschaft?

Die Entgegensetzung von Modernisierern und Traditionalisten in der sehr heftigen, kontroversen Auseinandersetzung greift zu kurz. Richtiger wäre vielmehr eine Charakterisierung entlang der Achse: Welche Modernisierung und wie gewinnen die Gewerkschaften Gestaltungsmacht zurück?

Begrüßt und fördert man die Tendenz zur fortschreitenden Verbetrieblichung, dann stellt man letztlich die Weichen für eine Gewerkschaftsorganisation als Beratungsorganisation von Betriebsräten. Die Gewerkschaften werden dabei durch zweistufige Tarifverträge und eine Machtverschiebung zu den Betriebsräten der Großunternehmen nicht bedeutungslos. "Gerade Betriebsräte mit einem großen Handlungsspielraum können es manchmal zweckmäßig finden, wenn sie sich bei Verweigerung bestimmter Konzessionen auf einen geltenden Flächentarifvertrag oder auf die ablehnende Haltung der Gewerkschaften berufen können. Darüber hinaus können Gewerkschaften, die ihre Operationsweise an die neuen betrieblichen Bedingungen anzupassen vermögen, zu unentbehrlichen Beratern von Betriebsräten werden... Gewerkschaften, die sich in effektive Beratungsorganisationen für Betriebsräte verwandeln, könnten vielleicht sogar damit rechnen, einen Teil des Einflusses über das betriebliche Verhandlungsgeschehen zurückzugewinnen, den sie im Zuge der Verbetrieblichung der Arbeitsbeziehungen zunächst verloren haben."(Streeck / Rehder 2003, 17)

Einer solchen Zielvorstellung von einer Gewerkschaft als effektiver Beratungsorganisation steht die Konzeption von Gewerkschaft als Gegenmacht gegenüber, die ihre Gestaltungsmacht ebenfalls in den Betrieben ausübt, aber zugleich ein politisches Mandat als autonome gesellschaftliche Kraft beansprucht, um Sozialpolitik und Verteilungsverhältnis auch gesellschaftlich mitzugestalten. Denn der z.T. auch den Gewerkschaften in die Schuhe geschobene "Reformstau" soll eine Politik legitimieren, die eine politisch gewollte Verschärfung der Umverteilung zulasten der Arbeits- und Sozialeinkommen als Befreiung von Wachstumsbremsen verkündet. Dagegen steht: Die Wachstumsbremse lässt sich nur durch einen Richtungswechsel in der Tendenz der Verteilungspolitik lösen. "Eine gerechte, weil ausgleichende Verteilungspolitik ist zwar kein Allheilmittel. Jedoch kann die gegenwärtige Strukturkrise der bundesdeutschen Volkswirtschaft nicht gelöst und die sich möglicherweise ankündigende Rezession nicht vermieden werden, wenn nicht die ungerechte Verteilung überwunden wird und vergleichbare Lebenslagen für alle gesichert werden." (Peters 2001)

Es ist bedauerlich, dass diese kontroverse Debatte über die Gründe der Defensivkonstellation, die Überwindung der Schwäche der Gewerkschaften, die gesellschaftspolitischen Konzeptionen und die Zielvorstellung von einer Gewerkschaftsorganisation mit solcher Härte ausgetragen wird. Freilich sollte niemand sich der Illusion hingeben, es handele sich hierbei um persönliche Rivalitäten und nicht um grundlegende Differenzen. Im Resultat des Streits und der offenkundigen Schwierigkeit, die Strömungen in einer tragfähigen personalpolitischen Konzeption zusammenzuführen, ist sicherlich die Handlungsfähigkeit der IG Metall beschädigt worden.

Die politische Heuchelei erreicht freilich dieser Tage Spitzenwerte. Schon im April 2003 meldete das Institut für Demoskopie in Allensbach, dass die Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung in den Gewerkschaften die gewichtigen Blockierer des unaufschiebbaren Modernisierungsprozesses sehe. "Angesichts vieler Ängste, die sich in der Bevölkerung mit Reformen des Sozialstaates verbinden, liegt die Vermutung nahe, dass der gewerkschaftliche Widerstand gegen die Reformpläne der Regierung von weiten Teilen der Bevölkerung durchaus auch mit Sympathien und Hoffnung verfolgt wird. Dies ist jedoch nicht der Fall."(Köcher 2003,5) Die Mehrheit der Gewerkschaftsbewegung hat sich mit dem Widerstand gegen die neue Runde des Sozialabbaus (Agenda 2010) keine Zustimmung erworben. Fakt ist, dass die Kritik an der wirtschafts- und sozialpolitischen Rosskur nicht vermittelt werden konnte. Ein Großteil jener Trauernden über den Selbstzerfleischungsprozess der IG Metall tritt gleichzeitig für eine Neujustierung des Sozialstaates, geringere Arbeitseinkommen und letztlich einen gewerkschaftsfreien Kapitalismus ein. "In Deutschland gehört es heute zum guten Ton, die Gewerkschaften zu beschimpfen", stellt Birgit Mahnkopf (2003, 303) zu Recht fest. Der Hintergrund dieser umfassenden Kampagne: Der Großteil der politischen Klasse und der Medienmacher ist der Meinung, höheres Arbeitseinkommen und kürzere Arbeitzeiten seien in einer chronischen Akkumulations- und Beschäftigungskrise nicht tolerierbar.

Die Defensive der Gewerkschaftsbewegung - verstärkt durch den nachhaltigen Vertrauensverlust infolge der Streikniederlage und des innergewerkschaftlichen Streites - ist zugleich auch das Problem aller globalisierungs- und kapitalismuskritischen Bewegungen und Positionen. In der politischen Umsetzung der Utopie des Neoliberalismus ist wiederum eine Widerstandslinie überlaufen worden. Es wäre allerdings kopflos von einer historischen oder gar endgültigen Niederlage zu reden. Selbst Teile des Unternehmerlagers verteidigen nach dem Streikdesaster den Flächenvertrag und die tariflichen Regelungen von Einkommen, Zeit und Arbeitsbedingungen. Es gilt die Niederlage selbstkritisch aufzuarbeiten und die Konzeption einer gesellschaftspolitischen Alternative zur negativen Utopie des Neoliberalismus offensiver in die Auseinandersetzungen einzubringen.

Literatur:
Huber, B. (2003), Wir müssen dialogfähig werden, in: Einblick 12
Huber, B. / Hofmann, J. (2003), Anteil haben am Gewinn, Mitbestimmung 6
Köcher, R. (2003), Machtprobe, in: FAZ vom 16.4.
Lehndorff, S. (2003), The log Good-Bye?, Tarifliche Arbeitszeitregulierung und gesellschaftlicher Arbeitszeitstandard, Industrielle Beziehungen, Heft 2
Mahnkopf, B. (2003), Vom Sozialpartner zur Nicht-Regierungsorganisation?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 5
Peters, J. (2001), Verteilungspolitik in der Zukunftsdebatte der IG Metall, Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 6
Streeck, W. / Rehder, B. (2003), Der Flächentarifvertrag: Krise, Stabilität und Wandel , MPIfG working paper 3 / 6