Auf dem Sprung nach Europa

Unter internationalem Druck verschärft die Türkei ihre Migrationspolitik

Als "Tor zur arabischen Welt" und als Grenzregion zu Afrika und Asien hat die Türkei nicht nur militärstrategisch eine große Bedeutung. Sie ist auch Transitland für MigrantInnen und Flüchtlinge.

... Daher drängt die Europäische Union das Land am Bosporus zu stärkeren Grenzkontrollen und neuen Gesetzen. Als in der ersten Woche des Irakkrieges das Gerücht auftauchte, die Türkei habe mehrere tausend Soldaten in den Nordirak entsandt, glaubte man der türkischen Regierung beim politischen Selbstmord zuzusehen: erst ruinierte sie mit der Ablehnung einer Kriegsbeteiligung das traditionell gute Verhältnis zu den USA und schlug damit auch noch mehrere Millionen US-Dollar Wirtschaftshilfe in den Wind. Dann schien sie mit einem militärischen Alleingang die Gunst der EU zu verspielen, aus Angst, im allgemeinen Kriegsgetümmel könnten sich irakische und türkische KurdInnen verbünden und einen unabhängigen Staat fordern. In Deutschland dachte man laut über einen Abzug der Awacs-Flugzeuge nach, aus ganz Europa kamen scharfe Warnungen vor einer Remilitarisierung des Konflikts zwischen türkischer Regierung und Kurden. In der öffentlichen Debatte der Türkei sah man wieder einmal die Verschwörungstheorien bestätigt, nach denen die Türkei nur der Spielball imperialer Strategien der USA oder der Europäischen Union ist. Nach einigen Tagen der Spannung präsentierte sich der türkische Außenminister Abdullah Gül dann mit einem versöhnlichen Lächeln der internationalen Presse: türkische Soldaten seien auch unabhängig vom Kriegsgeschehen dauerhaft im Nordirak stationiert. Man habe die Truppenpräsenz nur verstärkt, um zu verhindern, dass hunderttausende irakischer Flüchtlinge unkontrolliert in die Türkei einreisten. Das müsse akzeptiert werden, schließlich bemühten sich doch alle europäischen Staaten, das "Flüchtlingsproblem" vor Ort zu lösen. Ein geschickter Schachzug, der die europäischen Staaten zum Schweigen bringen musste. Denn die Europäer lehnen zwar nachdrücklich den Einmarsch türkischer Soldaten in den Nordirak ab, haben aber auch größtes Interesse daran, dass die Türkei den Flüchtlingen die Einreise verwehrt. Schon seit Mitte der 90er Jahre verfolgt die EU das Ziel, Flüchtlingsbewegungen abzuwehren, bevor sie die Außengrenzen der Union erreichen. In diesem Zusammenhang werden die Beitrittskandidaten unter Druck gesetzt, z.B. ihre Visabestimmungen zu verschärfen. Im Rahmen des so genannten Budapester Prozesses sollen sich darüber hinaus alle Balkanländer an Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr beteiligen. Die türkische Regierung hat diesmal also ausnahmsweise den richtigen Ton getroffen, zumal die Türkei zu jenen Ländern gehört, die ihre Flüchtlingsabwehr im Namen Westeuropas sträflich vernachlässigen und dafür immer wieder von der EU gerügt werden.

Hafen und Brücke

Als politisches und geographisches Bindeglied zwischen Europa und Asien kommt der Türkei eine strategisch wichtige Position im Migrationsregime Europas zu. Durch politische und wirtschaftliche Instabilität in beinahe allen angrenzenden Ländern sowie ihre Brückenposition zwischen Westeuropa, Arabien, Asien und Afrika ist die Türkei für MigrantInnen aus unterschiedlichsten Herkunftsstaaten und mit verschiedenen Migrationsstrategien attraktiv geworden. Viele MigrantInnen kommen aus Osteuropa, z.B. aus Bulgarien, Moldawien, Russland, Rumänien und Armenien. Die meisten von ihnen pendeln mit drei Monate gültigen Touristenvisa als temporäre ArbeitsmigrantInnen in die Türkei und überziehen dann entweder ihren Aufenthalt oder organisieren ihre regelmäßige Rückkehr. Innerhalb zirkulärer Arbeitsmigrationen teilen sich Familienmitglieder im Rhythmus der Visumsfristen inklusive der tolerierten Überschreitung einen Job, damit kein Familienmitglied sein Aufenthaltsrecht derart überzieht, dass eine Wiedereinreise unmöglich wird. Für sie ist die Türkei attraktiv, weil die Einreise legal und darum bei weitem nicht so gefährlich ist wie in einen EU-Staat. Die niedrigen Löhne liegen oft immer noch weit über denen der Herkunftsländer. Auch KurdInnen, die aus der Südosttürkei vertrieben wurden oder aufgrund der schlechten ökonomischen Bedingungen in die Großstädte migrieren, arbeiten auf diesem zweiten Arbeitsmarkt. Da etwa die Hälfte der gesamten Wirtschaftsleistung der Türkei durch informelle Arbeit erbracht wird, ist es relativ leicht für illegalisierte MigrantInnen, Arbeit zu finden. Dabei hat sich ein stark ethnisierter und vergeschlechtlichter Arbeitsmarkt herausgebildet: Moldawierinnen arbeiten im "Caring Business", betreuen Kinder und ältere Menschen in privaten Haushalten, während Russinnen vor allem als Händlerinnen in der Textilbranche arbeiten oder als Prostituierte. Bulgaren und Rumänen sind vor allem im Baugewerbe tätig und dort sehr beliebt, da sie zumeist besser ausgebildet sind als türkische Handwerker. KurdInnen arbeiten in kleinen Manufakturen als Straßenhändler oder in der Landwirtschaft. In der Global City Istanbul sind die informellen migrantischen Ökonomien nicht zu übersehen. Nur eine Unterführung trennt das Vergnügungs- und Shoppingviertel Beyoglu mit seinen Markenboutiquen vom MigrantInnenviertel Tarlabasi. Hier, jenseits der Unterführung, findet man sich in einer gänzlich anderen Umgebung: zwischen abbruchreifen Häusern hängen Wäscheleinen, Hühner laufen über die Straßen und an der Ecke verkauft ein Mann auf einem selbstgebastelten Grill zubereitete Fleischstücke. Hier befinden sich "sweatshops" für Textilproduktion in Kellerräumen, Höfe, auf denen Müll verwertet wird, und Hinterzimmer, in denen Radios montiert werden. Um die Bedürfnisse der ArbeitsmigrantInnen herum hat sich eine Infrastruktur gebildet: Waschsalons für die PendlerInnen haben sich etabliert. Wohnungsbesitzer vermieten an die temporären MigrantInnen Wohnungen in halb verfallenen Häusern, in denen sich bis zu zehn Personen ein Zimmer teilen, um die Kosten angesichts der horrenden Mieten niedrig zu halten. Aber auch außerhalb von Vierteln wie Tarlabasi ist die Arbeitsmigration sichtbar, beispielsweise in Form des so genannten "Arbeiterstrichs" an diversen Straßenecken, wo MigrantInnen darauf warten, von Auftraggebern aufgelesen und kurzfristig beschäftigt zu werden. Viele der TürkInnen arbeiten genauso informell wie die MigrantInnen. Mit dem Unterschied, dass die migrantische Arbeitskraft wesentlich billiger ist und damit das allgemeine Lohnniveau abzusinken droht. "Ein türkischer Bauarbeiter kann etwa 25 Millionen Türkische Lira (etwa 14 Euro) pro Tag verlangen", erzählt Hüseyin, der vor zwei Monaten mit seiner Familie aus Diyarbakir nach Istanbul gezogen ist. "Ein Rumäne ist bereit, auch schon für 15 Millionen zu arbeiten." Erstaunlicherweise ist dieses Thema kaum rassistisch und ideologisch aufgeladen. "Der Staat muss das Problem lösen, nicht wir", so Hüseyin, "wie schlecht muss es den Menschen in Rumänien gehen, dass sie diese niedrigen Löhne als Verbesserung ihrer Situation empfinden? Ich kann gut verstehen, dass sie hierher kommen."

Hilfe bei der Abschottung

Neben dieser Form der halblegalen Arbeitsmigration kommen je nach politischer und wirtschaftlicher Konjunktur Flüchtlinge aus asiatischen Ländern wie Afghanistan und Pakistan, aus dem arabischen Raum wie Iran oder Irak und aus Afrika, besonders aus Kenia und Nigeria. Der Unterschied zwischen "MigrantInnen" und "Flüchtlingen" ist fließend und besteht zumeist nur darin, dass sich erstere legal und letztere zumeist ohne Erlaubnis in der Türkei aufhalten. Die Türkei ist für sie oft nur ein Transitland auf dem Weg nach Europa. Daher halten sie sich nur kurz dort auf; unter Umständen arbeiten sie, um die Weiterreise zu finanzieren. Diese Transitmigration wird häufig von Fluchthelfern organisiert, die eine Reise aus dem Herkunftsland durch die Türkei bis in einen EU-Staat "anbieten". Einige dieser Menschen reisen undokumentiert in die Türkei ein, obgleich sie die Möglichkeit hätten, ein Visum zu bekommen. Aber eine legale Einreise würde ihre Chancen auf Asyl in einem europäischen Land stark einschränken: Flüchtlinge, die über "Drittstaaten" einreisen, gelten nicht mehr als verfolgt. Die Schlepper machen mit ihrer Arbeit ein gutes Geschäft. Wie gefährlich der Versuch einer illegalen Einreise in ein EU-Land ist, ist auch Hüseyin bewusst: "Illegal in ein EU-Land einreisen - das ist Selbstmord". Trotz der Gefahr, der sie sich damit aussetzen, versuchen immer wieder MigrantInnen von der Türkei aus ohne Papiere in die EU einzureisen. Die Hauptrouten führen entweder direkt nach Griechenland oder mit dem Schiff an die italienische Küste. Nach Beschwerden der italienischen, britischen und griechischen Regierung über Schiffe mit MigrantInnen, die von der Türkei kommend an ihren Küsten strandeten, hat der Europäische Rat auf seinem Gipfeltreffen in Sevilla 2002 die Türkei verwarnt und aufgefordert, illegale Migration in die EU zu unterbinden. Weitere Warnungen kamen von anderer Seite: Die Welthandelsorganisation WTO warf der Türkei vor, sich aufgrund der verbreiteten illegalen und damit billigen Arbeitskraft einen unfairen Wettbewerbsvorteil auf dem Weltmarkt zu verschaffen. Die International Labor Organization (ILO) prangerte die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen der illegalen ArbeitnehmerInnen an. Die mangelnde türkische Migrationskontrolle hat auch die International Organization of Migration (IOM) auf den Plan gerufen. Die IOM ist ein Instrument zwischenstaatlicher Migrationspolitik. Sie hat den Auftrag, für ihre 91 Mitgliedsstaaten, die auch ihre Geldgeber sind, Migrationsbewegungen vorauszusehen, zu begrenzen und zu steuern. Dazu gehört auch die Förderung der Rückkehr von Flüchtlingen, die nicht abgeschoben werden können, die Ausbildung von Grenztruppen zur Bekämpfung illegaler Einwanderung sowie die Koordination des Baus von Grenzanlagen, Flüchtlingslagern und Ausreisezentren. Die IOM ist auch im türkischen Wissenschaftsbetrieb eine wichtige Auftraggeberin. Sie finanziert Studien über die verschiedenen Phänomene irregulärer Migration: Prostitution und irreguläre Arbeit von MigrantInnen, Schlepperrouten nach Europa, informelle MigrantInnennetzwerke etc. Einige der WissenschaftlerInnen fühlen sich bereits von der IOM hintergangen. "Unter der Vorspiegelung, eine Hilfsorganisation für Flüchtlinge zu sein, ködern sie die Forscher", so eine Migrationsforscherin von der Marmara Universität Istanbul. Sie hat schlechte Erfahrungen mit der IOM gemacht: ihre Studie zu osteuropäischen Prostituierten verkürzte die IOM zu einem Bericht über Frauenhandel. "Die IOM ist unwissenschaftlich und eurozentristisch und ausschließlich an Daten interessiert, die ihre Art der Migrationspolitik stützen."

Migrationspolitische Unentschlossenheit

Die türkische Regierung hat erst jüngst ihr Interesse an diesem Politikfeld (wieder)entdeckt. Zwar wurde die illegale Migration bereits mit der Öffnung der Grenzen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90er Jahre in der Türkei thematisiert. Vor allem der "Arbeiterstrich" der Tagelöhner wurde damals in der Presse skandalisiert. Es gab einige Razzien und eine Geldstrafe von sechs Milliarden Lira für illegale Beschäftigung wurde eingeführt. Doch diese Strafe musste bisher noch nie bezahlt werden, die beschuldigten Arbeitgeber konnten sich stets herausreden. Es blieb unklar, wie strikt die Beschäftigung illegalisierter MigrantInnen tatsächlich verfolgt wurde: schließlich waren die russischen Händlerinnen und rumänischen Bauarbeiter zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden. 1998 wurde das Thema von der Wirtschaftskrise verdrängt. Erst im Jahr 2000 wurde die "illegale Migration" nach den Warnungen der EU wieder thematisiert. Die türkische Regierung definierte erstmals Migration als Problem der eigenen Politik: "Ivan nimmt Mehmet das Brot weg", so der damalige türkische Arbeitsminister. Die ökonomische Krise hatte zur Verdoppelung der ohnehin schon hohen Arbeitslosigkeit geführt. Im August 2002 - also noch unter der Regierungskoalition aus Nationalliberalen (ANAP), Linksnationalen (ESP) und Faschisten (MHP) - trat ein neues Gesetz in Kraft, das eine härtere Bestrafung von Schleppern vorsieht. Bisher hatte es keinen Straftatbestand des Menschenschmuggels gegeben. "Trafficking", wie es im Jargon der Migrationspolitiker heißt, wurde einfach als Teil der organisierten Kriminalität eingeordnet und bekämpft. Das bedeutete auch, dass die Opfer dieses Verbrechens bzw. die Kunden dieser Dienstleistung nur wenig berücksichtigt wurden. Mit dem neuen Gesetz hat sich das nur unwesentlich verändert, die Strafen allerdings haben sich erhöht. Ansonsten folgt der Umgang mit undokumentierten MigrantInnen keiner festen Regel. Werden illegale MigrantInnen aufgegriffen, werden sie häufig in Busse verfrachtet und von der Polizei an die Grenze ihrer Herkunftsländer gebracht oder in die Länder abgeschoben, über die sie in die Türkei eingereist sind. Dies gilt nicht für afrikanische Flüchtlinge, die mit dem Flugzeug einreisen: sie abzuschieben ist zu kostspielig. Darum werden sie häufig über längere Zeit inhaftiert und dann, weil man nicht weiß, wie man mit ihnen verfahren soll, wieder freigelassen.

Wechsel der Fluchtrichtung

Obwohl es Razzien und Abschiebungen gibt, leben und arbeiten "illegale" Flüchtlinge in manchen Stadtteilen Istanbuls recht offen. Saban vom Istanbuler Menschenrechtsverein (IHD) erklärt das so: "Das Geschäft mit den Flüchtlingen, die illegal einreisen, ist sehr gewinnträchtig. Es gibt enge Verbindungen zwischen Schleppern und Teilen der Polizei, die finanziell davon profitieren, wenn sie beide Augen zudrücken. Außerdem ist die türkische Regierung nicht besonders engagiert, die illegale Migration zu unterbinden. Die Flüchtlinge sind zwar in der Türkei unerwünscht, sie abzuschieben ist aber zu teuer. Darum hofft man, dass die Flüchtlinge das Problem selber lösen - indem sie nach Europa weiterwandern." Aber nicht immer folgt der polizeiliche Umgang mit Flüchtlingen rationalem Kalkül. "Seht euch diese Straße an, seit mehreren Monaten ist das Pflaster aufgerissen. Es ist weder der Wunsch der Stadtverwaltung, dass das so ist, noch unternimmt jemand etwas dagegen. Ähnlich ist es mit der staatlichen Migrationspolitik." Die neue, seit November 2002 amtierende Regierung kündigte bei ihrem Amtsantritt zwei migrationspolitische Maßnahmen an: die Einhaltung aller von der EU geforderten Grenzkontrollen, um die illegale Migration zu beschränken, sowie die Erweiterung des Asylgesetzes. Denn in der Türkei wird die Genfer Flüchtlingskonvention nur auf westeuropäische Flüchtlinge angewandt. Das entsprechende Gesetz stammt aus den 30er Jahren und wurde damals eigens für die vor dem europäischen Faschismus Flüchtenden eingeführt. Nun, da die Fluchtrichtung gewechselt hat, führt es zu einer faktischen Gesetzeslücke. MenschenrechtlerInnen erwarten, dass die Regierung sich um eine Erweiterung des Asylrechts auf einen größeren Personenkreis bemühen wird, da hier dringender Handlungsbedarf besteht. Offen bleibt, wie sich das auswirken wird: Entweder wird die Türkei beim nächsten politischen Konflikt innerhalb ihrer Nachbarländer die Grenzkontrolle weit vehementer betreiben, als sie das im März im Nordirak getan hat. Oder alles bleibt wie zuvor, da die Türkei weder Geld hat, um ihre Grenzanlagen zu verbessern, noch die "Illegalen" genug fürchtet, um sie effektiv abwehren zu wollen. Bleibt die Frage, ob eine Ausweitung des Asyls auf weitere Personengruppen überhaupt etwas an der derzeitigen Situation verändern würde. Um das beurteilen zu können, heißt es abwarten, wie sich zukünftige Flüchtlinge entscheiden werden: ob sie Asyl in der Türkei ersuchen oder doch lieber den Transit nach Europa wagen. Juliane Schmidt ist Migrationssoziologin und lebt in Göttingen. Der Artikel entstand im Rahmen einer Forschungsreise des interdisziplinären und transeuropäischen Forschungs- und Filmprojekts "Trans it! migrations", das am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie in Frankfurt/M. angesiedelt ist. aus: IZ3W 270