Aus der Geschichte gelernt?

Die Pazifisten hätten nichts aus der Geschichte gelernt, verkünden Gefolgsleute des US-amerikanischen Präsidenten, seit der drohende Krieg gegen Irak denkende Menschen wieder auf die Straße treibt

... Die Kriegswilligen glauben, die Lehren der Geschichte auf ihrer Seite zu haben, wenn sie Saddam Hussein mit Hitler vergleichen und darauf verweisen, daß die Befreiung Deutschlands und der Welt vom Hitler-Faschismus nur mit militärischer Gewalt möglich gewesen sei. Daraus sei zu lernen, daß Saddam Hussein, dieser zweite Hitler, durch einen Krieg gegen Irak entmachtet werden müsse. Eine These, die sowohl in ihren Voraussetzungen als auch in ihren Konsequenzen hinterfragt werden muß.
Es hat auch in der Geschichte des Hitler-Faschismus eine Zeit gegeben, zu der Hitler mit nichtkriegerischen Mitteln in seine Schranken hätte verwiesen werden können. Es darf wohl vorausgesetzt werden, daß das Führungspersonal der zivilisierten Staaten Hitlers "Mein Kampf" kannte und demnach wußte, was auf Deutschland und die Welt zukam. Gleichwohl hat man diesen Staatsterroristen, der das Recht des Stärkeren als Richtlinie seiner Politik verkündete, von Anfang an hofiert (Victor Klemperer notierte es schon 1933 voll Verzweiflung), statt ihn zur Einhaltung internationaler Verträge zu zwingen. Hätten im März 1936, als Hitler unter Bruch des Versailler Friedensvertrages seine Wehrmacht ins entmilitarisierte Rheinland einmarschieren ließ, internationale Inspektoren ihre Arbeit aufgenommen und eine wachsame Diplomatie der zivilisierten Staaten die weitere Aufrüstung seines Terrorstaats verhindert, wäre der Welt ein furchtbarer Krieg mit 50 Millionen Toten und der Zerstörung unzähliger Städte und Kulturgüter erspart geblieben.
Die westlichen Staatsmänner und Diplomaten, die einen Hitler groß werden ließen, waren keine Pazifisten. Sie waren Antikommunisten und sahen in Hitler einen Bundesgenossen gegen die rote Gefahr. Wie Hitler sich gleich nach der "Machtergreifung" der Kommunisten, der Sozialdemokraten und der Gewerkschaften entledigte, war ihnen zutiefst sympathisch. Ebenso seine erklärte Absicht, Krieg gegen die Sowjet-Union zu führen (sehr lesenswert Jacques Pauwels: "Der Mythos vom guten Krieg", s. Ossietzky S. 803/2001). Es ist daher eine Spekulation auf historische Unwissenheit, wenn ausgerechnet aus der antikommunistischen Ecke der Vorwurf kommt, es sei die Schuld der Pazifisten, daß es zum 2. Weltkrieg kommen konnte.
Ja, man kann noch weiter zurückgehen und beklagen, daß schon in der Weimarer Republik pazifistische Stimmen mit justiziellen Mitteln zum Schweigen gebracht worden sind. Ich nenne nur die Fälle Fritz Küster, Berthold Jacob und Carl von Ossietzky. Ihnen wurde als Landesverrat angelastet, daß sie vor der unter Bruch des Versailler Friedensvertrages betriebenen Aufrüstung gewarnt haben. Als Carl von Ossietzky nach Hitlers berüchtigtem "Legalitätseid" vor dem Reichsgericht in der Weltbühne vom 1.10.1930 schrieb, daß man diesen Mann, statt seinen hochverräterischen Plan mit Achtung entgegenzunehmen, in eine Heilanstalt stecken oder als Verbrecher in Eisen legen sollte, wäre noch Zeit gewesen, auf Pazifisten zu hören. Es ist daher unredlich, ausgerechnet Pazifisten, die gegen den geplanten Irak-Krieg protestieren, vorzuhalten, daß schließlich ein Krieg nötig gewesen sei, um Hitler zu schlagen.
Auch heute wollen die Kriegswilligen nicht hören, was die angeblich "naiven Friedenfreunde" ihnen zurufen. Man sagt uns, Saddam Hussein sei ein zweiter Hitler, um den Schluß nahe zu legen, daß man mit ihm umgehen müsse wie mit Hitler. Und will uns mit historischen Vergleichen glauben machen, daß ein Krieg nötig und ein geeignetes Mittel zur Abwehr der von dem irakischen Diktator ausgehenden Gefahren sei. Aber die Vergleiche sind nicht schlüssig.
Das gilt auch für die Bewertung des gern als Beweis für die Fehlerhaftigkeit pazifistischer Positionen zitierten Münchner Abkommens vom 29. September 1938, in dem die Regierungschefs von Großbritannien (Chamberlain), Frankreich (Daladier) und Italien (Mussolini) Hitlers Forderung auf Abtretung des Sudetenlandes sanktionierten, um den Frieden durch Zugeständnisse an Hitler zu retten.
Es ist richtig, daß die damalige Appeasement-Politik den kriegsentschlossenen Diktator nur dazu veranlaßt hat, weitere territoriale Forderungen zu stellen und den Beginn des Krieges um ein Jahr zu verschieben. Für eine dauerhaft friedliche Lösung war es auch 1938 schon zu spät. Daß die am Münchener Abkommen beteiligten Staatsmänner und Diplomaten noch im Jahre 1938 nicht begriffen hatten, was sie schon vor 1933 über Hitler hätten wissen können, kann man nicht den Pazifisten anlasten. Sie hatten früh genug gewarnt.
Im übrigen waren das Münchner Abkommen von 1938 und die Duldung der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei im März 1939 Ergebnisse einer Politik, die keineswegs so friedlich motiviert war, wie man uns glauben machen will. Vielmehr zielte sie darauf ab, Hitlers Deutschland als Bollwerk gegen die kommunistische Gefahr aufzurüsten und ihn zum erwarteten und erhofften Kreuz zug gegen die Sowjet-Union zu bewegen. Nachzulesen bei Jacques Pauwels, der sich auf die Untersuchung der kanadischen Historiker Clement Leibovitz und Alvin Finkel‹: "In our Time: The Chamberlain-Hitler Collusion" (New York 1998) stützt.
Wer gegenüber Pazifisten mit historischen Beispielen Recht behalten will, steigt an einer Stelle in die Geschichtsbetrachtung ein, wo es für friedliche Lösungen zu spät war. Ein Diskussionsmuster, das mir aus einigen tausend Verfahren zur Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern hinreichend bekannt ist. Man läßt die Geschichte mit der Situation beginnen, die von den Kriegswilligen gegen den jahrelangen Widerspruch von Pazifisten herbeigeführt worden ist, und fragt dann: Was hättet ihr jetzt getan? Aber man weigert sich, die Frage zu beantworten, was zu der Zeit gedacht, gesagt und getan worden ist, als es noch nicht zu spät gewesen wäre, Hitlers Amoklauf ohne Krieg zu stoppen. So hätte 1936, als Hitler daran interessiert war, die Völker der Welt zu den Olympischen Spielen in Berlin zu begrüßen, noch diplomatischer Druck genügt, um ihn zur Anerkennung internationalen Rechts zu zwingen. Später hätte es allerdings der Androhung internationaler Militärgewalt bedurft, um Hitler von weiteren Rechtsbrüchen abzuschrecken.
Vielleicht wird man sagen, Hitler hätte sich auch durch eine schon zu einem früheren Zeitpunkt angekündigte Kriegsentschlossenheit der Alliierten nicht von weiteren Provokationen abhalten lassen. Wenn das richtig ist, und ich halte es für möglich, dann versagt der historische Vergleich zwischen Hitler und Saddam Hussein auch in diesem Punkt. Denn Saddam hat sich der international kontrollierten Entwaffnung seines Landes unterworfen. Dagegen wurde es Hitler gestattet, aus dem nach dem 1. Weltkrieg entwaffneten Deutschland die stärkste Militärmacht des europäischen Kontinents zu machen. Ein Deutschland, das seine Waffen verschrottet hätte, wäre wohl kaum Ziel eines Angriffskrieges geworden. Für einen Angriffskrieg, wie er jetzt gegen ein zu freiwilliger Entwaffnung bereites Land geführt werden soll, gibt es kein historisches Vorbild.
Wir hören, Auschwitz sei nicht von Pazifisten, sondern von Soldaten befreit worden. Anscheinend muß auch daran erinnert werden, daß die Nazis ihr Massenmordprogramm gegen Juden und andere mißliebige Minderheiten wie Zigeuner und Zeugen Jehovas trotz und gerade während des Krieges durchführen konnten. Nur relativ wenige Juden, die den Holocaust im Versteck überlebt haben, sind tatsächlich durch den militärischen Einmarsch der Alliierten befreit worden; der Großteil der Verfolgten wurde nicht durch den Krieg gerettet. Auch Auschwitz wurde erst befreit, als es für Millionen Menschen zu spät war. Nur eine konsequentere internationale Anti-Hitler-Koalition schon zu Friedenszeiten und eine menschlichere Haltung gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden hätte sie vor Entrechtung, Freiheitsberaubung und Vernichtung schützen können. Das, und nicht voreilige Kriegsbereitschaft, ist aus der Geschichte zu lernen.
Wir hören auch das Argument, es gehe um die Beseitigung aller denkbaren Quellen terroristischer Gewalt, nachdem der amerikanischen Bevölkerung diese Gefahr durch den Anschlag vom 11. September 2001 bewußt geworden sei. Fürwahr, die US-Amerikaner haben Krieg zum ersten Mal im eigenen Land erlebt. Und da der Gegner ungreifbar war, suchte ihre Regierung nach Ersatzzielen, die man bombardieren kann. Aber hat die Bombardierung Afghanistans die Sicherheit der amerikanischen Bevölkerung erhöht? Kann ein Krieg gegen den Irak, dem bisher keinerlei Verbindung zu den Attentätern des 11. September nachgewiesen ist, dieses Ziel erreichen? Oder sind nicht vielmehr weitere Selbstmord attentate, wie bereits angekündigt, zu erwarten?
Eine Supermacht, die bisher gewohnt war, ihre Kriege in fernen Ländern führen zu können, ohne die eigene Bevölkerung zu gefährden, wird sich darauf einstellen müssen, dass die Betroffenen neue Kampfformen gefunden haben, nämlich Selbstmordattentate im Hinterland des militärisch überlegenen Angreifers und in Zukunft vielleicht auch Geiselnahmen und andere Formen individuellen Terrors. Der israelisch-palästinensische Konflikt mit seinem furchtbaren Automatismus von Schlag und Gegenschlag liefert im kleinen Maßstab Anschauungsunterricht über die verheerenden Konsequenzen dieses Kampfes zwischen David und Goliath. Eine Lösung ist auch dort nur zu erhoffen, wenn man das Recht des Stärkeren aufgibt und pazifistische Denkkategorien ernst nimmt.
Irgendwann wird man anfangen müssen, die bisher als ruchlose Terrorakte definierten Attentate als Kriegshandlungen militärisch hoffnungslos unterlegener Völker zu begreifen. Das macht sie nicht weniger verwerflich ("Soldaten sind Mörder"!), aber es kann uns zu der Erkenntnis führen, daß es einen Zusammenhang dieser mörderischen Taten mit den Aktionen der Militärmächte gibt, gegen die sie sich richten. Die Liste amerikanischer Militäraktionen der vergangenen Jahrzehnte, die solche Reaktionen befürchten ließen, ist lang, aber weder in den USA noch in der BRD im öffentlichen Bewußtsein. Auch der Irak-Krieg, wenn er denn nicht zu verhindern sein sollte, wird den Amerikanern und deren Mitläufern neue Feinde machen und neue Gefahren einbringen.
Man will uns weiter glauben machen, daß es darum gehe, die Gefahr irakischer Angriffe mit Raketen und Massenvernichtungsmitteln auf Israel abzuwehren. Ja, den Millionen, die am 15. Februar in aller Welt auf die Straße gegangen sind, um gegen Bushs Kriegspläne zu protestieren, ist unterstellt worden, sie verkennten die Gefahr, daß Saddam Hussein, dieser von den USA einst hofierte Diktator, frühere Drohungen wahrmacht und, wie schon im Golfkrieg von 1990/91, die ihm auch aus der westlichen Welt gelieferten Raketen und Gifte auf Israel abschießt. Gibt es ein besseres Mittel zur Verhinderung eines solchen Verbrechens als die von internationalen Inspektoren kontrollierte Abrüstung des Irak? Wird nicht die Gefahr eines irakischen Angriffs auf Israel erhöht, wenn ein Militärschlag gegen den Irak geführt wird, bevor die Inspektoren ihre Arbeit in der dafür erforderlichen Zeit abgeschlossen haben? Gerade aus Sorge um die Existenz und Unversehrtheit Israels, des Staates, der für Juden eine sichere Zuflucht bieten sollte, muß doch nachdrücklich davor gewarnt werden, vor Abschluß der Kontrollen einen Krieg gegen einen Staat zu eröffnen, dem noch der Besitz bisher nicht entdeckter Massenvernichtungsmittel und deren Anwendung gegen Israel zugetraut wird. Der Gedanke ist so naheliegend, daß nicht ernstlich angenommen werden kann, die US-Administration glaube noch an das Vorhandensein von Massenvernichtungsmitteln im Irak. Aber wer wird schon den Sieger fragen, ob seine Kriegsgründe berechtigt waren. Also schnell zuschlagen, bevor das letzte denkbare Versteck inspiziert ist.
Die von den USA geleiteten Militäraktionen der letzten Jahre haben verwüstete Länder hinterlassen, in denen die Überlebenden bittere Not leiden. Jetzt ist Irak an der Reihe, wo schon heute Hunderttausende, besonders Kinder, sterben, weil es infolge des von angeblich zivilisierten Staaten verhängten Embargos an Lebensmitteln und Medikamenten fehlt. Blind gegenüber den voraussehbaren Folgen und voll höhnischer Verachtung gegenüber dem Völkerrecht und elementaren Menschenrechten wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein neuer Massenmord vorbereitet. Das aus der Geschichte wohlbekannte Recht des Stärkeren wird als Prinzip einer neuen Weltordnung praktiziert, deren Protagonist historischen Vergleichen nicht entgehen wird.

aus: Ossietzky, 06/2003