Aufstand der Zivilgesellschaft!?

Die Zivilgesellschaft ist aufgestanden. "Not in our name" - das Motto der US-amerikanischen Friedensbewegung - schallte am 15. Februar durch alle europäischen Hauptstädte. ...

... Nicht nur in Rom, Madrid und London, wo von Seiten der Regierungen uneingeschränkte Solidarität mit der Bush-Administration praktiziert wird in der Einschätzung, nur auf diese Weise weltpolitisch noch mitmischen zu können.
Auch in Paris, Brüssel und Berlin gingen Millionen auf die Straße, obgleich die dortigen Regierungen öffentlich ihre Befürchtung äußern, dass geopolitische Instabilität und wirtschaftlicher Niedergang das Ergebnis der gegen den Irak exekutierten Politik präventiver Angriffskriege sein werden. Die gleichen Bilder kamen aus Australien, aus Südafrika, aus Brasilien - weltweit waren in über 600 Städten mehr als 14 Millionen Menschen auf den Beinen. Die Proteste der Zivilgesellschaft sind seit Seattle und Porto Alegre global geworden.

Was die Antikriegsbewegung zusammenführt, ist die Usurpation der Macht in den Händen einer missionarisch-reaktionären Regierung, die eine Neuordnung der Welt allein nach ihren strategischen Interessen erzwingen will. Dieser Unilateralismus macht auch vor der Demontage von Ikonen der westlichen "Wertegemeinschaft" wie der NATO keinen Halt. Mehr noch: Die Provokation der Spaltung Europas ist das Kalkül der verbliebenen Supermacht, deren Unilateralismus sich mit einem ökonomischen Gleichgewicht zwischen den Zentren der kapitalistischen Triade nicht verträgt. Eine ökonomisch und politisch starke Europäische Union lag noch nie im Interesse der USA, wenn diese Konkurrenz zum Dollar und damit die Infragestellung ihrer einzigartigen politökonomischen Vormacht befürchten muss. Neu ist, dass dies nicht nur mehr in Handelsscharmützeln über Stahl- und Agrarquoten, sondern in direkte politische Spaltung mündet.

Der Aufstand der Zivilgesellschaft hat aber noch tiefere Wurzeln. Die Sorgen über die Folgen des Krieges sind gleichsam die Spitze des Misstrauens in die Problemlösungsfähigkeiten und -willigkeiten der herrschenden politischen Klassen. Aufgrund der bereits fortgeschrittenen Erosion politischer Repräsentanzverhältnisse gelingt es der Sozialdemokratie nur noch in Ausnahmefällen, aus dem Nein gegen den Krieg Nektar für Wahlen zu saugen. Die breite Zustimmung der Bevölkerung zur Irak-Politik von Rot-Grün geht einher mit einer historischen Baisse der SPD in der Gunst ihrer potenziellen WählerInnen. Aber nur eine Minderheit ihrer RepräsentantInnen zieht daraus die Schlussfolgerungen, die ihr die Wahlforscher vergeblich ins Stammbuch zu schreiben suchen: "Die SPD hat es seit 1998 nicht verstanden, das für eine sozialreformerische Partei zentrale Leitmotiv der sozialen Gerechtigkeit als Fundament ihrer Politik überzeugend zu inszenieren und durchzuhalten."[1] Statt des "öffentlichen Ringens um Werte und gesellschaftliche Entwicklungsperspektiven" wird der Umbau der Gesellschaft nach Kosten-Nutzen-Kalkül vorangetrieben. Dabei hat die SPD die Bundestagswahlen nicht wegen, sondern trotz ihrer ursprünglichen Wahlstrategie noch auf dem letzten halben Meter gewonnen; aber selbst diese Mahnung der WählerInnen wurde weder bei den Landtagswahlen in Hessen noch in Niedersachsen verarbeitet.

Der Kurs, den Rot-Grün seit fünf Monaten fährt, bewegt sich zwischen Problemverdrängung und Problemeskalation. Zu ersterem gehört die Gefahr des Abgleitens in eine Rezession - der Wirtschaftsminister inszeniert Reformandrohungen, aber keine realwirtschaftlich wirksamen Initiativen in einem bereits stagnierenden Akkumulationsprozess, und der Finanzminister beschränkt sich darauf, kleinlaut zu versichern, man bemühe sich, die Defizitgrenzen für die öffentliche Verschuldung einzuhalten, wisse aber nicht, ob man das schafft. Das lässt noch nicht einmal in Spurenelementen erkennen, dass man nicht nur erneut in einer Rezession steckt, sondern darüber hinaus Gefahr läuft, in eine deflationäre Entwicklung abzugleiten. Zum zweiten gehört die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Im allergünstigsten Fall wird die registrierte Arbeitslosigkeit im Jahresdurchschnitt nicht über 4,3 Millionen liegen und die verdeckte Massenarbeitslosigkeit nicht noch über 2,6 Millionen hinaus ansteigen, was zusammen einer realen Arbeitslosenquote von über 18% entspricht; da das prognostizierte Wirtschaftswachstum im laufenden und im kommenden Jahr unter der so genannten Beschäftigungsschwelle liegt, ist für die nächsten 22 Monate nichts anderes als Arbeitsplatzabbau zu erwarten. Vor diesem Hintergrund werden die "Hartz-Reformen" zu einer beispiellosen Deregulierungs- und Kürzungsoperation: Der Abbau aktiver Arbeitsmarktpolitik lässt die Arbeitslosigkeit weiter ansteigen und zerschlägt eine um ihre Milderung bemühte Trägerinfrastruktur, und die Kürzungen bei Arbeitslosengeld und insbesondere Arbeitslosenhilfe transformieren Arbeitslosigkeit in verschärfte Armut.[2] Dieser Weg in einen flexiblen Kapitalismus, der auf wachsender Ausgrenzung und Polarisierung aufbaut, kann nur zu mehr sozialer Unsicherheit, Enttäuschung und Unzufriedenheit führen.

Gedankenlose Politik ist das dennoch nicht. Zu Recht heißt es im Papier des Planungsstabs im Kanzleramt: "Unser Problem ist nicht die internationale Wettbewerbsfähigkeit... Die ist exzellent... Unser Problem sind Binnennachfrage und Investitionen."[3] Doch der "Königsweg", den man meint gefunden zu haben, ist realiter eine Sackgasse. Eine Stärkung der Kaufkraft auf dem Binnenmarkt soll erreicht werden durch die Senkung von Steuern und Lohnnebenkosten bei gleichzeitiger Erhöhung der öffentlichen Investitionen und Festhalten an der Politik der Haushaltskonsolidierung "von der Ausgabenseite her". In Anbetracht des Ausbaus der privaten Rentenvorsorge, von "mehr Wettbewerbselementen gegen falsch gesetzte Anreizstrukturen" im Gesundheitswesen sowie einer Deregulierung des Arbeitsmarktes u.a. durch weitergehende Suspendierung des Kündigungsschutzes reduziert sich die Weisheit des Kanzleramtes auf die Kurzformel: mehr individuelle Nachfrage durch weniger kollektive Nachfrage. Auf der Strecke bleibt immer mehr ein positiver Bezug auf das Gemeinwesen.

Die Crux dieser Politik ist nicht nur, dass sie ökonomisch widersinnig ist - einzig die Umverteilung von Geldvermögen in realwirtschaftliche Nachfrage und die Stärkung kollektiven Konsums würde eine Stabilisierung des Binnenmarktes herbeiführen. Das Drama besteht darin, dass der gegenwärtig anvisierte "Königsweg" die Aufbereitung der großen Koalition ist - ohne Widerständigkeit, ohne Rest von Eigensinn. Die Politik der "strukturellen Reformen" lässt einen eigenständigen Ansatz sozialdemokratischer Politik nicht mehr erkennen. In einer der schwierigsten wirtschaftlichen und sozialen Lagen seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre wird Zuflucht gesucht in der Beseitigung der grundlegenden Schlussfolgerungen aus dem Niedergang der damaligen bürgerlichen Welt. Es soll zwar kein Frontalangriff auf Gewerkschaften und soziale Bewegungen gefahren werden; diese sollen gleichwohl in einem Stellungskrieg mürbe gemacht werden.

Dass Deutschland bislang an einer Deflation vorbeigeschrammt ist, liegt an der - wenn auch abgeschwächten - Wirksamkeit der lohn- und sozialpolitischen Stabilisatoren. Bislang haben Flächentarifvertrag, regulierter Arbeitsmarkt und Sozialstaat noch als Rettungsanker gewirkt. Aber die Dramatik der Situation besteht darin, dass in allen politischen Lagern ein Kurs gefahren wird, diese Anker nun zu kappen. Das ist der Fundus, aus dem eine sich faktisch formierende Große Koalition (Bundestag und Bundesrat) ihre Politik der kommenden zwei Jahre schöpft. Dass das keine Konsensveranstaltung wird, dafür sorgt die Radikalisierung des bürgerlichen Lagers. Was Arnulf Baring im Feuilleton zu Papier bringt, bringt der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz im Parlament zur Sprache: die "Entriegelung" der Sozialverfassung mit der Brechstange betreiben zu wollen.

Als Türöffner dienen Modellprojekte zur Aufhebung des Kündigungsschutzes. Der entscheidende Angriff zielt auf die Aufhebung des Tarifvorbehalts und die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifvereinbarungen. Das Ziel ist dabei unverhohlen, die gestaltende, regulatorische Kraft der Gewerkschaften zu zerschlagen und ihre Strukturen zu zersplittern, indem betriebliche Regelungen - auch auf Kosten der Ordnungsfunktion des Tarifvertrages - Vorrang erhalten. Dadurch soll es gelingen, wie in den USA die Beschäftigungsschwelle des Wirtschaftswachstums gegen Null zu senken.

Hieraus entsteht eine neue Situation vor allem für die Gewerkschaften: Sie verfügen über keinen Bündnispartner im politischen Raum mehr. Sie sind auf eine autonome Politik zurückverwiesen. Auch das gehört zur Krise der politischen Repräsentanz. Hier liegt die komplizierteste Zukunftsfrage. Der Aufstand der Zivilgesellschaft, der sich neben der Kriegsfrage aus den Zumutungen und Verwerfungen der sozialen Verhältnisse ergibt, erhält dann Breite und Reichweite, wenn diese Quelle selbst zum Aktionsfeld wird, wenn die Ausgrenzungsprozesse, Segmentierungen und anderen sozialen Spaltungsprozesse aufgehoben werden können. Die soziale Frage muss mit im Zentrum eines neuen politischen Widerstands stehen. Dazu könnte die Verständigung zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen einen wichtigen Beitrag leisten.


Anmerkungen:

[1] Dieter Oberndörfer / Gerd Mielke / Ulrich Eith, Niemand zieht für die Hartz-Kommission in den Wahlkampf. Warum der Kanzler seine zweite Chance fast schon verspielt hat, in: Frankfurter Rundschau vom 7.2.2003.
[2] siehe WISSENTransfer (Hrsg.), Radikalumbau des Arbeitsmarktes. "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" - Die Folgen der "Hartz-Reform", Hamburg 2003.
[3] "Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Gerechtigkeit", Thesenpapier für die Planungsklausur am 5.12.2002.

in: Sozialismus, Heft Nr. 3 (März 2003), 30. Jahrgang, Heft Nr. 264