Billiger Jakob?

Tarifrunde im öffentlichen Dienst

1. Die Bilanz des Jahres 2002 sah nach längerer Zeit mal wieder so aus, dass den Lohn- und GehaltsempfängerInnen nicht gleich die Tränen ins Auge schossen. Mit Tarifabschlüssen zwischen drei und .

... vier Prozent konnte in etwa der neutrale Verteilungsspielraum (Preis- und Produktivitätssteigerungen) ausgeschöpft werden. Das schafft die Voraussetzung dafür, dass im laufenden Jahr der private Verbrauch nicht erneut massiv in den Keller geht (2002: -0,7%) und zumindest ein kleines Gegengewicht gegen die deflationären Tendenzen schafft.
Das bescheidene Zeugnis gesamtwirtschaftlicher Vernunft musste in einer breiten Streikbewegung durchgesetzt werden: im Mai von 217.000 Beschäftigten in der Metallindustrie, im Juni von 32.000 Bauarbeitern, die nach einem halben Jahrhundert ihren ersten bundesweiten Streik organisierten, schließlich von 65.000 Beschäftigten im Einzelhandel - und nicht zu vergessen die Arbeitsniederlegungen der von massiven Entlassungen betroffenen Bankangestellten.

Diese Entwicklung schuf den positiven Hintergrund dafür, dass die Gewerkschaften nicht erneut als Bettvorleger präsentiert werden. Dass das mediale Stimmungspendel gleich in die entgegengesetzte Richtung - "Schröder in den Klauen der Gewerkschaftsbosse" - ausschlug, macht einmal mehr deutlich, mit welcher öffentlichen Gewalt selbst bescheidenste Korrekturen einer ganz offenkundig ruinösen Steuerpolitik bekriegt werden - wie man an der kurzen Geschichte der Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung sieht, durchaus erfolgreich. Ebenso wichtig ist aber festzuhalten, dass die - gemessen an vielen Jahren zuvor - positive Tarifbilanz erst das Fundament schuf, auf dem die Mehrzahl der deutschen Gewerkschaften ihre politischen Forderungen nach einem fair-Teilen glaubwürdig stellen konnten. Erst damit zeigte sich, wie viel geschwätziger Geistesmüll beiseite geräumt werden muss, damit tatsächliche Argumente für eine substanzielle Reformpolitik wieder Gehör und Beachtung finden. Die Kampagne für eine verteilungspolitisch wie gesamtwirtschaftlich äußerst wohltuende Vermögensbesteuerung ist mit dem Umfallen nordrhein-westfälischer und niedersächsischer Wahlkämpfer nicht beendet, sondern hat gerade erst begonnen.

2. Verteilungsauseinandersetzungen haben ihr eigenes Kalendarium. Noch zur Tarifrunde des abgelaufenen Jahres gehört die im öffentlichen Dienst: für knapp drei Millionen ArbeiterInnen und Angestellte bei Bund, Länder und Gemeinden, aber indirekt auch für zwei Millionen BeamtInnen und für weitere drei Millionen Beschäftigte, deren Tarifverträge sich an denen des öffentlichen Dienstes orientieren - insgesamt ein kräftiges Nachfragepotenzial von gut acht Millionen ArbeitnehmerInnen.

Von vornherein war klar, dass für eine Tarifforderung von gut drei Prozent, die nur nachvollziehen will, was in den anderen Wirtschaftsbereichen bereits vereinbart wurde, auch gestreikt werden muss - die Warnstreiks im Dezember waren die folgerichtige Overtüre. Seit zwei Jahrzehnten öffnet sich die Einkommens-Schere zwischen der Gesamtwirtschaft, wo die Löhne und Gehälter seit 1983 um 73% stiegen, und dem öffentlichen Dienst, der sich mit mageren 57% abfinden musste. Übrigens entspricht dies einem langjährigen Durchschnitt von drei Prozent; die ver.di-Forderung verlässt insofern nicht den bisherigen Defensiv-Korridor.

Bund, Länder und Gemeinden machen die Gegenrechnung auf, dass Einkommenserhöhungen an anderer Stelle "kompensiert" werden müssen. Damit inszenieren die öffentlichen Arbeitgeber die Tarifrunde als kollektive Bettelei. Jahrein, jahraus wird kompensiert! Seit 1993 - in neun Jahren - sind die Personalausgaben des Staates um 15 Mrd. EUR gestiegen; das entspricht der Ergiebigkeit einer vernünftigen Vermögensbesteuerung eines Jahres, auf die die Bundesregierung großzügig verzichtet. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt sind die Ausgaben für die "StaatsdienerInnen" von 9,3% auf 7,9% (2002) gefallen. Diese "Kompensation" kam neben Lohndrückerei durch den Abbau eines Drittels des Personals im unmittelbaren öffentlichen Dienst zustande: von 6,7 auf 4,9 Millionen in gerade einmal zehn Jahren.

Was in den Tarifrunden des öffentlichen Dienstes "Kompensation" genannt wird, heißt im Alltag Privatisierung. Allein durch die Privatisierung von Post, Telekom und Bahn konnte der öffentliche Personalbestand um eine Million zurückgefahren werden. Verschlankung heißt das zweite Stichwort durch die Halbierung der in den neuen Bundesländern im öffentlichen Dienst Beschäftigten (von 1,7 Mio. auf 850 Tsd.). Dass sie das Gros der Vorurteile über einen maroden, ineffizienten, bürokratischen, unflexiblen und überteuerten Dienst abbekommen, gehört zu den besonders zynischen Aperçus. Die Vereinbarung einer Ost-West-Angleichung bis zum Jahr 2007 war bereits ein bitterer Kompromiss; diesen erneut zur Verhandlung bzw. "Kompensation" zu stellen, gehört zu den mittlerweile gängigen Rechtsbrüchen.

3. Nackten Männern kann man nicht in die Taschen greifen - so präsentieren sich die öffentlichen Verhandlungsführer bildlich gesprochen im Adamskostüm. Allen voran die Vertreter der Kommunen, wo 1,3 Millionen Arbeiter und Angestellte beschäftigt sind. Dass sie selbst die Boxershorts ausgezogen haben, hat freilich nichts mit Personalüberhang und Lohndruck zu tun. Um 15 Milliarden EUR (= Steigerung der gesamten öffentlichen Personalausgaben in neun Jahren = Vermögensteueraufkommen eines Jahres) brach die Gewerbesteuer 2001/2 ein. Ursache: die rot-grüne Unternehmensteuerreform (Freistellung der Veräußerungsgewinne, Senkung der Steuer auf einbehaltene Gewinne, langjährige Verlustvorträge, Sonderabschreibungen z.B. für UMTS-Lizenzen usw.) im Verein mit konjunkturbedingten Steuerausfällen.

In der Tat brauchen die Kommunen Geld - nicht nur für die in den Rathäusern, auf den Bauhöfen, in den Kindergärten und bei der Müllabfuhr Beschäftigten, sondern auch für überfällige öffentliche Investitionen. Die sauberste Lösung dafür wäre eine kommunale Wertschöpfungssteuer. Stattdessen wird eine ausgabenseitige Doppelstrategie gefahren durch Kürzungen bei den Personalausgaben und bei der Sozialhilfe. Nachdem der Bund jahrelang durch Leistungskürzungen bei der Bundesanstalt für Arbeit Arbeitslose in die Sozialhilfe getrieben hat, wird jetzt "kehrt Marsch" geblasen: Der Bund übernimmt einen Teil der kommunalen Sozialhilfebezieher und rechnet dies gegen den Wegfall der Arbeitslosenhilfe.

Da sage mal einer, die Umsetzung von "Hartz" habe nichts mit der Tarifrunde zu tun!

4. Der öffentliche Dienst ist tarifpolitisch abgekoppelt und seine negative Beschäftigungsbilanz steht der in privaten Dienstleistungsbereichen nicht nach. Was noch? "Flexibilisierung" heißt hier wie dort das Rationalisierungsmotto. Selbst wenn die Potenziale flexibler Arbeitszeitpolitik bei Bund, Ländern und Kommunen weniger ausgeschöpft sind, öffnet dieses Passepartout, das man sich periodisch teuer von Roland Berger et al. empfehlen lässt, doch nicht die entscheidenden Türen. Die fordistischen Zeiten, in denen die Drangsalierung der lebendigen Arbeit Produktivitätsfortschritte verhieß, sind lange vorbei. Nur motivierte Belegschaften können hochwertige Arbeit leisten. Während diese Botschaft zumindest in den hochtechnisierten Industriebereichen angekommen ist, wird in weiten Bereichen des produktionsfernen Dienstleistungssektors nach wie vor die Politik der ausgepressten Zitrone als letzte Weisheit unternehmerischen Handelns propagiert. Sie taugt nicht nur nichts, sondern ist in diesen Bereichen ganz und gar unproduktiv. Permanente Sparpolitik und die Botschaft, dass der öffentliche Dienst ein Kropf ist, dessen rationalisierungsfähige Bereiche sich durch Privatisierungsfähigkeit auszeichnen, sodass im Grunde nur der unfähige Bodensatz übrig bleibe, führt zu innerer Immigration und zu sonst gar nichts.

Die verteilungspolitische Debatte ist gegenwärtig deshalb schwer zu führen, weil auch rot-grün gefärbte öffentliche Arbeitgeber in ihrem Parforceritt von der Kameralistik zur Vermarktlichung jeden Gedanken an eine Debatte über die Zukunft öffentlicher Güter für Zeitverschwendung halten. Doch dies ist die nachwirkende Erkenntnis der gegenwärtigen Tarifauseinandersetzung: Es geht um Löhne und Gehälter, um die Angleichung Ost und West, um Arbeitszeiten und Arbeitsorganisation - und es geht um den Fetisch, dass "der Markt" die effizienteste Allokationsinstanz auch für "öffentliche Güter" ist: kurz GATS.

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Wer beim billigen Jakob kauft, weiß: zehn Prozent ist Abfall, der Rest zum sofortigen Verzehr bestimmt, Haltbarkeitsdatum bereits überschritten. Die Reform des öffentlichen Dienstes sollte zukunftsfähigen Leitbildern folgen.


Anmerkungen:
Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus.

aus: Sozialismus Heft Nr. 1 (Januar 2003), 30. Jahrgang, Heft Nr. 262