Interdiskursivität in der europäischen Öffentlichkeit

Der Begriff "Öffentlichkeit" hat starke normative Konnotationen. Daraus wird häufig der Schluß gezogen, daß er als analytischer Begriff nicht tauge. Er sei vielmehr ein politischer Kampfbegriff, .

... der sich gut für Legitimierungs- und Delegitimierungsstrategien in politischen Auseinandersetzungen eigne. Zugleich kommen wir aber beim Verständnis moderner politischer Systeme nicht ohne diesen Begriff aus. Analytisch umfaßt er zwei Phänomenbereiche: erstens die soziale Tatsache, daß Sprecher über politische Gegenstände kommunizieren. Welche Sprecher, welche Gegenstände politischer Kommunikation vor einem im Prinzip unabgeschlossenen Publikum thematisieren, beschreibt zugleich eine empirisch variierende soziale Struktur politischer Kommunikation.
Zweitens enthält der Begriff "Öffentlichkeit" eine Reihe historisch entstandener und mehr oder weniger habitualisierter normativer Erwartungen an politische Kommunikation, die in jeder politischen Kommunikation mitlaufen. Diese soll in einer Demokratie für alle interessierten Sprecher und Themen offen sein, das Verhältnis der Beteiligten soll durch Reziprozität gekennzeichnet sein und sie sollen nur dem "schwachen Zwang des besseren Arguments" gehorchen müssen. Die normative Dimension des Begriffs stellt Kriterien zur Bewertung der Qualität politischer Kommunikation bereit. Dies ist die symbolische, bisweilen stark umkämpfte Seite politischer Kommunikation. Auch die normative Dimension ist empirisch in dreifacher Weise variabel: Politische Kommunikation kann mehr oder weniger diesen normativen Erwartungen entsprechen, diese können selber zwischen sozialen Gruppen strittig sein, und sie können über Zeit variieren.
Eine solche Bestimmung läßt offen, wo die Grenzen des Systems politischer Kommunikation zu ziehen sind. Das prinzipiell "offene Kommunikationsforum für alle, die etwas sagen oder das, was andere sagen, hören wollen" weist realiter Grenzen auf (Neidhardt 1994: 7). Die Sprecher gehören als Akteure einem umschriebenen sozialen Raum an, und als Gegenstände politischer Kommunikation kommen die Probleme in Frage, die zwischen den Akteuren strittig sind und einer politischen Lösung zugeführt werden sollen. Die Grenzen, die wir wie selbstverständlich unterstellen, wenn wir von politischer Öffentlichkeit reden, sind die des "Landes", in dem wir leben, also die Grenzen eines Nationalstaats. Als politische Öffentlichkeit bezeichnen wir gewöhnlich die Gesamtheit aller öffentlich zugänglichen Kommunikationsprozesse über politische Themen in einem "Land", in dem über staatsbürgerliche Mitgliedschaftsregeln ein Raum erreichbarer Kommunikationspartner eingegrenzt wird, also die "Nation".
In diesem sozialen Raum vollziehen sich politische Kommunikationsprozesse in einer Fülle von Arenen, wo Sprecher für Themen, die sie als politisch relevant betrachten, um die Aufmerksamkeit eines Publikums kämpfen und versuchen, ihre Zuhörer von ihrer Meinung zum betreffenden Thema zu überzeugen. Die Arenen öffentlicher politischer Kommunikation haben unterschiedliche Reichweiten: alltägliche Gespräche über politische Themen unter Fremden oder Bekannten, durch zivilgesellschaftliche Akteure organisierte Versammlungsöffentlichkeiten und insbesondere die Massenmedien, die in modernen Demokratien die ausschlaggebenden Arenen sind, über die das breite Massenpublikum erreicht werden kann (ebd.: 10).1 Vor allem über die massenmedialen Arenen versuchen konkurrierende Sprecher, das Laienpublikum zu erreichen, um Aufmerksamkeit für bestimmte Themen zu erregen und Zustimmung zu bestimmten Meinungen über diese Themen beim Publikum zu gewinnen.
"In den Arenen und Relaisstationen dieses Forums befinden sich die Öffentlichkeitsakteure, die zu bestimmten Themen Meinungen von sich geben oder weitertragen: Sprecher und Kommunikateure. Auf den Galerien versammelt sich eine mehr oder weniger große Zahl von Beobachtern, das Publikum." (ebd.: 7)
Ohne politische Öffentlichkeit wären die Staatsbürger nicht in der Lage, ihre politischen Rechte in Anspruch zu nehmen und gegen Verletzungen zu verteidigen. Sie könnten sich nicht selbst regieren. Eine solche Bürgerschaft wäre nicht nur handlungsunfähig, sondern auch in einem normativen Sinne defizitär: sie wäre kein würdiger Souverän.
Aber wann ist eine sozioökonomisch, politisch, ethnisch und kulturell heterogene Gruppe von Menschen "kommunikationsfähig" genug, um eine politische Gemeinschaft, einen zur Selbstregierung befähigten "Demos", bilden zu können? Die Idee der Nation und des in der Nation aufgehenden Demos hat dafür besondere Bedingungen genannt und institutionalisiert. Dies ist allerdings eine historisch kontingente Lösung des Problems, die im Zuge wachsender Transnationalisierung zunehmend als solche sichtbar wird. Die nationale Schließung des Raums politischer Kommunikation ist eine historisch besondere Lösung und als solche nur mit Rekurs auf kontingente Gegebenheiten zu erklären.
Mit der Entstehung ökonomisch und politisch integrierter transnationaler Räume wird diese historische Kontingenz thematisch und die Frage virulent, wo denn die Grenzen politischer Kommunikation gezogen werden können, die zugleich den normativen Kriterien entsprechen, die einen Demos auszeichnen. Die Europäische Union ist der Fall, wo sich die Frage am schärfsten stellt. Können EU-Bürger unterschiedlicher nationaler Identität, die unterschiedlichste Sprachen sprechen und so gut wie ausschließlich nationale Medien benutzen, eine Öffentlichkeit bilden? Sind öffentliche Debatten über diese Grenzen hinweg möglich?
Wir möchten im folgenden den Stand der Diskussion rekapitulieren und zeigen, welche Argumentationsstrategien gegen den "pessimistischen" Konsens, eine transnationale Öffentlichkeit sei ein Ding der Unmöglichkeit, im Gespräch sind, um dann die Diskussion über die notwendigen Indikatoren zur empirischen Analyse transnationaler Kommunikationsprozesse aufzugreifen. Unsere These lautet, daß die über gemeinsame europäische Themen hergestellte thematische Verschränkung der nationalen Medienarenen ein ausreichender Indikator für das Vorhandensein oder Fehlen europäischer politischer Massenkommunikation ist. Im zweiten Teil des Beitrags diskutieren wir konkurrierende Versuche, europäische Öffentlichkeit empirisch zu bestimmen. Diese Diskussion erlaubt es uns, das Allgemeine, nämlich Interdiskursivität als thematische Verschränkung, und das Besondere, nämlich soziale Strukturierung, im Prozeß zunehmender politischer Kommunikation in Europa zu trennen. Im dritten Teil versuchen wir dann, einige Elemente dieser besonderen sozialen Strukturierung transnationaler Interdiskursivität zu bestimmen und einen analytischen Rahmen vorzuschlagen, in dem die strukturellen Spezifika europäischer Öffentlichkeit identifiziert werden können.

Öffentlichkeit jenseits der Nation?

Jürgen Habermas (1996: 185-191; 2001) hat mit überzeugenden Argumenten deutlich gemacht, daß auch jenseits des Nationalstaats Demokratie an Öffentlichkeit gebunden werden muß und daß Öffentlichkeit durch die verfassungsmäßige Garantie von politischen Mitsprache- und Partizipationsrechten institutionalisiert wird. Dabei bewegten sich seine Argumente meist auf der normativen Ebene. Die Antworten der Befürworter einer europäischen Demokratie auf die empirische Frage, ob man sich eine transnationale, multilinguale Öffentlichkeit vorstellen könne und - falls die Frage bejaht wird - ob es denn bereits erkennbare Indizien für die Entstehung einer solchen europäischen Öffentlichkeit gebe, einer Öffentlichkeit, die in der Lage wäre, eine europäische Demokratie auszufüllen, konnten jedoch die Befürchtungen der Europaskeptiker nicht ausräumen.
Weder reicht der Verweis darauf, daß es mit der Institutionalisierung von Öffentlichkeiten im Nationalstaatsbildungsprozeß bereits einmal geklappt habe, noch ist es zumutbar, auf das Englische als zweite Muttersprache und neue lingua franca zu verweisen, in der dann alle Bürger an transnationalen Debatten teilnehmen könnten. Und auch vom Internet als neuer transnationaler Arena sind - spätestens seitdem sich die erste Euphorie gelegt hat - keine Wunder zu erwarten. Gegen solche voreiligen Vorschläge sind vor allem wegen ihrer elitistischen Konsequenzen überzeugende Argumente vorgebracht worden (Kraus 2000, 2002). Oma Schulze, der Bäcker um die Ecke und Lieschen Müller wären dann zwar möglicherweise tüchtige Mitglieder der Gesellschaft, die nichts Verbotenes tun, ihre Steuern zahlen und vielleicht sogar aktive Mitglieder der Zivilgesellschaft in der katholischen Frauengruppe, der örtlichen Handelskammer oder aber einer Partei sind, aber weil es mit ihren Englischkenntnissen nicht so weit her ist und sie keine Internetnutzer sind, hätten sie keine Chance, am öffentlichen Leben einer europäischen Demokratie teilzunehmen.
Allerdings ist die vermeintliche Alternative zwischen normativ überzeugenden, empirisch jedoch nicht überzeugenden Argumenten für die Existenz einer europäischen Öffentlichkeit auf der einen Seite und dem zunächst einleuchtenden Verweis auf empirische Defizite europäischer Öffentlichkeit und der normativ unbefriedigenden Konsequenz, daß die Demokratie jenseits des Nationalstaats nicht funktionieren könne, auf der anderen Seite keinesfalls zwingend. Inzwischen haben einige Autoren begonnen, neue Wege der Diskussion und empirischen Analyse europäischer Öffentlichkeit zu beschreiten. Das geschieht auf (mindestens) drei Wegen, die unterschiedliche Argumentationsstrategien wählen:
(a) Die Annahme, eine Öffentlichkeit in Europa sei nicht möglich, ist eine empirische Annahme. Sie kann und sollte als solche diskutiert werden. Es gibt keine normativen Argumente, die eine Unmöglichkeit gehaltvoller politischer Kommunikation jenseits nationaler politischer Interaktionsräume substantiell begründen können. Schon die Tatsache eines rechtlich integrierten politischen Handlungsraumes wie der EU reicht aus, um von einem möglichen abgegrenzten Raum politischer Kommunikation sprechen zu können. Ob dieser unterhalb des sozialen Strukturierungsniveaus und/oder normativen Erwartungsniveaus nationaler Öffentlichkeiten bleibt, läßt sich nicht a priori, sondern nur empirisch entscheiden. Empirische Analysen müssen zeigen, in welchen Hinsichten eine europäische Öffentlichkeit sowohl sozialstrukturell wie auch normativ variiert, und Defizite (oder Optionen) ausweisen, die gerade im Vergleich mit nationalen Öffentlichkeiten herausgearbeitet werden können. Inzwischen gibt es mehrere empirische Forschungsvorhaben zum Gegenstand europäischer politischer Massenkommunikation in den nationalen Medien. Nach der Polarisierung von Optimisten und Pessimisten werden nun moderatere Positionen möglich, die beispielsweise verschiedene Intensitätsgrade der Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten unterscheiden (Koopmans 2000: 10-12).
(b) Man kann zweitens argumentieren, in der bisherigen Diskussion seien an europäische Öffentlichkeit Kriterien angelegt worden, die selbst im Rahmen des Nationalstaats überzogen sind. Auch innerhalb der Nation gehen wir mit Heterogenität um, auch hier beschwören wir nicht permanent unsere kollektive Identität, sondern streiten uns um Sach- oder auch um Identitätsfragen (Eder/Kantner 2000). Dabei wirkt gerade der Streit oftmals identitätsstiftend, und zwar, obwohl kein Konsens erzielt wurde (Risse 2002).
(c) Drittens kann man auf der hermeneutischen Ebene zeigen, daß die Zweifel an der Kommunizierbarkeit von Meinungen zu europäischen politischen Problemen über Sprach-, Mediensystem- und Ländergrenzen hinweg unbegründet sind (Kantner 2002). Wir haben im Anschluß an Jürgen Habermas die These vertreten, daß europäische politische Massenkommunikation anzutreffen ist, wenn in den nationalen Medien zur gleichen Zeit die gleichen Themen unter den gleichen Relevanzgesichtspunkten diskutiert werden, so daß ein anonymes Massenpublikum von EU-Bürgern die Chance hat, sich zu gemeinsamen Themen, die in einem gemeinsamen europäischen Rechtsraum entstehen, eine Meinung zu bilden und mit Ja-/Nein-Stellungnahmen darauf zu reagieren (Eder/Kantner 2000). Andere Autoren verwenden dafür andere Begriffe, wie Thematisierungskonvergenz und Synchronität (Tobler 2002) oder Bedeutungssystem (van de Steeg 2002).
Alle diese Positionen gehen davon aus, daß wir eine transnationale Öffentlichkeit bereits dann vor uns haben, wenn die Bürger in ihrer Muttersprache und vermittelt über die nationalsprachigen Massenmedien, die sie sowieso rezipieren, an der Diskussion über in Europa zur Entscheidung stehende Themen teilnehmen.2 Aber zwischen diesen Autoren tauchen bereits neue strittige Fragen auf: Braucht man nicht doch ein bißchen mehr als schlicht die Gewißheit, daß in den verschiedenen Mitgliedsländern über die gleichen in Europa zu entscheidenden politischen Konflikte zur gleichen Zeit und unter gleichen Relevanzgesichtspunkten in den Zeitungen berichtet wird? Wie kann unterschieden werden, ob hier nur zufällige Parallelität zu beobachten ist oder ob es wirklich um die gleiche Sache geht? Müßte man nicht doch fordern, daß stärkere Beziehungen zwischen den nationalsprachigen Öffentlichkeiten bestehen?

Transnationale Interdiskursivität

Einige der in diesem Heft vertretenen Autoren bringen derzeit zusätzliche Kriterien für das Vorhandensein einer europäischen Öffentlichkeit in Anschlag und eröffnen damit eine neue Debatte.
Thomas Risse (2002) fordert, daß die Medien (stellvertretend für die Bevölkerung) einen gewissen nationenübergreifenden europäischen Gemeinsinn zu erkennen geben, indem die Kritik an "unserer" nationalen politischen Praxis durch jemanden aus dem europäischen Ausland als legitime Äußerung anerkannt wird, statt mit Verweis auf "die inneren Angelegenheiten", "nationale kulturelle Besonderheiten" oder "vitale nationale Interessen" als unangemessen zurückgewiesen zu werden. Er fordert, daß neben der Debatte über ein gemeinsames Thema auch ein gewisser europäischer Gemeinsinn, die wechselseitige Anerkennung von Sprechern anderer Nationalität in bezug auf die eigenen Probleme als legitime Sprecher zu beobachten sein muß (1).
Marianne van de Steeg (2002) schlägt vor, die Interaktion europäischer politischer Kommunikation anhand der Zitationshäufigkeit von Sprechern (Politikern, Aktivisten) und Massenmedien aus anderen europäischen Ländern zu messen und als Indikator dafür zu nehmen, daß tatsächlich ein Diskurs beispielsweise zwischen Deutschen und Franzosen stattfindet. Stefan Tobler (2002) verwendet ähnliche Indikatoren. Massenmediale Arenenreferentialität sei dann zu beobachten, wenn sich die Medien unterschiedlicher nationaler Öffentlichkeiten explizit wechselseitig zitieren - positiv oder negativ (2). Und von reziproken Resonanzstrukturen lasse sich sprechen, wenn die Sprecher-Ensembles aus verschiedenen (nationalen) massenmedialen Arenen in den jeweils anderen (nationalen) Arenen wahrgenommen werden (3).
Wir möchten diesen Vorschlägen gegenüber unsere ursprüngliche These verteidigen, daß europäische politische Kommunikation schon dann vorliegt, wenn in den nationalen Arenen die gleichen (europäischen) Themen zur gleichen Zeit unter gleichen inhaltlichen Relevanzgesichtspunkten diskutiert werden. Mit diesen Bestimmungen werden - so unsere Annahme - die Minimalvoraussetzungen von Interdiskursivität definiert. Diese heißt nichts anderes, als daß kommunikative Akte füreinander erreichbar sind und ein gemeinsamer Relevanzhorizont mitkommuniziert wird. Gleichwohl sind die zusätzlich in die Diskussion gebrachten empirischen Indikatoren aufschlusßreich zur Beschreibung der wechselseitigen Aufeinanderbezogenheit kommunikativer Handlungen. Wir vermuten, daß sie das spezifische - insbesondere auch sozialstrukturelle - Beziehungsgefüge einer europäischen Öffentlichkeit abbilden. Daß sie jedoch nicht die Frage nach dem Vorliegen oder Fehlen europäischer Öffentlichkeit beantworten, wird durch folgende Überlegungen nahegelegt:
Ad 1. Müssen die nationalen Medien explizit anerkennen, daß externe Sprecher oder politische Akteure, die sich zu einem "nationalen" Thema - wie beispielsweise im Falle der Sanktionen gegen Österreich angesichts der Regierungsbeteiligung der FPÖ - zu Wort melden, als legitime Sprecher zu betrachten sind? Zweifellos ist eine explizte Anerkennung von Sprechern anderer Nationalität als legitime Sprecher ein Indikator für eine politische Gemeinschaftsidentität. Wir bezweifeln jedoch, daß dies ein Indikator für das Vorhandensein oder Fehlen kommunikativer Interaktion ist, denn Kommunikation kann verweigert werden. Wir können sie jederzeit abbrechen. Sobald jedoch kommuniziert wird, ist dem kommunikativen Handeln der Sprecher eine besondere Prämisse eingeschrieben: Wer mit Ja-/Nein-Stellungnahmen auf die durch einen anderen Sprecher erhobenen Wahrheits- und Geltungsansprüche reagiert, erkennt diesen Sprecher uno actu als legitimen Sprecher an.
Auch in nationalen Öffentlichkeiten gibt es rhetorische Versuche, bestimmte Sprecher auszugrenzen. Radikale Feministinnen bestreiten beispielsweise, daß "weiße Mittelschichtmänner" das Recht hätten, in Abtreibungsfragen zu entscheiden; Ostdeutsche bestreiten, daß Westdeutsche ihre Biographien angemessen beurteilen könnten; etablierte politische Akteure bestreiten gelegentlich neu entstehenden sozialen Bewegungen die Kompetenz, zu bestimmten Themen relevante Beiträge zu leisten. Wahrheits- und Geltungsansprüche können nun einmal bestritten werden. Öffentliche Kommunikation findet nicht erst dann statt, wenn darauf mit einer Ja-Stellungnahme reagiert wird, sondern sobald der Diskurs öffentlich ausgetragen wird.
Ad 2. Man kann allerdings nach Indikatoren suchen, in denen sich eine "besondere" wechselseitige Anerkennung ausdrückt. Ein solcher Indikator könnte wechselseitiges Zitieren sein. Stefan Tobler (2001; 2002) hat dies in einer transnationalen Medienanalyse über das Thema "schädlicher Steuerwettbewerb" erprobt und unter anderem festgestellt, daß britische Medien andere britische Medien siebenmal häufiger zitieren als beispielsweise deutsche und Schweizer Medien - aber griechische Medien zitieren sie möglicherweise gar nicht. Doch dieser Indikator erlaubt unserer Ansicht nach keine Unterscheidung zwischen "echter" und nur "scheinbarer (paralleler)" politischer Kommunikation im transnationalen Raum, sondern indiziert primär unterschiedliche Grade der Institutionalisierung gegenseitiger Anerkennung. Derartige Beobachtungen sagen etwas über die soziale Verteilung von Relevanzstrukturen aus.
Ungleiche soziale Verteilungen von Relevanzstrukturen finden wir auch in nationalen oder regionalen Räumen. Sie bezeugen den Grad der Inklusion von Adressaten politischer Kommunikation in einen politischen Kommunikationszusammenhang. Es steht zu vermuten, daß die mit dem Zitationsindex gemessenen Variationen der Relevanz mit den Issues variieren und daß mit der zunehmenden Transnationalisierung diese Varianz zunehmen wird. Je größer der Raum, um so mehr Varietät ist zu erwarten.
Marianne van de Steegs (2002) Studie zur Osterweiterung der EU und die an der Haider-Debatte (Risse 2002; Rauer u.a. 2002) gewonnenen Ergebnisse zur wechselseitigen Zitation von Medien unterschiedlicher Nationalität in Europa weisen darauf hin, daß in bezug auf andere Themen die Differenzen weniger dramatisch sind. Hans-Jörg Trenz (2002) stellte in seiner Analyse der Pressegerüchte um den Kommissionspräsidenten Romano Prodi sogar eine erstaunliche wechselseitige Bezugnahme zwischen belgischen, deutschen, französischen, italienischen und britischen Zeitungen fest. Es wäre deshalb genauer zu untersuchen, unter welchen Bedingungen auf transnationaler Ebene solche Quellen zu bestimmten Zeiten genannt oder aber verschwiegen werden.
Ad 3. Das Auftreten von Politikern, Intellektuellen und politischen Aktivisten anderer (europäischer) Nationalität in den nationalen Medien der EU-Mitgliedstaaten verweist auf eine gegenseitige Bezugnahme, die unter den Bedingungen einer im allgemeinen eher wenig personalisierten europäischen Politik stattfindet. Es gibt jedoch bislang keine Langzeitstudien darüber, ob in den letzten Jahren mehr oder weniger Sprecher aus anderen europäischen Ländern in den deutschen Medien zu Wort kamen als früher. Vielleicht wurde aber auch mehr (oder weniger) amerikanischen, asiatischen, arabischen und afrikanischen Sprechern Aufmerksamkeit zuteil als vor fünfzehn oder fünfzig Jahren? Wie auch immer man solche Differenzen erklären mag (ob mit historischen, journalistischen, medien-organisatorischen oder medien-ökonomischen Faktoren), sie setzen bereits voraus, daß es in den nationalen Arenen Sprecher gibt, die sich zu gemeinsamen europäischen Themen vor einem massenmedialen Publikum äußern. Darüber hinaus eignen sie sich zur Beantwortung der Frage nach der besonderen sozialen Strukturierung transnationaler Kommunikation.
Somit läßt sich festhalten, daß die drei vorgeschlagenen Indikatorentypen eine thematische Verschränkung der nationalen Medienarenen bereits voraussetzen. Gemeinsame europäische Probleme müssen bereits kommuniziert werden, damit die weiterführenden Indikatoren Anwendung finden können. Mehr oder weniger wechselseitiges Auftreten von Sprechern und mehr oder weniger wechselseitiges Zitieren von Zeitungen unterschiedlicher nationaler Herkunft zeigt nicht an, ob es sich hier um eine "echte" europäische Öffentlichkeit handelt, noch ist es möglich, aus dem Versagen dieser Indikatoren zu schließen, daß es keine europäische politische Kommunikation gäbe. Mehr noch, wenn wir diese Kriterien tatsächlich zum Lackmustest von Öffentlichkeit machen wollten, würde auch das Vorhandensein nationaler Öffentlichkeit fragwürdig werden.
Es hat jedoch keinen Sinn, an europäische Öffentlichkeit stärkere empirische Kriterien anzulegen als an nationale Öffentlichkeiten. Im nationalen Rahmen bezweifelt ja auch niemand, daß es eine Öffentlichkeit gibt, obwohl die Artikel der Leipziger Volkszeitung meist weder in der überregionalen Süddeutschen Zeitung noch in der hessischen Offenbach Post zitiert werden. Und genausowenig stört uns, daß in der Bundesrepublik nicht alle Ministerpräsidenten der Bundesländer, Lokal- und Landespolitiker im Zentrum der Medien stehen, sondern bestenfalls einige wenige, solange die Bürger sich in den Medien darüber informieren können, um welche politischen Fragen es in den Konflikten zwischen den Bundesländern geht.
Warum sollte es daher - unter der Voraussetzung, daß die Nachrichten darüber informieren, welche Fragen in Europa zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten strittig sind - beunruhigen, daß in den verschiedensprachigen Medien Europas portugiesische Sprecher de facto nur in Portugal vorkommen3 und nur wenige Politiker auch über Sprachgrenzen hinweg zitiert werden? Die thematische Verschränkung zwischen den verschiedenen medialen Arenen ist unserer Ansicht nach der beste Indikator für Interdiskursivität. Indem die Massenmedien, in ihrer jeweiligen sprachlichen, politischen, kulturellen oder subkulturellen Prägung, perspektivengebunden über gemeinsame politische Themen berichten und so die relevanten Argumente und Sichtweisen dargestellt werden, erhält ein anonymes Massenpublikum die Chance, mit Ja-/Nein-Stellungnahmen auf die Beiträge zu reagieren und sich eine Meinung zu bilden.
Öffentliche politische Kommunikation - sei sie im anonymen Massenpublikum noch so fragmentiert und noch so abstrakt über Prozesse medialer öffentlicher Kommunikation vermittelt - ist anzutreffen, wenn es den Bürgern möglich ist, zur gleichen Zeit zu gleichen Themen von gleicher Relevanz Stellung zu nehmen (Habermas 1996: 190).4 Wir folgen damit einem "Diskursbegriff der Demokratie", dem "das Bild einer dezentrierten Gesellschaft [entspricht], die allerdings mit der politischen Öffentlichkeit eine Arena für die Wahrnehmung, Identifizierung und Behandlung gesamtgesellschaftlicher Probleme ausdifferenziert. ... Das ‚Selbst‘ der sich selbst organisierenden Rechtsgemeinschaft verschwindet in den subjektlosen Kommunikationsformen, die den Fluß der diskursiven Meinungs- und Willensbildung so regulieren, daß ihre falliblen Ergebnisse die Vermutung der Vernünftigkeit für sich haben." (Ebd.: 291)
Ein gewisser Toleranzrahmen ist hier, ebenso wie bei nationalen Öffentlichkeiten, zuzugestehen. Denn manche Themen werden beispielsweise nur in marginalen Gruppen diskutiert. So war etwa die Ökologie lange Zeit ein ziemlich "exotisches" Thema, das nur die Ökologiebewegung interessierte, der es erst im Laufe vieler Jahre gelang, "ihr Thema" auf die Agenda einer breiten Öffentlichkeit zu setzen (vgl. Eder 1995; Rucht 1988; 1996). Und viele Bürger scheinen sich aus ganz unterschiedlichen Gründen für bestimmte Themen nicht zu interessieren, obwohl sie davon betroffen sind.5 Es ist generell außerordentlich schwierig, Themen dauerhaft auf der massenmedialen Agenda zu halten.6
Indikatoren wie gegenseitige Anerkennung als legitime Sprecher, wechselseitige Zitation (Arenenreferentialität) und reziproke Resonanz auf die Sprecher-Ensembles der massenmedialen Arenen anderer europäischer Nationen setzen die thematische Verschränkung der unterschiedlichen Arenen politischer Kommunikation voraus. Sie messen darüber hinausweisende Strukturierungsprozesse wie die Personalisierung politischer Kommunikation oder strategische Aspekte wie die Herausbildung von Diskurskoalitionen im transnationalen Kommunikationsraum. Damit rückt eine weitere Ebene der Analyse ins Blickfeld, nämlich die Frage, welche Strukturen sich im europäischen Kommunikationsraum ausbilden.

Die Strukturierung transnationaler Interdiskursivität

Die thematische Verschränkung der Arenen öffentlicher politischer Kommunikation liefert ein kognitives Kriterium für das Bestehen politischer Kommunikation. Im europäischen Kommunikationsraum setzen allerdings Prozesse der Eigenstrukturierung ein, die historische und normative Spezifika erzeugen, welche wiederum kollektive Identitätsbildungsprozesse prägen.
Das Besondere europäischer Öffentlichkeit ist vermutlich die eigentümliche Form der Herstellung einer kollektiven Identität der in diesem Kommunikationsraum handelnden Akteure. Europa kann an keine ungebrochene Tradition anknüpfen - kollektive Identität entsteht uno actu mit der Ausdehnung politischer Kommunikation. Dabei muß, was als kollektive Identität gelten soll, erst hergestellt werden. Dies gilt vor allem dort, wo überlieferte Identitäten pluralisiert und damit verfügbar werden. Diese nicht erst a posteriori festgestellte "soziale Konstruktion kollektiver Identität"7 ist an eine besondere Reflexionsleistung gebunden, die selber öffentlich diskutiert wird. Wenn kollektive Identität das Produkt öffentlicher Debatten ist, setzt kollektive Identität notwendig einen öffentlichen Kommunikationszusammenhang voraus.
Das Ergebnis dieser öffentlichen Konstruktion kollektiver Identität ist von weiteren Bedingungen abhängig. Die Erfahrung der USA zeigt, daß dasjenige, was dann als kollektive Identität gilt, selbst wieder jenen selbstverständlichen Charakter einer vor aller Diskussion bereits existierenden kollektiven Identität annehmen kann, der durch Selbst- und Fremdwahrnehmungen (insbesondere negativer Art) eine tiefe affektive Stabilität erfahren kann.
In Europa ist angesichts der Erfahrung mit nationalen Identitätskonstruktionen dieser Weg nicht zu erwarten, bricht doch die Erinnerung an nationale Identität die Selbstverständlichkeit und macht sie zu einer Option neben anderen. Deshalb wird es um postnationale kollektive Identitäten gehen, die ihrerseits nicht mehr mit Attributen wie gemeinsame Sprache, gemeinsame Herkunft oder gemeinsame Geschichte aufgefüllt werden können. Dazu sind die Sprachen, die Herkünfte und die Geschichten zu vielfältig. Die Gemeinsamkeit eines sich politisch konstituierenden Gemeinwesens jenseits des Nationalstaats besteht zunächst in der bloßen Verknüpfung vorhandener Gemeinsamkeiten in der sich auf transnationaler Ebene ausbildenden Interdiskursivität. Dies ist nicht substantielle Gemeinsamkeit im Sinne der Nation, sondern eine besondere Form von Gemeinsamkeit. Das Ergebnis solcher interdiskursiv begründeter Handlungszusammenhänge ist ein Selbstbild dieses Zusammenhangs, dessen Eigenschaften in der Praxis laufender politischer Kommunikation sichtbar werden. Die im Zuge der Nationenbildung praktizierte Strategie der Eintrichterung einer kollektiven Identität von oben durch Militär, Schule und gewalttätige "Kulturpolitik" wird in interdiskursiven Zusammenhängen obsolet - kollektive Identität ist an die kommunikative Aushandlung eines "Gemeinsamen" gebunden.

Die historische Spezifik europäischer Öffentlichkeit

Die Analyse europäischer Öffentlichkeit muß ihre methodischen Instrumente wie ihre analytischen Begriffe auf deren Spezifik abstimmen. Die Differenz von nationaler und transnationaler Öffentlichkeit macht nicht nur den "Vergleich" schwierig und zu einem diffizilen Verfahren des Vergleichenss von in vielen Hinsichten Nicht-Vergleichbarem. Sie macht auch das analytische Geschäft der Beschreibung transnationaler Öffentlichkeit als "Verlängerung" nationaler Öffentlichkeit komplizierter, da einige der stabilen Parameter nationaler Öffentlichkeiten selber variabel geworden sind. Diese Besonderheiten ergeben sich vor allem in der Zeitdimension: sie sind historischer Natur.
So ist die Erkämpfung eines öffentlichen Raums durch Protest gegen Zensurgesetzgebung (d.h. die klassische Konstellation der Formierung politischer Öffentlichkeit) in der gegenwärtig laufenden Konstruktion Europas nicht zu erwarten. Es geht vielmehr um eine Selbstkonstitution politischer Öffentlichkeit nicht mehr gegen die, sondern in den Institutionen. In Europa gibt es responsive Institutionen - ein neuartiger Kontext für die Formierung politischer Öffentlichkeit. Und Europa besitzt einen öffentlichen Raum, der immer wieder ins Schwingen kommt. Dieses Schwingen gehört zur "Erbmasse" des Nationalstaats in Europa: die Staatsbürger der europäischen Nationalstaaten können auf eine Tradition des Protests und der Kritik des Staates zurückgreifen, können also in Europa einen eingeübten politischen Habitus mobilisieren. Dieser bleibt aber latent, artikuliert sich zuerst auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene, bevor er die transnationale Ebene erreicht. Deshalb ist zu erwarten, daß transnationale Ereignisse politischer Kommunikation analog zur Dichte institutionalisierter Partizipationschancen im europäischen Mehrebenensystem zunächst selten sind.

Die normative Spezifik politischer Öffentlichkeit

In der veränderten historischen Situation Europas wird es möglich, besondere normative Ansprüche an politische Öffentlichkeit zu formulieren. Politische Öffentlichkeit haben wir dann, wenn in kritischen Momenten die Macht argumentativer Rede wirksam werden kann. Politische Kommunikation ist "normalerweise" Routinekommunikation. "Normal" ist die regelmäßig stattfindende Begleitkommunikation zu lokalen, nationalen und transnationalen Themen. Politische Kommunikation verläßt diesen Normalzustand in exzeptionellen Momenten, ist Krisenkommunikation. Ein kollektiver Wille wird dann geformt, wenn diese Routinekommunikation unterbrochen und politisches Handeln mit besonderen Rechtfertigungs- oder Erklärungsanforderungen verbunden wird. Diese Funktion politischer Kommunikation, zur rechten Zeit eine Öffentlichkeit bereitzustellen, wird nicht mehr von außen erzwungen. Politische Öffentlichkeit muß sich selbst in Interaktion mit den Institutionen herstellen.
Der Input in öffentliche Kommunikation ist die Thematisierung von Ereignissen. Hier haben wir es zunächst mit Routinekommunikation zu tun, mit der täglichen Berichterstattung. Wie oft Europa oder die anderen in Europa vorkommen, ist ein Indikator für die Normalität von Kommunikation. Dabei kann man erwarten, daß solche Routinekommunikation weniger wird, je weiter sie vom lokalen Ereignis entfernt ist. Daß ein Zugunglück in Portugal die schwedische Presse interessiert, ist kaum zu erwarten. Wenn es das tut, kommen besondere Bedingungen hinzu.
Die Unterbrechungen von Routinekommunikation sind es, die Rückschlüsse auf gemeinsame relevante Themen zulassen. Es bedarf erregender Ereignisse, die besonderen Nachrichtenwert haben. In Europa gibt es immer wieder solche Ereignisse: Referenden gegen Europa, Haider, Nizza, "blaue Briefe". Darüber hinaus finden sich professionelle Erregungserzeuger, professionelle Advokaten privater und öffentlicher Interessen, die eine dramatisierende Rahmung formulieren, Siege und Niederlagen bezeichnen, Konfliktlinien herausarbeiten oder einfach das Gute gegen das Schlechte ausspielen.
Dieser Typus von Input-Organisation in das öffentliche Kommunikationssystem kennzeichnet nicht nur Veränderungsprozesse nationaler Öffentlichkeiten, sondern bestimmt die Konstitutionsbedingungen transnationaler Öffentlichkeit. Diese bewährt sich in ihrer Funktion der Unterbrechung lokaler oder nationaler Routinekommunikation.
Der Throughput öffentlicher Kommunikation wird von zwei Faktoren bestimmt: Journalisten und Medien. Sie verfügen über die sprachlichen Kommunikationsmittel, mit deren Hilfe ein Publikum erreicht werden kann. Dabei ergeben sich für ein transnationales Publikum graduelle Besonderheiten.8 Zunächst braucht man genügend Journalisten, die sich auf transnationale Themen spezialisieren. Die professionelle Ausbildung von Journalisten und deren Karrieremuster scheint sich langsam, aber stetig, auf die Bedingungen von Transnationalität einzustellen. Braucht es auch transnationale Medien? Dies ist eher eine Frage der politischen Ökonomie des Mediensektors. Die mediale Verstärkung folgt in der Regel nur partiell sprachlichen oder politischen Grenzen. Die Grenzziehung medialer Märkte folgt anderen Logiken als die politische oder nationale Grenzziehung.
Zu erwarten sind eine besondere "transnationale" Professionalisierung des Journalismus sowie eine von politischer Integration abgekoppelte ökonomische Differenzierung der Medienlandschaft. Diese Prozesse lassen sich am Fall der Bildung einer europäischen Öffentlichkeit gut beobachten. So gibt es inzwischen bei der Europäischen Kommission mehr akkreditierte Journalisten als beim Weißen Haus. Ein europäisches öffentlich-rechtliches Fernsehen (arte, Phoenix etc.) unterläuft sprachliche und politische Grenzen; das private Fernsehen in Europa unterläuft nationale Grenzen sowohl durch Lokalisierung (lokalisierte Mediennutzung, die über Pay-TV hergestellt wird) wie durch transnationale Medienorganisationen. Europa ist somit ein besonderer Fall der Restrukturierung des Throughputs von Themen in transnationalen Öffentlichkeiten.
Der Output medialer Kommunikation entscheidet über den Zustand einer Öffentlichkeit. Bildet sich ein gemeinsames Problembewußtsein, gar ein gemeinsamer kollektiver Wille, der in der Lage ist, Institutionen unter Handlungs- und Rechtfertigungsdruck zu setzen? Wenn die Institutionen selbst Teil der Öffentlichkeit werden, verändern sich die Spielregeln für die Erzeugung von Handlungs- und Rechtfertigungsdruck. In dem Maße, wie wir es in transnationalen Räumen mit vielen Volkswillen (im Plural) zu tun haben, wird die Herstellung von politischen Entscheidungen zum Problem. Wenn Entscheidungen gefällt werden müssen, wird die Koordination sich widersprechender Stimmen zum Konstituens eines kollektiven Willens.
Europa ist kein kakophoner Raum, sondern ein Raum des Experimentierens mit koordiniertem Dissens. In der "postnationalen Konstellation" ist die Herstellung politisch bindender Entscheidungen an Verfahren gebunden, in denen der öffentlichen Kommunikation die besondere Rolle der periodischen Rückkopplung durch Aufmerksamkeitserregung zukommt. Europa erweist sich als ein Fall der Herstellung eines kollektiven Willens, der die Form einer an ein Staatsvolk gebundenen nationalen Willensbildung unterläuft.

Schlußfolgerungen

Das Vorhandensein öffentlicher politischer Kommunikation über europäische Themen und die Ausweitung des nationalen Problemhorizonts auf Europa läßt sich daran messen, ob die gleichen europäischen und europäisierten Themen in Europa im großen und ganzen zur gleichen Zeit und unter gleichen inhaltlichen Relevanzgesichtspunkten in den Medien diskutiert werden.9 Eine europäische massenmediale Agenda und der Vergleich der Meinungen und Deutungsmuster zu den Themen dieser Agenda sind die grundlegenden Indikatoren für das Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein öffentlicher politischer Kommunikation über nationale Grenzen hinweg.
Indikatoren wie wechselseitige Anerkennung als legitime Sprecher, Interaktion, reziproke Resonanz und Arenenreferentialität eröffnen Möglichkeiten, die sozialen Strukturen des öffentlichen Raums, die Intensität der Auseinandersetzungen, die Ausdifferenzierung von politischen Lagern und transnationale Identitätsbildungsprozesse im transnationalen Raum empirisch zu untersuchen. All dies setzt eines bereits voraus: europäische Themen als relevante Gegenstände politischer Kommunikation in den lokalen, regionalen und nationalen öffentlichen Arenen.
Unser Resümee lautet: Ein öffentlicher Raum existiert bereits in Europa, und wir können erste Formen seiner besonderen Strukturierung beobachten. Der Input ist bunt, abhängig von skandalisierenden Ereignissen und ihrer rhetorischen Inszenierung durch Sprecher. Der Throughput wird in besonderen Formen gegenseitiger Bezugnahme, etwa von Arenenreferentialität, organisiert. Der Output besteht in der Herstellung eines "Wir", das keine Einheitsformeln mehr braucht, sondern sich seines Fehlens bewußt ist und dieses einklagt, ein "kontrafaktisches" Wir. In der Europäischen Union entsteht im Schatten der nationalen Öffentlichkeiten eine transnationale Öffentlichkeit. Das Modell der national geschlossenen Öffentlichkeit reicht nicht mehr hin, die Phänomene transnationaler politischer Massenkommunikation zu verstehen und ihre Dynamik zu erklären. Die theoretische und empirische Erkundung dieses Forschungsfeldes hat allerdings gerade erst begonnen.

Anmerkungen

1 Ausführlicher zu den drei Ebenen öffentlicher politischer Kommunikation vgl. Gerhards/Neidhardt 1991: 50-55.
2 Andere Autoren hatten bestritten, daß in einer solchermaßen europäisierten Öffentlichkeit tatsächlich in den verschiedenen Arenen ein Diskurs stattfindet (Gerhards 1993).
3 Es gibt eine interessante Ausnahme von diesem Befund: Die Ratspräsidentschaft und nationale Wahlen in einem Mitgliedstaat scheinen in der Presse anderer EU-Staaten für kurze Zeit eine recht lebhafte Berichterstattung über dieses Land anzuregen. Nationale Politiker werden in der Europäischen Union immer dann jenseits ihrer nationalen Grenzen interessant, wenn sie auf europäischer Ebene wirksam werden.
4 Unter gleichen "Relevanzgesichtspunkten" verstehen wir dabei keine in einer europäischen kollektiven Identität gründende "europäische" Perspektive, sondern übereinstimmende Problemdeutungen zu einem Thema bei durchaus kontroversen Meinungen dazu.
5 Viele von Aktivisten, Experten oder Politikern für wichtig erachtete Probleme bleiben als Themen der politischen Massenkommunikation latent, ohne die öffentliche Wahrnehmungsschwelle zu erreichen.
6 Viele solcher Themen gelten als zu kompliziert und als defizitär in puncto Nachrichtenwert, um für ein breites Publikum griffig zu sein. Nachrichtenwerte sind mediales Interesse stimulierende Eigenschaften von Themen und Ereignissen wie Neuigkeit, Personalisierung, Konflikt, Dramatik und Moralisierung.
7 Dies ist die implizite Annahme konstruktivistischer Theorien kollektiver Identität wie etwa Andersons' berühmte Formel der "Erfindung der Nation".
8 Dieses Argument ist gegen die vielen Mißverständnisse und falschen Problemstellungen gerichtet, die die Debatte um europäische Öffentlichkeit für lange Zeit gekennzeichnet haben.
9 Auch der Metadiskurs über die angemessenen Relevanzgesichtspunkte, in dem die jeweils anzulegenden Geltungsansprüche verhandelt werden, zählt dazu. Denn im Diskurs muß - wenn dies strittig ist - auch geklärt werden, ob ein Problem Fragen der normativen Angemessenheit (ethisch oder moralisch) oder Fragen der sachlichen Wahrheit oder aber Fragen der Authentizität berührt.

Literatur

Eder, Klaus (1995). Die Institutionalisierung sozialer Bewegungen. Zur Beschleunigung von Wandlungsprozessen in fortgeschrittenen Industriegesellschaften. In: Hans-Peter Müller & Michael Schmid (Hg.), Sozialer Wandel. Modellbildung und theoretische Ansätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 267-290.
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Prof. Dr. Klaus Eder, Soziologe, Humboldt-Universität zu Berlin
Dr. Cathleen Kantner, Sozialwissenschaftlerin, Humboldt

aus: Berliner Debatte INITIAL 13 (2002) 5/6 S. 79-88