Gegenöffentlichkeit

Entwicklung und Bedeutung des Begriffs "Gegenöffentlichkeit"

E: counter-public

1. Die Vorstellung von G beinhaltet eine Kritik herrschender Öffentlichkeit und eine Zurückweisung der bürgerlich-liberalen Auffassung, Öffentlichkeit als allgemeine, vernünftige Verhandlung sei gleichbedeutend mit Herrschaftsfreiheit, und dies sei in den politischen Formen der liberalen Demokratie gewährleistet. G entsteht, wo die festgesetzten, ungeschriebenen oder faktischen Regeln herrschender Öffentlichkeit überschritten werden, um sagbar zu machen, was in der herrschenden Öffentlichkeit nicht sagbar ist, oder was dort >durch die Form ..., was die Verwendbarkeit betrifft, neutralisiert< ist (Brecht 1926, 20).

Obwohl der Begriff G einen spezifischen historischen Ort hat - er tritt erstmals in den späten 60er und frühen 70er Jahren des 20.Jahrhunderts auf - hat G immer schon stattgefunden und besitzt eine eigenständige Geschichte und Problematik. G bezeichnet in erster Linie eine Politik, eine soziale Praxis mit emanzipativen Zielen. Sie kann in der gezielten Einwirkung auf die bestehende Öffentlichkeit bestehen, um sie für andere Botschaften und Inhalte zu öffnen; in der Dekonstruktion herrschender Öffentlichkeit, das heißt ihrer gezielten Störung, Demaskierung oder Delegitimierung; oder in der Konstruktion einer anderen, zur herrschenden oppositionellen Öffentlichkeit. In zweiter Linie bezeichnet G auch einen Kreis von Akteuren und Rezipienten, das heißt eine nicht mit der herrschenden übereinstimmende andere Öffentlichkeit (in diesem Sinne wird z.B. über >the feminist counterpublic sphere< gesprochen (Fraser 1998, 332), über >unions as counter-public spheres< (Aranowitz 2000)); manchmal wird G auch mit einem bestimmten sozialen Raum identifiziert (die ^Straße^, ^Nischengesellschaft^). Häufig wird unterschieden zwischen G als >eigener Öffentlichkeit< und >alternativer Öffentlichkeit<, in Analogie zur Typologie von >eigenen Medien<, die der inneren Kommunikation z.B. einer sozialen Bewegung dienen, und >alternativen Medien<, die sich der etablierten Öffentlichkeit als Alternative anbieten und ihren Formen daher strukturell ähnlicher sind (Lovink 1992).

G ist allerdings nicht vorrangig eine Frage von Medien. Sie hat nicht ausschließlich mit Texten zu tun, sie muss nicht mit spezifischen Instrumenten verbunden sein und sich nicht notwendig an der Ebene allgemeiner politischer Entscheidungsfindungen abarbeiten. Zur G gehören ebenso kulturelle Praxisformen, Kleidung, Musik, Kunst. Der Zettel am schwarzen Brett oder die Wandzeitung können genauso dazu gehören wie Rap, Graffiti oder verunstaltete Wahlplakate.

G ist wesentlich auch eine spontane soziale Praxis. In diesem Sinne kann das Flurgespräch G sein zum verregelten Diskussions- und Repräsentationsprozess im Saal; die Kantine oder die Kneipe G zur repressiven Öffentlichkeit am Arbeitsplatz; Frauenräume G zur patriarchalen Öffentlichkeit in Familie, Arbeit und Politik. G beginnt mit der Erfahrung, sich mit seinem Anliegen in der vorfindlichen Öffentlichkeit nicht äußern zu können, nicht frei äußern zu können, oder mit seiner Stimme keinen Einfluß zu haben; sie besteht in der Konsequenz, die Regeln dieser Öffentlichkeit brechen zu müssen, um wahrgenommen zu werden oder sich austauschen zu können. G zielt immer auf eine kollektive Praxis. Sie schafft eine andere Öffentlichkeit, aber sie beansprucht gleichzeitig, gegen die Herrschaftswirkung der vorfindlichen Öffentlichkeit zu arbeiten. Es ist dieser Anspruch, der einer immer wieder zu erneuernden kritischen Überprüfung standzuhalten hat.

2. Die vorindustrielle Gesellschaft, in der politische Zentralmacht und kulturelle Eliten den Lebensalltag weit weniger durchdringen und strukturieren konnten als in der industriellen Gesellschaft, kannte vielfältige Parallelöffentlichkeiten, die Funktionen von Gegenöffentlichkeit übernehmen konnten. Als materielle Voraussetzung für die Herausbildung von G spielte physische Mobilität eine große Rolle; für die Sklavenaufstände der Antike war z.B. bedeutsam, dass Sklaven als Boten weit herumkamen. Neben die mündliche Verbreitung von Texten, von der Prophetie über Spottlieder bis zum working song, traten seit der Einführung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern neue Formen wie Flugschrift und Plakat.

Auch bürgerliche Öffentlichkeit konstituiert sich zunächst als G zur feudalen Öffentlichkeit. Die Spezifik bürgerlicher Öffentlichkeit liegt darin, dass sie in hohem Maße anonymisiert, repräsentativ, formalisiert und verschriftlicht ist und dass sie zur zentralen Legitimation staatlicher Ordnung wird: Öffentlichkeit, als Medium vernunftgeleiteter Auseinandersetzung, verbürge Herrschaftsfreiheit. An die Stelle multipler Öffentlichkeiten tritt jetzt das Projekt der einen Öffentlichkeit, deren totaler Charakter nur dadurch begrenzt sein soll, dass ihm weite gesellschaftliche Bereiche - Familie, Produktion, Alltagsleben - als >privat< entzogen sind. Das >Private< ist dabei nicht nur vom Zugriff der allgemeinen Öffentlichkeit abgeschottet, es ist auch selbst keine Öffentlichkeit: hier wird nicht verhandelt. Diese spezifische Struktur von >öffentlich< und >privat< bringt den Klassencharakter und die patriarchale, rassistische und imperiale Funktion bürgerlicher Öffentlichkeit zum Ausdruck; dies gilt auch für die favoritisierten Formen der öffentlichen Artikulation und Repräsentation, die vorzugsweise dem bürgerlich-männlichen ^autonomen^ Individuum zugänglich sind.

Ungeachtet ihrer Selbsteinschätzung steht auch bürgerliche Öffentlichkeit inmitten eines Universums von höchst dynamischen G.en. Mit der Durchsetzung des industriellen Kapitalismus entwickelt sich eine breite und vielgestaltige proletarische G. Sie umfasst nicht nur politisch explizite Kritik und Abweichung, sondern auch Formen des Festhaltens und Auslebens von Wünschen, Sehnsüchten und Begehren, die von der bürgerlichen Öffentlichkeit negiert werden. Die entstehende proletarische ^Massenkultur^ mit ihren Romanen, Heften, später auch Filmen ist G zur bürgerlichen Öffentlichkeit, ebenso die vielfältigen traditionellen und neuen Verkehrsformen proletarischen Alltags, in denen Selbstauffassung, Lebensphilosophie, Arbeitsbegriff, Sexualität etc. verhandelt werden. Das Verhältnis der organisierten Arbeiterbewegung zu diesen Aspekten proletarischer G war zwiespältig, da sie häufig nicht ^politisch korrekt^ in ihrem Sinne waren. Gleichzeitig zeigte sich bereits hier, dass das kapitalistische Profitstreben G.en entdeckt und bedient, die von der bürgerlichen Gesellschaft negiert werden, diese G.en damit aber auch formt und partiell kontrolliert.

Mit der Durchsetzung des industriellen Kapitalismus entwickeln sich weltweit auch anti-bürgerliche G.en, die künstlerisch-kulturell codiert sind und den Kategorien, der Legitimität und den politischen Konsequenzen bürgerlicher Öffentlichkeit radikal widersprechen, wie etwa Dada oder der Surrealismus. Auch hier ist das Verhältnis zur G der politischen Linken ambivalent, und auch hier finden Integrationsprozesse durch kapitalistische Verwertung statt.

3. Die sozialen und technischen Umwälzungen zu Beginn des 20.Jahrhunderts rufen in den 20er und 30er Jahren eine Debatte hervor, welche Potenziale für emanzipative oder repressive Öffentlichkeit durch diese Transformation freigesetzt werden. Sergej Tretjakov kritisierte die Vorstellung, proletarische Öffentlichkeitsarbeit müsse eine Art Erziehungarbeit für die Massen sein, und forderte eine Aufhebung der Spaltung in kulturell-intellektuelle Produzenten und passive Konsumenten, die >Einbeziehung der Massen in jenen Prozess des ^Schaffens^, den bis jetzt Einzelgänger ^zelebrierten^< (Tretjakov 1972, zit.n.Oy 2001). Bert Brecht und Walter Benjamin bezogen sich zustimmend auf Tretjakov und proklamierten die Nutzbarkeit neuer Medien und neuer technischer Möglichkeiten für derartige Konzepte, etwa des Radios (Brecht) oder der Reproduktionstechnik (Benjamin).

Alle diese Ansätze setzen einen gewisse Sympathie für Form und Inhalte moderner Massenkultur und Alltagskultur voraus. Im radikalen Gegensatz dazu argumentieren, bereits unter dem Eindruck der faschistischen Machtübernahme in Italien und Deutschland, Adorno und Horkheimer. Verwertungsinteresse, Massenkultur und Manipulation werden von ihnen im Begriff der >Kulturindustrie< gebündelt. Dabei geht es keineswegs nur um Kultur, sondern um die Gesamtheit einer totalitären Öffentlichkeit bereits vor dem Faschismus. Die Reklame hat die proletarische Öffentlichkeit längst eingeholt, wie Adorno am Beispiel eines Bier-Werbeplakats ausführt. Das Plakat reproduziert eine Backsteinmauer, auf die von Hand eine Parole geschrieben ist, und die Parole lautet: >What we want is Watney's.< Die Massen >brauchen und verlangen das, was ihnen aufgeschwatzt wird< (Adorno 1938, 342); das Vergnügen über Donald Duck, der wieder einmal Prügel bezieht, ist der verallgemeinerte Vorschein des Vergnügens, mit dem die Faschisten ihre hilflosen Opfer misshandeln (Horkheimer 1941, 296). Kritische Öffentlichkeit könne sich dementsprechend in keiner Weise der Mittel und Bilder bedienen, die von der Kulturindustrie verbreitet werden, sondern könne nur in der Verweigerung liegen, im nicht-Konsumierbaren, in der Vorführung der den Verhältnissen innewohnenden >Katastrophik<.

4. Der Begriff G wird in Deutschland in den späten 60er Jahren durch SDS und APO eingeführt. (Stamm 1988) Einerseits verstand die Protestbewegung ihre politische Praxis selbst als G. Da die Protestbewegung ihrer eigenen Auffassung nach nicht selbst die Revolution machen konnte, waren ihre Aktionen wesentlich auf die Mobilisierung breiterer Kreise und den Bruch des herrschenden Meinungsmonopols gerichtet. Gleichzeitig beschäftigte sie sich besonders mit den materiellen Voraussetzungen dieses Meinungsmonopols, etwa in der >Enteignet Springer<-Kampagne: >Es kommt darauf an, eine aufklärende Gegenöffentlichkeit zu schaffen, die Diktatur der Manipulateure muss gebrochen werden.< (SDS, >Resolution zum Kampf gegen Manipulation und für die Demokratisierung der Öffentlichkeit<, 1967, zit.n.Oy 2001, 126) Die Umwandlung der >Institutionen der öffentlichen Meinungsbildung< sollte vorrangig betrieben werden; Entflechtung, >Abschaffung der Konsumpropaganda und ihr Ersatz durch sachgerechte Verbraucherinformation<, Recht auf Selbstartikulation für jede >relevante und demokratische Gruppe< wurden gefordert (ebenda, zit.n.Oy 2001,125).

Neben dieser traditionell-aufklärerischen Vorstellung von G, die auf rationale Information statt ^Manipulation^ abzielte, existierten in SDS und APO auch Vorstellungen von G, die an die Praxisformen der französischen Situationisten anknüpften. Die Gruppe Spur, später Subversive Aktion, inszenierte Aktionen, die nicht informieren, sondern bewußt schockieren und die Konformität des Alltags durchbrechen sollten. Ihr Einfluss auf die Protestbewegung findet sich in der insbesondere von Dutschke formulierten Politik der >begrenzten Regelverletzung<, in Aktionsformen wie Sit-ins und Teach-ins. In dieser Tradition von Gegenöffentlichkeit standen auch Aktionen der Kommune 1, wie der legendäre Burn Warenhaus Burn-Text, der >den Bürgern das unmittelbare Vietnamgefühl< vermitteln sollte (Langer 1999).

Gerade im Zuge der Entwicklung von G, der Verbreitung von Protestformen und alternativen Medien, wird jedoch deren gesellschaftsverändernde Wirkung als begrenzt erfahren. Der strukturelle Vorsprung, den herrschende Öffentlichkeit vor G hat, wird tiefer begriffen als nur in der Überlegenheit der Geld- und Machtmittel. Das ist das Grundthema von Oskar Negt und Alexander Kluge in Öffentlichkeit und Erfahrung. Negt/Kluge stellen die parallele Existenz von >bürgerlicher< und >proletarischer Öffentlichkeit< in den Mittelpunkt. Bürgerliche Öffentlichkeit nehme im entwickelten Kapitalismus den Charakter von >Produktionsöffentlichkeit< an (d.h. einer eigenständig produzierten Öffentlichkeit auf der Basis von Massenmedien, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit der Mächtigen), deren Herrschaftsfunktion vor allem darin bestehe, proletarische Öffentlichkeit - als Organisationsform von kollektiver Erfahrung - zu zerstören. In der Produktionsöffentlichkeit könne sich aber proletarische Öffentlichkeit vor allem deshalb nicht wiederfinden, weil die Unterdrückten selbst kein Interesse an einer realistischen Darstellung ihrer Lage und Erfahrungen hätten: solange ihnen keine Handlungsmöglichkeiten angeboten würden, wie sie diese Lage verändern könnten, könne sie Realismus nur deprimieren.

Öffentlichkeit und Erfahrung ist auch eine Erwiderung auf die These von Jürgen Habermas in Strukturwandel der Öffentlichkeit, die Industrialisierung und Vermachtung von Öffentlichkeit im Kapitalismus zerstöre die bürgerliche Öffentlichkeit, weil sie die Trennung von Interesse und Argument untergrabe und damit die ursprüngliche Funktion bürgerlicher Öffentlichkeit auflöse, nämlich die, eine rationale, allgemein zugängliche Debatte über gesellschaftliche Entscheidungen zu organisieren. Nach Negt/Kluge ist dies eine Romantisierung bürgerlicher Öffentlichkeit; die kapitalistische >Produktionsöffentlichkeit< zerstört bürgerliche Öffentlichkeit nicht, sondern ist Ausdruck ihrer Hegemonie.

5. Die verschiedenen sozialen Emanzipationsbewegungen (feministische Bewegung, schwarze Befreiungsbewegung u.a.) und die thematisch orientierten Neuen Sozialen Bewegungen (Friedensbewegung, Solidaritätsbewegung, Anti-Atom-Bewegung usw.) entwickelten in den 70er und 80er Jahren eine reiche Struktur von alternativen Medien, Praxisformen und Orten von G. Die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und G wurden durchlässiger. Informationen und Themen der sozialen Bewegungen fanden Eingang in die etablierte Öffentlichkeit, kulturelle ProduzentInnen erkämpften sich mehr Einfluss auf ihre Produktionsbedingungen. Die Demokratisierung der Medien fand in Form von Talkshows statt. Interaktive Medien wurden selbstverständlicher Bestandteil der Kommunikation.

Mit Beginn der 90er Jahre geriet G jedoch in eine Krise. Durch das Ende des Staatssozialismus und die neoliberale Globalisierung wurde die Hegemonie bürgerlicher Öffentlichkeit gestärkt und systemkritische Positionen marginalisiert. In politischen Schlüsselfragen (z.B. Golfkrieg/Neue Weltordnung, Ökologie/Nachhaltigkeit) integrierte der herrschende Konsens weite Teile ehemaliger G. Rückwirkend stellte sich die Frage, inwiefern die G der 70er und 80er Jahre zur Erneuerung einer liberal-bürgerlichen Öffentlichkeit beigetragen hatte und inwiefern die herrschende Öffentlichkeit sich gerade über die ständige Integration von G und Subkultur stabilisiert.

In der Theorie-Entwicklung zu G wurden Cultural Studies, Diskurstheorie und >Pop-diskurs< rezipiert. Nach Hall vermittelt die herrschende Öffentlichkeit nicht (mehr) vorrangig über die Auswahl von Fakten (oder über die Unterdrückung von Nachrichten) eine bestimmte Interpretation von Ereignissen und Zusammenhängen, sondern über die >strukturierte Vermittlung von Erfahrung< (1989). Häufig wird auch von >Codes< gesprochen. So bedient ^Aufklärungsjournalismus^, der z.B. Machenschaften eines Konzerns oder einer Regierung aufdeckt, gleichzeitig den Code von der Selbstregulierungskraft der Demokratie und der freien Medien und wirkt gesellschaftlich affirmativ. Akzeptanz für umstrittene Technologien wird nicht durch Ausgrenzung von G erzielt, sondern durch ihre Integration in den Code ^kritische öffentliche Diskussion^. - Nach Foucault wird Öffentlichkeit durch >Diskurse< strukturiert, durch spezifische Formulierungen von Problemen und Fragen, die ihre (sytemkonforme) Antwort bereits in sich tragen und machtförmig durchgesetzt werden. In den Herrschaftsdiskursen der 90er Jahre werden z.B. traditionelle Gegen-Informationen über Missstände (Menschenrechte, Elend, Umweltzerstörung) nicht mehr bestritten, sondern zum Anlass genommen, erweiterte Handlungsermächtigungen für Regierungen und Konzerne zu fordern, die sich durch weltweites Eingreifen um die Probleme ^kümmern^. - Die pop-theoretische Auseinandersetzung betont dagegen die Grenzen herrschender Öffentlichkeit insbesondere auf kulturellem Gebiet. Kulturelle Produkte tragen ihre ^Bedeutung^ nicht in sich; welche Erfahrungen und Inhalte sie repräsentieren, ist das Ergebnis einer sozialen Zuschreibung. Industriell produzierte Massenkultur kann, genauso wenig wie Firmen-Marken, nicht garantieren, für welche Bedeutungen sie von den Rezipienten verwendet wird, während sie umgekehrt auf deren Bedürfnisse und Wünsche eingehen muss. Anstatt bürgerliche Kriterien und Abwehrhaltungen gegen Moderne, Massenkultur, ^Amerikanisierung^ und Demokratisierung zu reproduzieren, muss G die widersprüchlichen Prozesse von Massenkultur und Repräsentation studieren und an den darin auch artikulierten Erfahrungen und kritischen Haltungen anknüpfen.

In der Praxis von G fand eine Hinwendung zu Formen statt, die nicht vorrangig inhaltliche Orientierungen propagieren, sondern darauf abzielen den herrschenden Konsens aufzubrechen, lächerlich zu machen oder ironisch zu unterlaufen, und die nicht so leicht in den herrschenden Diskurs integrierbar sind (Tortenwerfen, Faken, Imageverschmutzung, culture jamming usw.). Für diese Formen wurde der Begriff >Kommunikationsguerilla< geprägt (autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe 1999). - Eine andere Konsequenz war die Kulturalisierung von G. Dabei werden zum einen Grenzen zwischen künstlerischer und politischer Szene überschritten (Wohlfahrtsausschüsse, neues Interesse an ^Agitprop^, neue Zeitungsprojekte), oder es wird versucht, die vorhandenen bildmächtigen Kulturprodukte subversiv umzudeuten und in andere Richtung weiterzuspinnen (>Transfiction<, Bo'Brien 2001). - Eine dritte Richtung ist das praktische Ausloten der Möglichkeiten der Neuen Medien für eine emanzipative G (E-zines wie Com-un-farce) oder für eine globale ^Vernetzung von unten^ (Indymedia).

In der Phase politischer Neuorientierung nach 1989/90, die noch andauert, erwiesen sich ferner ^klassische^ Formen von G (z.B. Zeitungsprojekte) häufig als stabiler als die Strukturen politischer Organisation. Diese ^defensive^ Funktion von Gegenöffentlichkeit, die Kontinuität von Erfahrung zu gewährleisten, wird häufig geringgeschätzt, während das ^offensive^ Potenzial, ^Massen zu mobilisieren^, meist überschätzt wird.

6. In der feministischen Debatte wird der Begriff G zurückhaltend verwendet. Meist wird von feministischer Öffentlichkeit gesprochen, mitunter auch von feministischer G. Die feministische Debatte um G impliziert immer eine gleichzeitige Kritik an einer als patriarchal erfahrenen linken oder alternativen G: >Feministische Öffentlichkeit konstituierte sich als Gegen-Öffentlichkeit in doppelter Abgrenzung und Opposition: zur bürgerlich-patriarchalen und zur patriarchal-linken Öffentlichkeit.< (Dackweiler/Holland-Cunz 1991, 106)

Allgemein folgte die Entwicklung feministischer G seit den 60er Jahren einer typischen Zyklik: Aufbau einer informellen ^eigenen^ Öffentlichkeit (Consciousness Raising, Frauengruppen); sich-Zeigen und Sichtbarwerden in der herrschenden Öffentlichkeit, durch gezielte Aktionen und Produktion von Bildern (der Tomatenwurf auf der SDS-Versammlung 1968, "Ich habe abgetrieben"-Aktion in Frankreich und Deutschland); Entfaltung einer stark verbreiterten, systematischeren, auf die Gesamtheit der Lebensbedürfnisse gerichteten ^eigenen^ Öffentlichkeit (Frauenzentren, Frauenliteratur, feministische Zeitschriften); Aufbau einer ^alternativen^ Öffentlichkeit in Anlehnung an vorhandene gesellschaftliche Strukturen (Fachzeitschriften, ^Massenmedien^, politische Stiftungen und Vereine); Neuvermessung der Grenzen von Öffentlichkeit und G durch partielle Integration in die etablierte Öffentlichkeit und Isolierung der nicht-integrierten Teile feministischer G, gleichzeitige Problematisierung ihrer repräsentativen Funktion von ^oben^ (Postfeminismus, patriarchale Gleichstellungspolitik) und von ^unten^ (nicht-weiße und trikontinentale Frauenbewegung, MigrantInnen, nicht-akademische Frauen). Ähnliche Zyklen haben zwischen den 60er und 90er Jahren auch die G.en anderer Bewegungen durchlaufen.

In den 90er Jahren konzentrierte sich die Diskussion auf die Neubewertung der Dialektik von >öffentlich< und >privat<. Gegen die Tendenz, die Spaltung in Öffentlichkeit und Privatsphäre grundsätzlich als repressive Struktur anzusehen (wonach feministische Gegenöffentlichkeit eigentlich nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zu vollständigen Aufhebung dieser Trennung sein kann), argumentiert Nancy Fraser. In Sex, Lies and the Public Sphere analysiert Fraser die öffentliche Debatte um die Ernennung des Bundesrichters Clarence Thomas und den von seiner Mitarbeiterin Anita Hill erhobenen Vorwurf sexueller Belästigung. Fraser unterstreicht, dass Öffentlich-Machen auch als Waffe gegen Frauen verwendet wird - das Privatleben Anita Hills wurde zeitweise weit detaillierter öffentlich gemacht als das von Thomas. Patriarchale Öffentlichkeit beruhe auf der Deutungsmacht, wo die Grenze zwischen Öffentlich und Privat gezogen werde und wer sie ziehen kann. Feministische Gegenöffentlichkeit sei daher ein Angriff auf diese Deutungsmacht; sie zielt auf die Verschiebung und Veränderung dieser Grenze, aber nicht notwendig auf ihre völlige Aufhebung.

Diese Perspektive wird dagegen bei You-me Park und Gayle Ward als unzureichend kritisiert, da es sich hierbei nur um die Grenzverschiebung zwischen zwei patriarchalen Sphären handele, und zwar nach einem >patriarchal script< (2000, 232), das ausschließlich die bürgerlich-repräsentative oder massenmediale Öffentlichkeit als Öffentlichkeit anerkennt. G kann demnach nicht nur auf die Verschiebung der Grenze von Öffentlichem und Privatem zielen, sie muss die Bedeutung und reale Struktur von ^öffentlich^ und ^privat^ angreifen und verändern.

7. Der Begriff G findet sich in Ländern außerhalb USA/Westeuropas oder in nicht-weißen und postkolonialen Diskursen eher selten und weniger emphatisch. In der postkolonialen Theorie finden sich Begriffe wie counter-discourse oder mimicry, die sich mit Gegenöffentlichkeit berühren, aber auf andere Praxisformen hinweisen: das alternative >Lesen< von >Texten<, so dass sie für die Artikulation eigener Erfahrung nutzbar werden, bzw. die Verfremdung von aufgezwungenen Verhaltensweisen und Selbstdarstellungen.

Dabei ist G seit jeher eine wesentliche Praxis von sozialen Bewegungen weltweit. Die Produktion von medienwirksamen Bildern, die in die herrschende Öffentlichkeit einbrechen können und durch Solidaritätseffekte die ungünstigen Kräfteverhältnisse in einem globalen Rahmen verändern können, reicht von der Inszenierung der indischen satyagrahas bis zu spezifisch öffentlichkeitswirksamen Aktionen der brasilianischen Landlosenbewegung der jüngeren Zeit. Horizontale Zusammenschlüsse und Foren, von der Bandung-Konferenz bis zu den internationalen NGO-Kongressen heute, lassen sich ebenso als G fassen.

Einer der wirkmächtigsten Beiträge zu G in den letzten Jahren ist die Politik der EZLN in Chiapas, die das volle Spektrum von Inszenierung, eigener Sprachwelt, internationaler Vernetzung, Appell an alternative Öffentlichkeiten, politisch/kultureller Grenzüberschreitung und neuen Medien nutzt. Die zapatistische Konzeption von G geht von multiplen G.en aus, die sich dennoch in einem längerfristigen Prozess zu einer internationalisierten G vernetzen sollen. Die Akteure begreifen sich dabei nicht als Repräsentanten, sondern als Katalysator, der durch öffentliche Interventionen und durch das eigene soziale Handeln Räume von G eröffnet. Die EZLN schließt damit an eine postkoloniale und postmoderne Tradition von G an, wonach G sich immer auch als eine privilegierte Struktur begreifen und sich daher um ^offene Grenzen^ bemühen muss, d.h. offen sein für die Kritik eigener Ausschlussverfahren. Dies deckt sich mit Dents Kritik an der >missionary position< weißer feministischer Öffentlichkeit (Dent 1995); es berührt sich mit der selbstkritischen, aber nicht selbstauslöschenden Reflexion der Rolle von Intellektuellen in den Konzeptionen Paolo Freires (s. Giroux 2000) oder Gayatri Spivaks (s. Spivak 1990). Gegenöffentlichkeit wäre dann auch weniger an ihrem möglichst kompletten Anderssein gegenüber der herrschenden Öffentlichkeit zu messen (was unmöglich ist), sondern an ihrer Verankerung in (und Rückwirkung auf) einer Alltagspraxis von G und Widerständigkeit, einer kollektiv zu entwickelnden Praxis >to talk back<, die sowohl Regeln von Öffentlichkeit als auch soziale Regeln kontrolliert überschreitet.

8. Eine historisch-kritische Aufarbeitung von G im Staatssozialismus steht noch aus. Zu fragen wäre hier u.a. nach spefizischen Konsequenzen einer Herrschaftsform, in der genuin politischer Kontrolle höhere Bedeutung zukommt als im westlichen Kapitalismus, für die Möglichkeiten und Praxen von G. (z.B. höhere ^Empfindlichkeit^ für G, sowohl im Sinne von stärkerer Repression als auch im Sinne von größerer realen Wirkungsmacht von G, wie dies auch bei politischen Organisationen innerhalb des westlichen Kapitalismus beobachtet werden kann). Aufzuklären wäre auch die Diskrepanz zwischen dem Einfluss, den die unterschiedlichen Formen von G auf den Zusammenbruch der staatssozialistischen Ordnung hatten, und ihrer weitgehenden Einflusslosigkeit in der Phase danach; ein Phänomen, aus dem Lehren auch für den Aufbau von G im westlichen Kapitalismus zu ziehen wären.

9. Die Auseinandersetzung um G hat das Verständnis von Öffentlichkeit verändert und zur Vorstellung einer steten Dialektik von Öffentlichkeit und G vertieft. Sie macht Öffentlichkeit begreifbar als den Prozess, in dem eine soziale Kooperation durch Kommunikation Normalität und Identität konstitutiert, verhandelt und verändert, sich über Regeln, Rollen, Handlungsmöglichkeiten und Perspektiven vergewissert. Öffentlichkeit existiert immer im Bezug auf eine soziale Kooperation (eine Gesellschaft, Gruppe, Bewegung, einen Produktionszusammenhang, eine Arbeits- oder Lebensgemeinschaft). Gleichzeitig ist Öffentlichkeit selbst eine Kooperation, mit materiellen Voraussetzungen und eigenen Regeln. So wie es eine Vielzahl von sozialen Kooperationen gibt, die gleichzeitig existieren, sich überschneiden, Bestandteil von einander sein können, gibt es eine Vielzahl von Öffentlichkeiten, ein System von multiplen, einander überlagernden Teilöffentlichkeiten, Meta-Öffentlichkeiten - und G.en.

Die bürgerliche Gesellschaft hat das Konzept der einen Öffentlichkeit vertreten und versucht, andere Öffentlichkeiten und G.en zu marginalisieren, zu verhindern, abzuwerten und zu unterdrücken. Das Gleiche gilt auch für viele Gegenbewegungen zur bürgerlichen Gesellschaft, die sich selbst als G verstanden und sich ihrerseits gegen abweichende Öffentlichkeiten wandten. Demgegenüber ist festzuhalten, dass die Dialektik von Öffentlichkeit und G nie enden kann. Es ist gerade ein Kennzeichen freier Kooperation, dass sie Raum für G öffnet und erweitert. Der Maßstab ist dabei nicht die formale Existenz von G.en, sondern wieviel reale, wirkmächtige Infragestellung eine Kooperation akzeptiert und aushält.

Umgekehrt kommt auch eine emanzipative Bewegung nicht umhin, eine allgemeine Öffentlichkeit auszubilden, in der die Gesamtheit ihrer Akteure über den Gesamtrahmen der Kooperation verhandelt. Dazu gehört auch, bei aller Elastizität und fließenden Grenzen, die Herausbildung von Regeln darüber, was in dieser allgemeinen Öffentlichkeit nicht gesagt und verhandelt werden soll, weil darüber Akteure aus der Teilnahme verdrängt und ausgeschlossen werden. Eine oppositionelle Bewegung kann ohne eine ihr eigene allgemeine Öffentlichkeit nicht gestaltend eingreifen. Der Versuch, dieses Zusammenwachsen und diese Formierung einer verallgemeinerten, lebendigen G zu verhindern, ist ein wesentlicher Bestandteil der Unterdrückung emanzipativer Bewegungen, gerade auch unter den Bedingungen scheinbarer Freiheit zur G.

Die Gegenmacht einer emanzipativen G, ihre Fähigkeit zur Subversion, liegt weniger in den einzelnen politisch korrekten oder unkorrekten Bildern und Inhalten oder in deren Verweigerung; sie liegt in letzter Instanz nicht im geschickten Bau immer raffinierterer Megaphone oder Störsender. Sie liegt in der Vorstellung einer möglichen, anderen Kombination der verschiedenen Wünsche und Selbstauffassungen, welche die Vision eines veränderten kollektiven Publikums (oder TeilnehmerInnenkreises) beinhaltet. Insofern geht es trotz aller Pluralität multipler Öffentlichkeiten und G.en immer auch um die eine G., die in ihrer Zusammensetzung, Praxis und Kombination (aus bejahten und ^frustrierten^ Wünschen, Selbstentwürfen und Handlungsoptionen) die Kooperation einer befreiten Gesellschaft vorwegnimmt.

Christoph Spehr

 

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