Die schwierige Internationale der Dissidenten

Zwei oppositionelle Beiträge zum israelisch-palästinensischen Konflikt

in (01.11.2001)

Niemand weiß heute, wie die Welt aussehen wird, wenn dieses Heft erscheint. Möglicherweise hat die NATO bereits Afghanistan angegriffen. Möglicherweise haben die USA auch Ziele ...

... in anderen arabischen und afrikanischen Ländern bombardiert, etwa im Irak oder im Sudan. Möglicherweise haben daraufhin weitere Terroranschläge gegen Einrichtungen der USA, europäischer Staaten und Israels stattgefunden. Möglicherweise führt Afghanistan Krieg gegen Pakistan, möglicherweise auch gegen einen seiner anderen Anrainer-Staaten (Iran, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, China). Möglicherweise haben die USA Bodentruppen nach Afghanistan geschickt, mit unübersehbaren Folgen. Nur eines ist sicher: An der Grundlage der verschiedenen Konflikte im Nahen und Mittleren Osten wird sich ebensowenig geändert haben, wie durch den Golfkrieg von 1990/91. Sie werden nur schärfer hervortreten und mit noch gefährlicheren Waffen ausgetragen werden, als bisher.
Niemand weiß auch, was in den Tagen, bis dieses Heft erscheint, in Israel und Palästina geschehen sein wird. Beide Länder sind bereits zerrissen zwischen den beiden möglichen Optionen: Das Palästinensische Autonomiegebiet als "Schurkenstaat" zu etikettieren und zum offiziellen Interventionsziel zu machen, oder Palästina in die westliche Anti-Afghanistan-Koalition einzubinden und damit politisch aufzuwerten. Israels Premierminister Sharon verficht die erste Option, der israelische Außenminister Perez kämpft für die zweite Option, auf die auch die USA drängen. Auch Arafat vertritt die zweite Option, aufgrund der Erfahrungen des Golfkriegs (Palästina hatte den Irak nicht verurteilt, was seine Position massiv verschlechterte) und angesichts der Hoffnung auf eine politische "Solidaritätsdividende" seitens des Westens. Die Hamas dagegen hat die Terroranschläge von New York und Washington zwar verurteilt, würde im Fall aktiver Kampfhandlungen der NATO gegen radikal-islamistische Gruppen jedoch jede Solidarisierung mit der NATO als Verrat ansehen. Welche Option sich durchsetzen wird, läßt sich heute nicht sagen. Nur eins ist sicher: die Grundlagen des israelisch-palästinensischen Konflikts werden dieselben sein wie vorher.

Kritische Solidarität mit der eigenen Gesellschaft

Die beiden Texte, die wir hier zum israel-palästinensischen Konflikt veröffentlichen, sind beide dissidente Texte im jeweiligen "Lager". Jeff Halper, jüdischer Israeli, verließ 1973, nach dem arabischen Angriffskrieg gegen Israel, die USA und wurde israelischer Staatsbürger; beruflich lehrt er Anthropologie an der Ben Gurion Universität in Jerusalem. Die Erfahrung der israelischen Politik gegenüber Palästina hat ihn zum radikalen Kritiker der herrschenden israelischen Politik und der dominierenden Auffassungen innerhalb der jüdisch-israelischen Gesellschaft gemacht. Er gründete mit anderen oppositionellen Israelis das "Isralische Kommittee gegen Hauszerstörungen", d.h. das Niederreißen palästinensischer Häuser in den Besetzten Gebieten (im Zuge von israelischen Bau- oder Strafmaßnahmen). Halper ist Chefredakteur von "News from Within", das herausgegeben wird vom Alternative Information Center (AIC) in Jerusalem (www.alternativenews.org); ein Magazin, das kritische Texte von jüdischen und palästinensischen AutorInnen versammelt (zum Beirat gehören u.a. Noam Chomsky, Felicia Langer, Nira Yuval-Davis und Edward Said).
Salah Abdel Jawwad (die Transkription von Namen aus dem Arabischen variiert; auch Abdel-Jawad Saleh wird häufig geschrieben) lehrt an der Birzeit Universität, wo er heute Direktor des Center for Research and Documentation of Palestine Society (CRDPS) ist (www.birzeit.org/crdps). 1995 veröffentlichte er eine Studie über Kollaboration in den Besetzten Gebieten, die sich auch mit den knapp 900 Fällen von Folterung und Tötung von Verdächtigen durch palästinensische Einheiten während der ersten Intifada (1987-1993) befasste. Salah, Mitglied der Fatah, war Minister in der Palästinensischen Autonomieverwaltung; am 6.8.1998 trat er zurück, weil die PA sich weigerte, sich energischer mit dem Thema der Korruption zu befassen. 1999 initiierte er eine Petition gegen die Korruption in der PA. Die PLO reagierte scharf und inhaftierte zeitweise mehrere der 20 hochprominenten UnterzeichnerInnen. Der Artikel Salahs ist ein Transkript eines Statements bei einer Podiumsveranstaltung des Palästinensischen Zentrums für demokratische Studien vom 5.11.2000, veröffentlicht in "Between the Lines" (dessen Chefredakteure früher bei "News from Within" arbeiteten und das insgesamt mehr den palästinensischen Diskurs aufgreift).
Beide Texte wurden zu einem Zeitpunkt verfasst, als die zweite Intifada, die im Oktober 2000 begann, erst wenige Wochen alt war. Die Ereignisse seither - die Eskalation der Konfrontation, die Welle der palästinensischen Selbstmordattentate und israelischen Bombardements, die Auseinandersetzungen um die UN-Konferenz in Durban, die weitere Verschärfung der Kämpfe im Schatten der drohenden Kriegsgefahr in Nahost - haben die Dringlichkeit dieser Beiträge auf dramatische Weise unterstrichen. Es wird keinen Frieden geben ohne einen autonomen, lebensfähigen palästinensischen Staat und ohne eine wirkliche, tiefergehende Anerkennung Israels durch die arabischen Gesellschaften. Und es wird nicht einmal Waffenstillstand geben, wenn der exzessiven Militarisierung des Konflikts, der mentalen Abschottung und der Eskalation der Waffen, nicht auf beiden Seiten von innen entgegen getreten wird.
In den Texten wird auch deutlich, dass die Grenze dessen, was sich innerhalb der israelischen Gesellschaft sagen läßt - einer "offenen Gesellschaft" trotz der nationalistischen Militanz - und was innerhalb der palästinensischen Gesellschaft möglich ist, unterschiedlich weit gesteckt sind. Salahs Text folgt einer weitgehend instrumentellen Argumentation, die ihre Forderung nach Deeskalation und Demokratisierung ausschließlich aus den Notwendigkeiten des palästinensischen Kampfes ableitet; für Empathie in die andere Seite ist nicht allzuviel Platz. Die bis heute nicht wirklich definitive Haltung der palästinensisch-arabischen Seite zur staatlichen Existenzgarantie Israels, ihr virulenter Antisemitismus (unter www.adl.org sind Fundstellen gesammelt), ihr Desinteresse an der historischen jüdisch-israelischen Erfahrung und "consciousness-Bildung" finden als Hinderungsgründe einer Konfliktlösung keine Erwähnung, schon gar keine prinzipielle Kritik.

Und wir?

Empathie, Differenzierung und Austausch, die Bedingungen für eine kritische Solidarität (mit Israelis und Palästinensern) sind allerdings hierzulande auch nicht gerade entfaltet. Die Auseinandersetzungen um Solidarität hat sich seit dem Golfkrieg äußerlich aufgebläht, innerlich aber auf die Frage "Mit welcher Seite?" verengt und bezieht ihre Argumente mehr aus der eigenen Befindlichkeit als aus der realen Lage und Erfahrung der Anderen. Es ist ein Stück Solidarität, immer wieder klarzumachen, dass "die" israelische Gesellschaft nicht umstandslos mit in Jericho einfahrenden Panzern gleichzusetzen ist, "die" palästinensische Gesellschaft nicht mit Selbstmordattentätern und Bombenanschlägen auf israelische Schulbusse, auch wenn der Druck zum inneren Schulterschluss in beiden Gesellschaften hoch ist. Wer weiß schon, dass es in den 90er Jahren einen israelischen Historikerstreit gab um die Frage, welche Verantwortung Israel für die palästinensische Flüchtlingsbewegung 1948/49 zukommt?
Der Versuch, "den Zionismus" als "rassistische Ideologie" zu brandmarken, wie er von arabischer Seite auf der Welt-Rassismus-Konferenz in Durban unternommen (und vereitelt) wurde, ist in der Tat antisemitisch. Die Entwicklung eines national-chauvinistischen Zionismus als verordneter Staatsideologie, in der nicht-jüdische Israelis nicht vorkommen, wird allerdings auch von kritischen Israelis offen benannt und in Frage gestellt. Und die Frage nach rassistischen Elementen der realen israelischen Politik für nicht stellbar erklären, wie dies in der linken Debatte hierzulande mitunter gefordert wird, heißt Israel als reale, lebendige Gesellschaft irgendwie nicht ernst nehmen - es auf eine Zeichen, ein Symbol verengen.
An den schwierigen, gefährlichen und immer wieder verunsichernden kritischen Versuchen auf israelischer und palästinensischer Seite, dafür einzutreten, dass Realitäten zur Kenntnis genommen und Fragen an die eigene Politik und Gesellschaft gestellt werden, kann man sich für die Arbeit der kritischen Solidarität ein Beispiel nehmen. Die Übereinstimmung zwischen der kritischen Opposition in Israel und in Palästina, wie die Realität aussieht und was deshalb zu tun ist, geht sicher noch nicht weit genug. Aber sie reicht erheblich weiter als der dünne Kompromiss der verhandelnden Regierungen ("Tausche Ruhe gegen symbolische Erfolge"), auf den sich der Friedensprozess bislang stützt. Und auf ihr ruht alle Hoffnung.

erschienen in: alaska 137