Eurogefühle

Nicht nur in Deutschland steht die sonst so gepriesene politikfreie Preisbildung im Kreuzfeuer der Kritik. Anlass geben die Preisaufschläge bei vielen Produkten des täglichen Bedarfs ...

im Zuge der Umstellung von Deutscher Mark auf Euro. Bundesfinanzminister Hans Eichel rückte inzwischen in die vorderste Front der Kritiker, obwohl der oberste Kassenwart noch im letzten Jahr vor der Einführung des Euro-Bargelds alle Bedenken gegen Abzockerei in den Wind schlug. Damals reichte ihm die Selbstverpflichtung des Handels, keine verdeckten Preiserhöhungen vorzunehmen. Jetzt ist Eichel - selbst mit harten Preisaufschlägen in seiner Berliner Eisdiele konfrontiert - zum Kritiker der freien Marktkräfte konvertiert und fordert zum Boykott gegen die Preistreiber auf. Dabei unterstützt ihn wortradikal der Bundeskanzler. Auch Bundesverbraucherministerin Renate Künast musste auf den wachsenden Konsumentenfrust über schamlos ausgenutzte Wettbewerbsvorteile reagieren und lud zum "Anti-Teuro-Gipfel" nach Berlin ein. Damit setzte sie sich an die Spitze der von den Boulevard-Medien durch das Land geschickten "Teuro- Sheriffs". Allerdings, eins ist klar: Eine "Preisbegrenzungsverordnung" oder Preiskommissare mit hoheitlicher Gewalt haben im Zeitalter der Marktverherrlichung keine Chance. Es geht lediglich um verbesserte Transparenz und Aufklärung. Am Ende bleibt es beim Rückgriff auf die durch Ludwig Erhard vorzüglich beherrschte, jedoch erfolglose Politik "moralischer Appelle" (moral suasion).
Doch die Verbraucherklage über die erhöhten Preise widerspricht den offiziellen Teuerungsstatistiken. Da meldet das Statistische Bundesamt, der Preisindex der durchschnittlichen Lebenshaltungskosten sei im ersten Quartal nur um 1,9% gestiegen. Ab diesem Sommer wird nur noch mit einer Inflation von 1,5% gerechnet. Die deutsche Inflationsrate liegt damit deutlich unter dem Durchschnitt der Eurostaaten. Warum also diese Aufregung?
Ungeachtet der gemessenen fällt die gefühlte Geldentwertung viel höher aus. Wetterfrosch Kachelmann, der den ARD-Zuschauern die durchaus alltagstaugliche Unterscheidung zwischen gemessener und gefühlter Temperatur nahe bringt, lässt grüßen. Eine neuere Analyse1 zeigt, dass die gefühlte Inflationsrate in den ersten Monaten des Jahres bei 5% lag. Weit überdurchschnittlich fallen die Preisaufschläge beispielsweise in Gaststätten und Hotels, in Friseurläden und chemischen Reinigungen aus. Demgegenüber blieben die Preise vor allem für hochwertige und langlebige Produkte konstant. Auch Vermieter und Stadtwerke rechneten exakt auf der Basis 1 Euro = 1,95583 DM um. Doch was nützt es, wenn der Preis für einen PC oder eine digitale Kleinbildkamera sogar sinkt, der alltäglich gekaufter Produkte aber stark steigt? Bei Produkten und Anbietern des täglichen Bedarfs liegt die tatsächliche Inflation mitunter noch weit über der gefühlten.
Der Unterschied zwischen gemessener und gefühlter Inflation erklärt sich durch den Blick auf die Statistik. Das zuständige Bundesamt misst die Geldentwertung mit dem so genannten Preisindex der Lebenshaltungskosten. Die Basis bildet ein Warenkorb mit insgesamt 750 Produkten. Diese werden entsprechend dem durchschnittlichen Ausgabenverhalten der privaten Haushalte im Basisjahr - derzeit noch 1995 - gewichtet. Die Anteile ermittelt das Statistische Bundesamt mit Hilfe von bundesweit 60000 Haushalten, die über ihre monatlichen Ausgaben Buch führen. Der aktuelle Warenkorb wird auf der Grundlage der heute geltenden Preise berechnet und mit denen im Basisjahr verglichen. In diesem Jahr steigt der Preisindex voraussichtlich um 1,5% gegenüber dem Vorjahr. Allerdings: Die Gewichtung der Produktgruppen führt dazu, dass die jeweiligen Preissteigerungen unterschiedlich stark auf den Gesamtindex durchschlagen. Das zeigt sich vor allem bei den Teuerungen im Gastronomiebereich, dessen Anteil im Warenkorb bei lediglich 4,6% liegt. Hingegen sind die nicht gestiegenen Mieten mit 17% gewichtet. Kurzfristig lassen sich die Gewichte nicht verändern - und zwar aus gutem Grund: Es würde die Vergleichsbasis zunichte machen. Die nächste Änderung steht frühestens 2003 an. Dann werden beispielsweise die Ausgaben im Internetbereich stärker berücksichtigt und Produkte der traditionellen Kommunikation imWarenkorb reduziert.
Auch wenn für manche Haushalte die Preissteigerungen weit höher ausfallen als mit den Durchschnittswerten desWarenkorbs ermittelt, verliert die so gemessene Inflationsrate nicht an Bedeutung. Kommentare und Berichte 783 Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2002 Sie sollte jedoch durch die Beobachtung einzelner Preise ergänzt werden. Viele Mitnahmeeffekte bei der Umstellung auf Euro-Preise sind unübersehbar. Das Statistische Bundesamt ermittelte, dass 53,2%derPreiserhöhungenzwischenJanuar 2001 und Januar 2002 im Zuge der Euro-Bargeldeinführungstattfanden.
Die Käuferinnen und Käufer sind über die gefühlten, unmittelbar spürbaren Preisaufschläge zu Recht sauer; ihnen ist erst einmal die Laune am Konsum vergangen. Dies schadet jedoch der Konjunktur. Der Kampf gegen die Preistreiber dient auch der Stärkung der Konsumdynamik.
Was ist zu tun? Deutschland hatte sich auf die Selbstverpflichtung des Handels verlassen. Andere Länder, wie Italien unddieNiederlande,nahmenperGesetz Einfluss auf die Umstellung. So galt eine Auszeichnungspflicht für den Euro-Preis und den Preis in der alten nationalen Währung. Italien setzte zudem seine Finanzpolizei gegen die Preistreiberei ein. Diese Möglichkeiten ließ Deutschland ungenutzt - jetzt fallen Korrekturen schwer. Das ist wie mit der Zahnpasta: Einmal aus der Tube, lässt sie sich nur schwerlich dorthin zurückbringen. Eine "Preisbegrenzungsverordnung"odergar der Einsatz staatlicher Preiskommissare gelten, wie erwähnt, als zu martialisch. Was bleibt, ist der Appell an die Aufklärung und Schaffung von Transparenz. Durch öffentlichkeitswirksame Kampagnen will man die Abzocker zur Korrekturzwingen. SowurdenaufdemAnti- Teuro-Gipfel keine unmittelbar wirksamen Instrumente gegen den Preisterror verabschiedet, stattdessen ein Internet- Beschwerdeforum (www.preiswert-forum. de) beschlossen. Erfreulicherweise nehmen die Verbraucher selbst die Verteuerungen nicht mehr hin. Eine Umfrage besagt, dass sich 84%der Kunden mit Boykott gegen überhöhte Preise wehren, in der Altersgruppe der über 55jährigen sind es gar 92% (Umfrage der Forschungsgruppe Polis). So Mancher verzichtet auf den überteuerten Konsum undwechseltzuDiscountläden.
Die Euro-Preiszockerei zeigt ein Versagen des Marktes an. Die Marktmacht liegt eben eher in den Händen der Produzenten als der Konsumenten. Viele Konsumenten können sich - vor allem in den ländlichen Regionen - nur schwer gegen die Preiszockerei zur Wehr setzen. Der Hinweis, in den nächsten Monaten beruhige sich der Geldwert wieder, dürfte nicht mehr als eine Beruhigungspille sein. Durch den einmaligen Euro-Preissprung erhöhte sich das Preisniveau ein für allemal. Eine Lehre lautet: Wegen der Informations- und damit Machtasymmetrie zu Lasten der Konsumenten muss der Verbraucherschutz (gerade in den Regionen) gestärkt werden. Der Aufbau eines Internetprangers für alle Scharlatane mag ein richtiger Schritt sein. Doch auch die Preisvergleicher, die Teuro-Sheriffs, werden künftig gebraucht.
In vielen Bereichen ließ sich der Preissprung per kartellähnlich abgestimmtem Verhalten durchsetzen. Beispielsweise liegt der dringend zu überprüfende Verdacht nahe, dass die Banken mit den immer noch horrenden Gebühren für Banküberweisungen in andere Euro- Staaten Marktmissbrauch betreiben. Deswegen muss vor allem das Bundeskartellamt mit einbezogen werden. Ihm obliegt es, Marktmacht und damit verbundenen Missbrauch zu verhindern.

1 Institut der deutschen Wirtschaft, Gefühlte Inflation, in: "iwd", 30.5.2002, S3; vgl. die grundlegende Untersuchung: Statistisches Bundesamt, Preise - Zum Einfluss der Euro-Bargeldeinführung auf die Preisentwicklung, Wiesbaden 2002.
Blätter für deutsche und internationle Politik 2002/07, Seite 782-784