Der schiefe Turm von PISA

Noch reden viele von PISA. Ob dem Reden die richtigen Taten folgen, bleibt abzuwarten. Nach den für Deutschland niederschmetternden Ergebnissen ...

... der vom Programme for International Student Assessment vorgelegten Vergleichsstudie müßte das Thema Bildungsreform einen solchen gesellschaftlichen Stellenwert bekommen, daß es die "K-Frage" und andere Hahnenkampfgeschichten samt medial aufgeblasener Rabattepisoden weit in den Schatten stellt, auch am Stammtisch. Doch die öffentliche Diskussion um PISA schlägt keine hohen Wellen, sondern plätschert nur noch und zieht sich allmählich auf die eingeweihten Kreise zurück, in denen immer dieselben Leute immer dieselben Glaubenssätze verkünden, als hätten sie die Studie nie gelesen oder als ermangelte es ihnen an der Fähigkeit zu sinnerfassendem Lesen.
Die wenigen schüchternen Äußerungen der Bereitschaft von Bildungspolitikern zu grundsätzlicher Erneuerung in der Schule oder im Kindergarten werden wenige Tage später zurückgenommen, vollmundige Einzelforderungen wie die nach obligatorischer Lehrerfortbildung oder Kindergartenzwang scheitern schon im Vorzimmer der Finanzminister, die familiären Anteile an der Misere werden gar nicht erst zur Kenntnis genommen, und bei Hinweisen auf die mangels Sprachförderung kaum stattfindende Integration von Migrantenkindern wird kühl abgewunken, schließlich ist Deutschland ja kein Einwanderungsland! Daß über zehn Prozent unserer Jugendlichen - in Berlin sogar über 16 Prozent - die Schulen ohne Abschluß verlassen müssen, ist bedauerlich, aber anscheinend nicht zu ändern. Und daß die Lehrer alle Versager sind, sieht man schon an der Frühpensionierungsrate; nur vier Prozent aller Lehrkräfte in Deutschland erreichen im Dienst das reguläre Pensionsalter.
Wie ist es möglich, daß diese Probleme, die nach Lösungen schreien, so wenig Lärm in Deutschland machen?
Das Haupthindernis für die notwendige Erneuerung unseres Bildungssystems liegt darin, daß hierzulande immer noch in undemokratischen Kategorien gedacht wird. Anders läßt sich nicht erklären, daß das dreigliedrige Schulsystem mit Zähnen und Klauen verteidigt wird, selbst wenn sich erweist, daß in diesem System ein beängstigender Mangel an Abiturienten entsteht und viel zu viele Schüler gar keinen Abschluß erlangen, während beispielsweise Finnland und Schweden mit ihren integrativen Schulen viel erfolgreicher sind. In Deutschland werden bisher keine ernsthaften Anstrengungen gemacht, alle Kinder so intensiv wie möglich zu fördern, auch die, die mehrsprachig in Deutschland aufwachsen oder aus "bildungsfernen" Familien kommen oder in solcher Armut leben, wo man sich z.B. einen Kindergartenplatz einfach nicht leisten kann.
Einen weiteren Grund dafür, daß hier alles so bleibt, wie es ist, sehe ich in der ausgeprägten Kinderfeindlichkeit oder geringen Wertschätzung für Kinder und der damit verbundenen Abwertung aller pädagogischen Berufe. Im reichsten Land Europas erhalten die immer weniger werdenden Kinder weder die Aufmerksamkeit noch die Fürsorge, die sie brauchen: Häusliche Vernachlässigung durch überforderte oder an ihren Kindern desinteressierte Eltern ist alltäglich, öffentliche Vernachlässigung zeigt sich u.a. in den verfallenden Schulgebäuden. Jahre der Lernfreude von Vorschulkindern werden verplempert, weil die Erzieherinnen nicht annähernd ihrer Verantwortung gemäß ausgebildet sind (ihre schlechte Bezahlung paßt dazu).
Daß der Turm von PISA nicht längst von Grund auf saniert wird, liegt aber auch an der immer noch durch patriarchalische Vorstellungen geprägten Familienideologie: Das Kind gehört so lange wie möglich zur Mutti, auch wenn die ihm noch so wenig Anregung oder Behütung gibt. Ganztagsschulen oder unentgeltliche Kindergartenplätze für alle sind vom Teufel, denn mit welchen Argumenten könnte man sonst noch die Frauen vom Arbeitsmarkt fernhalten! Daß es die heile Familie, die ihr Kind liebevoll anregt und fördert, wo sie kann, in einigen Bildungsbürgerkreisen noch geben soll, habe ich gehört. Ich weiß aber auch, daß an vielen Schulen wieder eine Schülerspeisung eingeführt werden mußte, damit die lieben Kleinen wenigstens eine Mahlzeit am Tag bekommen.
Man müßte schon sehr tief ansetzen, um dem schiefen Turm von PISA ein so festes Fundament zu geben, daß er auch den Belastungen und Erschütterungen, die noch kommen werden, standhalten kann.