Ab in die Mitte

in (16.01.2002)

Am 22. September hat das deutsche Volk die Gelegenheit, einen Kanzler zu wählen. Zwar ist ein solcher Akt im Grundgesetz gar nicht vorgesehen, ...

... aber nicht zuletzt dank der tätigen Hilfe der Massenmedien ist es gelungen, die Verfassungswirklichkeit schöpferisch weiterzuentwickeln. Den Parteien, auch ihren Kandidatinnen und Kandidaten, macht es offenbar nichts aus, daß sie ins zweite Glied zurücktreten müssen; vermutlich sind sie erleichtert, auf diese Weise um die lästige Aufgabe herumzukommen, den Wählerinnen und Wählern programmatische Alternativen vorstellen zu sollen. Spaß macht das inzwischen sowieso nicht mehr, denn wenn man mit Programmaussagen in den Bundestag und gar in eine Regierungskoalition einrückt, droht bei der Vertrauensfrage des Kanzlers eine Blamage. So können sich denn die Wahlagenturen, unbelastet von jeder Suche nach politischen Inhalten der auszutragenden Konkurrenz, an die designerische Arbeit machen: Welcher der beiden Kandidaten läßt sich am besten ins Bild setzen? Um zwei sogenannte Macher geht es; die beiden Angebote liegen politikertypologisch nicht weit auseinander. Jetzt stellt sich die Aufgabe, den Eindruck zu erwecken, der eine Macher mache es besser als der andere. In diesem Sinne ist das große mimische und verbale Duell vorzubereiten, das als erster Höhepunkt der Unterhaltungsserie "Wahlen" über alle deutschen TV-Bildschirme flimmern wird; das zweite Highlight kommt dann bei den Hochrechnungen.
Die deutschen Politikwissenschaftler und politischen Kommentatoren sind sich einig: Die Jury, die beim Showlauf der beiden Kandidaten den Preis zu vergeben hat, kann nur aus Angehörigen der "politischen Mitte" bestehen. Angesichts dessen sind beide Macher darum bemüht, politbiographische Randständigkeiten in Vergessenheit zu bringen. Stoiber, so sollen die Menschen der Mitte glauben, hat rechtskonservative Anwandlungen längst hinter sich; Schröder, so dürfen sie gewiß sein, weiß schon seit langem nichts mehr von dem, was man ihm in jungsozialistischen Schulungszirkeln nahezubringen versuchte.
Ziemlich dumm da stehen die kleineren Parteien. Joseph Fischer muß nun wie ein Kanzlerkandidatensurrogat angeboten werden. Guido Westerwelle tröstet sich mit dem Gedanken, es sei nicht so wichtig, wer unter ihm als künftigem Vizekanzler das Kanzleramt innehat. Und Gabi Zimmer? Soll sie unter dem Motto "Rache für Angie" ein Kontrastangebot zu Edmund und Gerhard versuchen? Oder tritt Gregor Gysi auf den Plan, als Kanzlerkandidatenimitator?
Vermutlich wird es bei diesem Wahlkampf in der Mitte sehr eng. Aber wenn den Mitgliedern der Jury die Angelegenheit zu unübersichtlich vorkommt, können sie sich entlastet fühlen: In den Chefetagen der deutschen Wirtschaft wird man, rechtzeitig vor dem Wahltermin, zu einer Bewertung kommen, wer denn nach dem 22. September am besten das Geschäft der Politik führen könne. Ganz leicht fällt eine solche Personalentscheidung diesmal nicht.