Erfurt - Was sind die Folgen?

Aspekte, die hinter kurzsichtigen Interessen verschwinden

in (07.05.2002)

Amoklauf in der Leistungsgesellschaft? Comeback der diffamierten 'Kuschelpädagokig' nach Erfurt?

Neben dem Entsetzen und der Trauer, die weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen und ihren Angehörigen in Erfurt hinaus gehen und weite Teile aller SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen in ganz Deutschland erfasst haben, konzentriert sich die öffentliche Diskussion auf den Punkt: Wie konnte es dazu kommen? Vergleichbare Taten wurden bisher allenfalls aus den USA berichtet und bei uns vielfach für unvorstellbar gehalten. Sicherlich, es hatte in den letzten Jahren auch in Deutschland Gewalttaten an Schulen gegeben. Doch diese wurden stets als "Einzelfälle" wahnsinniger Amokläufer behandelt und hatten letztlich keinerlei Konsequenzen. Jetzt ist es schwerer, einfach wieder zur Tagesordnung überzugehen.

Viele Fragen müssen gestellt werden: Wie kann ein Neunzehnjähriger sich bis an die Zähne bewaffnen, ohne dass das bemerkt wird? Wie kann sich von allen in seinem Umfeld unbemerkt ein solches Aggressionspotenzial aufstauen? Wie kann ein Heranwachsender mit einem Schulverweis so allein gelassen werden, dass seine Eltern über lange Zeit glauben, er stünde kurz vor der Abiturprüfung? Wie kann verhindert werden, dass sich solche schrecklichen Taten wieder ereignen?

Drei Aspekte stehen im Mittelpunkt des breiten Diskurses, der nach der Bluttat von Erfurt begonnen hat:

1.
Wie ist zu verhindern, dass Jugendliche und junge Erwachsene an Schusswaffen und Munition von so tödlicher Effektivität gelangen?

Just am Tag des Geschehens hat der Bundestag eine Verschärfung des Waffengesetzes verabschiedet, ein Kompromiss, bei dem sich die Unionsparteien bis zum Zeitpunkt der Tat noch brüsteten, härtere Maßnahmen verhindert zu haben. Jetzt wird über weitere Verschärfungen diskutiert. Aber unstrittig bleibt in der politischen Klasse, den Zugang zu Waffen für Millionen auch minderjähriger Sportschützen in Vereinen weiterhin zu ermöglichen. Es gibt über 4 Millionen legal registrierte Waffen in Deutschland.

Wieso können Sportschützen Waffen und Munition mit nach Hause nehmen? Wie kommt ein Jugendlicher an über 500 Schuss scharfe Munition? Auch wenn wir sicher noch keine US-Verhältnisse haben, ist der Markt für Waffen sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite enorm. Untersuchungen unter Schülern ergeben eine Bewaffnungsquote unter den männlichen Schülern von bis zu 35%! Wieso ist dem Druck der Waffenlobby offenbar so schwer zu widerstehen? Es ist zu fragen, ob das Bedürfnis nach Bewaffnung insbesondere unter jüngeren Männern und männlichen Jugendlichen nicht auch zu tun hat mit der innenpolitischen Forcierung des Themas innere Sicherheit und Kriminalität durch große Teile der politischen Klasse.

Es ist hilflos, wenn nicht gar zynisch, wenn jetzt wieder von verantwortlichen Politikern betont wird, man müsse deutlicher machen, dass Gewalt keine Probleme löst. Vorgelebt wird unserer Jugend oft das Gegenteil: Überall auf der Welt wird politischen Konflikten mit Gewalt begegnet. Kein Tag vergeht, an dem nicht grauenvolle Bilder von kriegerischen Auseinandersetzungen über die Nachrichtensender in die Wohnzimmer flimmern.

2.
Wieder mal wird eine Debatte entfacht über Gewaltdarstellungen in den Medien. Fernsehen, Video und DVD, CDs, Computerspiele und Internet bieten in der Tat Zugriffsmöglichkeiten rund um die Uhr auf widerliche Gewaltdarstellungen, menschenverachtende Brutalität und die Glorifizierung der Rambo-Mentalität für Jedermann. Auch wenn die Zusammenhänge zwischen dem Konsum dieser Angebote, der Steigerung von Aggressionspotenzialen und der tatsächlichen Gewaltbereitschaft komplizierter sind, als es in der Debatte oft sehr vereinfachend und populistisch erscheinen mag, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass effektive Zugangskontrollen für besonders gefährdete Personengruppen, u.a. Kinder und Jugendliche, sowie die Reglementierung der Herstellung und Verbreitung solcher Produkte wünschenswert und nötig wäre. Entgegen wertkonservativen und kulturpessimistischen Vorstellungen, die ihr Heil in der Vergangenheit suchen, in der angeblich alles besser war, gilt es aber, den Zusammenhang von Liberalisierung der Marktwirtschaft, Öffnung der elektronischen Medien und des Internets für private Anbieter- und Verwertungsinteressen sowie der Verbreitung dieser Produkte zu diskutieren.

Gerade diejenigen, die heute grenzenlose Gewaltdarstellungen zum Beispiel im Privatfernsehen besonders beklagen, haben sich für die Privatisierung des Fernsehens immer stark gemacht. Marktradikalität, das Setzen auf Verwertungsinteressen und Jugendschutz vertragen sich eben manchmal schlecht. Insofern bleibt die Betroffenheit oft wenig glaubwürdig und hilflos - jedenfalls solange die politisch Verantwortlichen nicht wirklich gemeinsame Anstrengungen unternehmen, hier zu tiefgreifenden Veränderungen zu kommen und dabei auch den Konflikt mit denjenigen zu suchen, die davon profitieren, dass gewaltverherrlichende Darstellungen hergestellt, verbreitet und verkauft werden. Vielleicht sollte auch mal darüber nachgedacht werden, ob es nicht symptomatisch für unsere gesellschaftliche Verfasstheit ist, dass auch so genannte seriöse Printmedien durch exzessive und reich illustrierte Berichterstattung von dem Geschehen in Erfurt versuchen, ihre täglichen oder wöchentlichen Auflagen zu steigern.

3.
Was ist an unseren Schulen los, wenn solche Gewalttaten möglich sind? Sicherlich ist es nicht möglich, Bedingungen zu schaffen, die garantieren, dass sich Taten wie in Erfurt nicht wiederholen. Es sind aber berechtigte Zweifel angebracht, die Tat als singuläres Geschehen eines wahnsinnigen Ausgeflippten zu betrachten. Es gibt tieferliegende Ursachen in den Schulen selbst.

Was hat dieser Hass gegen Lehrerinnen und Lehrern mit den Verhältnissen an den Schulen zu tun? Schüler berichten immer wieder, dass sie enormem Druck durch das immer mehr um sich greifende Auslesesystem Schule ausgesetzt sind. Schulpsychologen stellen fest, dass Stress, Versagens- und Zukunftsängste schon bei Grundschülern enorm zugenommen haben. An den Schulen - das spüren Schüler und Eltern, und LehrerInnen wissen es - werden Lebenschancen vergeben. Wie soll ein konstruktiver Dialog zwischen Lehrern, Eltern und Schülern geführt werden, wenn es nicht um die bestmögliche Förderung jedes Einzelnen geht, sondern immer auch um die selektive Vergabe von Zukunftschancen?

Welche Möglichkeiten hat ein/e Schüler/in - insbesondere in den neuen Bundesländern -, wenn er/sie den von allen geforderten Abschluss nicht schafft, für die weitere berufliche und private Lebensplanung? Wie soll die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Schülern, Eltern und Lehrern gelingen, wenn doch klar ist, dass die LehrerInnen durch die zunehmend ausgefeilteren Techniken von Bewertung, Testung und Zertifizierung von Leistungen an der Schnittstelle zum Übergang von Schule in das Berufsleben Weichen stellen müssen?

Die Pisa-Ergebnisse legen nahe, dass Erfolge in der Schule in erster Linie abhängen von einer Lernkultur, die Kinder und Jugendliche motiviert und stärkt, die Entwicklung der Schülerpersönlichkeit in den Mittelpunkt stellt und fördert statt selektiert. Lehrerinnen und Lehrer brauchen an den Schulen Zeit, um diese gesellschaftspolitisch zentrale Arbeit zu leisten. Leistungsdruck und Kontrolle in viel zu großen Klassen lassen keinen hinreichenden Raum, um SchülerInnen mit ihren Problemen im Blick zu behalten, die Schwachen zu stärken und ihrer Beratungs- und Unterstützungsfunktion, die weit über das Erteilen von Unterricht hinaus geht, nachzukommen. Diejenigen, die Stellen beispielsweise von Schulpsychologen und Sozialpädagogen abbauen, Beratungsdienste zurückfahren zugunsten von Sparprogrammen und der Reduktion auf das vermeintlich wesentliche, den Unterricht, die für Klassen mit 30 und mehr Schülern verantwortlich sind und die Lehrerarbeitszeit permanent ausdehnen, werden nicht nur von Schülervertretungen gefragt, ob sie nicht zu Rahmenbedingungen beigetragen haben, die immer mehr so genannte "Schulversager" produzieren. Der Kontakt zwischen LehrerInnen und Eltern muss intensiviert werden, damit Probleme schon in ihrem Entstehen begriffen werden können, es muss eine Nachbetreuung beispielsweise von SchülerInnen geben, die durch schlechte Noten, Sitzenbleiben, Durchfallen oder Schulverweise Probleme bekommen und vielleicht dadurch für andere zu Problemen werden. Auch dazu bedarf es Zeit, die an den Schulen gegenwärtig überall fehlt.

Die Denunziation der so genannten "Kuscheleckenpädagogik" (vom ehemaligen obersten Repräsentaten der Berliner Republik, Roman Herzog, hoffähig gemacht) ist in diesen Tagen nicht mehr zu vernehmen. Vielleicht führen die Geschehnisse von Erfurt zu einer Besinnung darauf, dass Ellenbogengesellschaft, Ausgrenzung und Leistungsdruck an Schulen keine Mittel sind, um unsere Kinder und Jugendlichen adäquat auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorzubereiten.

Klaus Bullan ist Lehrer in Hamburg