Georg Lukács - eine marxistische Ontologie

Bei einer zeitgemäßen Erneuerung marxistischen Denkens führt kein Weg um das Werk des 1971 im Alter von 86 Jahren gestorbenen Georg Lukács. Dafür spricht sein Lebensweg, seine Parteinahme in den Kämpfen der Epoche. Lukács hat für die kommunistische Bewegung des zwanzigsten Jahrhunderts, für Vernunft und Humanität leidenschaftlich gestritten und den Sozialismus der Oktoberrevolution mit der gleichen Entschiedenheit verteidigt wie er ihn nüchtern analysiert und kritisiert hat. Dafür spricht ebenso seine Rolle im marxistischen Denken dieser Zeit, sein theoretisches Erbe, die überreiche Fülle der von seinen Schriften - man spricht von tausend Titeln - ausgehenden geistigen Impulse. Im Folgenden soll versucht werden, dies anhand einiger Positionen seines Spätwerkes, der ‚Ontologie des gesellschaftlichen Seins‘, zu zeigen. Zu bedenken ist, daß es sich bei diesem mehr als 1400 Seiten umfassenden Buch um die "ehrgeizigste und wichtigste philosophische Ausarbeitung des Marxschen Denkens" der letzten Jahrzehnte handelt [1] , zugleich jedoch um sein "problematischste(s)" Werk [2] , welches zudem - ungeachtet wichtiger Publikationen und Stellungnahmen [3] - als "ungenügend erforscht und analysiert" [4] gilt. Der Reiz der Auseinandersetzung kann dadurch nur erhöht werden. [5] Mit der Konzentration auf die ‚Ontologie‘, an der Lukács buchstäblich bis zu seinem Tode gearbeitet hat, soll keiner unreflektierten Gegenüberstellung eines ‚späten‘ und eines ‚frühen‘ Lukács das Wort geredet werden oder eine Isolierung des Alterswerkes dem Gesamtschaffen gegenüber erfolgen. Die unbestreitbaren Brüche und Zäsuren im Laufe dieses fast sieben Jahrzehnte währenden Gelehrten- und Politikerlebens sind ausführlich kommentiert worden. Nicht minder wichtig sind freilich Kontinuitäten und durchgehende Lösungsansätze oder Begrifflichkeiten. So ist die ‚Ontologie‘ zweifellos als ‚letztes Wort‘ zu einem Grundproblem aufzufassen, das Lukács spätestens seit Beginn seines direkt politischen Lebens gegen Ende des ersten Weltkrieges immer wieder beschäftigt hat: Die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen menschlichen Handelns. Die ‚Ontologie‘ enthält die reifste, von politischen Konstellationen ungetrübte Auseinandersetzung mit eigenen Positionen - vor allem natürlich in ‚Geschichte und Klassenbewußtsein‘ (1923) - die immer wieder Gegenstand kritischer Debatten gewesen sind.

Warum Ontologie?

Der Platz der ‚Ontologie‘ in der marxistischen Theoriegeschichte wird nicht selten als "subjektive" oder "ontologische" "Wende im Marxismus" apostrophiert. [6] Daß es Lukács in diesen Jahren in verstärktem Maße um eine Akzentuierung des Subjektiven im Marxismus ging, wird auch von anderen Gesichtswinkeln her vermerkt. [7] Von einer Wende zu sprechen, ist zweifellos gerechtfertigt, um die Bedeutung, das Neuartige dieses Ansatzes angemessen zu würdigen. Zu präzisieren wäre der Bezugspunkt. Worauf bezieht sich diese Wende? Lukács selbst hat sich unmißverständlich über seine Beziehung zu Marx geäußert. In einem für den philosophischen Weltkongreß 1968 geplanten Vortrag bezeichnet er es als Aufgabe seiner ‚Ontologie‘, "aufzuzeigen, daß das philosophisch entscheidende an der Tat von Marx" darin bestand, "theoretisch wie praktisch die Umrisse einer materialistisch-historischen Ontologie aufzuzeichnen". [8] An anderen Stellen schreibt er, daß er die Marxsche Ontologie "wiedererwecken", ihre Prinzipien "formulieren" (1/34; 2/738) [9] wolle. Lukács war demnach keineswegs bestrebt, das philosophische Konzept von Marx durch etwas anderes, durch "seine" Ontologie, zu ersetzen. Umso mehr aber erhebt sich die Frage, aus welchen Gründen und mit welcher Absicht Lukács den Marxismus als Ontologie rekonstruieren, das Ontologische des Marxschen philosophischen Denkens so stark betonen wollte. Und dies, obwohl er sich bewußt war, damit gegen Gewißheiten zu verstoßen, die im marxistisch-leninistischen Selbstverständnis vorherrschten: "Wir wissen sehr wohl, daß dieser (der Marxismus - E.H.) philosophiehistorisch selten als Ontologie aufgefaßt wurde." [10] Der übergreifende Ausgangspunkt ist wohl darin zu sehen, daß die ‚Ontologie‘ als Vorarbeit zu einer Ethik entstanden ist. Der Versuch, eine marxistische Ethik materialistisch zu fundieren, begegnet einem grundlegenden Widerspruch im philosophisch-ethischen Denken der letzten Jahrhunderte - mit dieser Problemstellung beginnt Lukács den urspünglichen Text der ‚Ontologie‘. Das gesellschaftliche Sein wurde entweder nicht vom Sein überhaupt unterschieden, oder ihm wurde ein derartiger Sonderstatus zugesprochen, daß sein Charakter als Sein sich verflüchtigte. Aus dieser unvermittelten Gegenüberstellung ergab sich zangsläufig der besonders in der deutschen Geistesgeschichte seit Kant hinlänglich bekannte schroffe Kontrast "der Welt des materiellen Seins als Reich der Notwendigkeit zu einem rein geistigen Reich der Freiheit", eine Spaltung zwischen "reine(r) Naturerkenntnis und reine(r) Moral." (1/325) Es leuchtet ein, daß eine materialistische Begründung der Ethik auf dieser theoretischen Basis nicht möglich ist. Den Fehler, das gesellschaftliche Sein in seiner Eigenart nicht hinreichend vom Sein überhaupt zu unterscheiden, lastet Lukács vor allem dem ‚alten Materialismus‘ an. Der vormarxsche mechanische Materialismus habe sich einseitig auf das "Natursein" orientiert und die "Kausalverkettung aller Gegenständlichkeiten und Prozesse in der anorganischen Natur als absolut verbindlich für das gesamte Sein", also auch für die Gesellschaft, angesehen. Damit aber habe er die Praxis ignoriert bzw. lediglich als "untergeordnete, empiristische ‚Erscheinungsform‘ der idealistischen Weltanschauung" betrachtet und jenen "anschauenden", sich auf Kontemplation beschränkenden, Charakter angenommen, den Marx in der ersten Feuerbach-These kritisiert. Die Kritik von Marx sei eine ontologische und seine Ontologie eine kritische. Sie erkenne die "ontologische Zentralstelle der Praxis im gesellschaftlichen Sein" an, gehe von der "ontologischen Priorität der Praxis der bloßen Kontemplation der Wirklichkeit ... gegenüber aus". (1/26, 37) Das entscheidende und spezifische Merkmal des gesellschaftlichen Seins ist das aktive Verhältnis der Menschen zu seiner Umwelt, es beruht primär und unaufhebbar auf der Praxis. Diese Praxis allerdings ist kein Absolutum, nichts Unbedingtes! Sehr zu Recht verweist Rüdiger Dannemann darauf, daß die ‚Ontologie‘ einen Bruch mit der Praxisphilosophie der zwanziger Jahre markiert, die von Gramsci, Korsch und Lukács selbst damals begründet worden war - was "die intellektuellen Protagonisten der sechziger Jahre" nicht erkannt hätten. Praxis nämlich sei stets an Bedingungen gebunden. [11] So ergänzt Lukács denn auch sein Plädoyer: Alle wirklichen relevanten Kennzeichen des gesellschaftlichen Seins "können nur aus der ontologischen Untersuchung der Voraussetzungen, des Wesens, der Folgen etc. dieser Praxis in ihrer wahren, seinshaften Beschaffenheit begriffen werden." (1/37) In dieser Wendung manifestiert sich die zweite Frontstellung der ‚Ontologie‘: gegen subjektivistische und idealistische Überhöhungen der Praxis bzw. der Spezifik des gesellschaftlichen Seins. Die ‚Prolegomena zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins‘, eine nachträgliche Ausarbeitung zur Auseinandersetzung mit der von einigen seiner Schüler an der ‚Ontologie‘ geübten Kritik eröffnet Lukács mit dem Credo, sein "Versuch, das philosophische Denken der Welt auf das Sein zu basieren" rechne mit vielfältigem Widerstand. Sei doch die jahrhundertelange Herrschaft von Erkenntnistheorie, Logik und Methodologie noch lange nicht überholt. (1/7) Der Polemik gegen die Vorherrschaft der Erkenntnistheorie begegnen wir in der ‚Ontologie‘ auf Schritt und Tritt. Ihren Kern muß man in der Warnung vor der Gefahr sehen, den philosophischen Zugang zur objektiven Wirklichkeit durch die ausschließliche Fixierung auf Aktivitäten des Erkennens zu entstellen, eine Weltanschauung auf Gesetzen des Erkennens und nicht auf denen des zu Erkennenden oder des Erkannten aufzubauen. Kant wolle "vom Erkenntnisvermögen aus die Wirklichkeit und nicht vom Sein aus die Erkenntnis begründen". (1/22) Das Gemeinsame in den Bestrebungen von Berkeley und Kant sei, "erkenntnistheoretisch nachzuweisen, daß unseren Erkenntnissen über die materielle Welt keine ontologische Bedeutung zugesprochen werden kann." Den Neukantianern wirft Lukács vor, noch nicht einmal das Kantsche ‚Ding an sich‘ gelten zu lassen. Mit diesem Begriff habe Kant immerhin noch eine "ontologische Wirklichkeit" anerkannt, wenn auch als "prinzipiell unerkennbar". (1/339) Noch einen Schritt weiter gehe der Neopositivismus, der "die Wahrheit durch praktisch-unmittelbare Zielsetzungen" und "Wirklichkeitserkenntnis durch eine Manipulation der in der unmittelbaren Praxis unerläßlichen Objekte" zu ersetzen versuche. (1/341) Auch auf diesem Fundament ist also eine materialistische Ethik nicht möglich. Wie Lukács dem ‚anschauenden‘ Materialismus gegenüber die philosophische Relevanz der Praxis betont, so gegenüber subjektivistischen Positionen die der objektiven Wirklichkeit. Ausgangspunkt religiöser Weltbilder seien Bemühungen um Sinngebungen und Verhaltensnormen zum realen Leben. Ausgangspunkt einer philosophisch-wissenschaftlichen Ontologie hingegen sei die Untersuchung der objektiven Wirklichkeit, "um den realen Spielraum für die reale Praxis (von der Arbeit bis zur Ethik)" aufzuzeigen. (1/331f) Für eine verabsolutierende Erkenntnistheorie wie für Religion sei eine (subjektiv gefaßte) Notwendigkeit das "alles determinierende Zentrum", für eine wissenschaftliche Ontologie sei das Sein der "alles fundierende Mittelpunkt". (1/145) Es geht Lukács mit diesen Polemiken nicht nur um Ethik oder Erkenntnistheorie. Wenn intensive Aktivitäten der zeitgenössischen bürgerlichen Philosophie darauf zielen, allein schon die Frage nach einer objektiven Wirklichkeit als unwissenschaftlich abzutun, so nicht zuletzt deshalb, weil eine bewußt auf das materielle Sein orientierte ontologische Denkweise die Gegensätze der kapitalistischen Gesellschaft und das "Wesen der eigenen Praxis" der Bourgeoisie hervorkehren würde. (1/34) Die Kritik richtet sich zugleich gegen Defizite und Deformationen im nach­marxschen Denken. Darauf ist zurückzukommen. An dieser Stelle beschränken wir uns auf den Hinweis, daß Lukács theoretisch am Stalinismus immer wieder einen subjektivistischen Grundzug kritisiert: Theorie sei auf Taktik reduziert worden, die taktische Entscheidung habe eine dogmatische Verabsolutierung erhalten. (1/310; 2/497ff) Und auch in diesem Kontext taucht die kritische Formel der ‚Manipulation‘ auf. In dem Gespräch mit Wolfgang Abendroth, Hans Heinz Holz und Leo Kofler vom September 1966 sagt Lukács: "Mit Stalin kam eine manipulierende Richtung in die Versuche zur theoretischen Begründung sozialistischer Entscheidungen, im Gegensatz zur Periode von Marx und Lenin." In der "Vorherrschaft des Taktischen vor dem Theoretisch-Prinzipiellen" sieht Lukács einen neopositivistische(n) Einschlag." [12] Er stellt dem die Forderung nach einer "ontologischen Selbstkontrolle der Revolution" entgegen, nach der Analyse der "Veränderung des umzuwälzenden Objekts". (2/479; 1/236)

Praxis und Bewußtsein

Letztlich sucht Lukács nach einer philosophischen Alternative zum Dualismus von Denken und Sein, zu der schematischen Gegenüberstellung einer "unveränderlich-ewig vorgestellten Welt" und eines "gleichfalls ohne Genesis" vorgestellten Denkens. Die neuzeitliche Kritik (DescartesÂ’ "cogito ergo sum") habe die theologische Fassung dieses Dualismus nicht überwinden können. Auch der Kampf zwischen Materialismus und Idealismus im 17. und 18. Jahrhundert habe die Auffassung einer Unableitbarkeit des Denkens aus dem Sein und damit "das erkenntnistheoretische Prinzip als Mittelpunkt der philosophischen Methode" nicht erschüttert. (1/249f) Für den Idealismus gelte das Geistige als etwas an sich Ungeschaffenes, Unentstandenes - für den Materialismus bestenfalls als einfaches Produkt, als eine Art "Epiphänomen der Bewegung des Materiellen". (1/300) Das wirkliche Aufbrechen dieses erkenntnistheoretischen Paradigmas sei erst der "genetisch-historische(n) Auffassung" von Marx zu verdanken. Erst infolge der "ontologischen Auffassung des Funktionierens der Denkakte" (1/300) als unentbehrliche und wesensbestimmende Momente des gesellschaftlichen Seins, als aktiv wirkende Kräfte in der gesellschaftlichen Bewältigung des Seins sei das Problem der seinsbedingten Genesis des denkenden Bewußtseins gelöst worden. Darin sieht Lukács die "resolut neue Stellungnahme von Marx zur Erkenntnis als solcher": Im Mittelalter habe die religiöse Transzendenz ontologisch dominiert, als höchste Erkenntnis habe deren Erscheinung gegolten; die neuzeitliche Revolution habe das Denken der Welt als etwas ontologisch Originäres, als nicht mehr ableitbares Weltprinzip aufgefaßt; für Marx dagegen entwickelt sich das "denkende Erkennen des Seins ... aus den Existenzbedingungen und aus den auf diese aktiv reagierenden Praxisweisen allmählich zu einer - freilich letzthin relativen - Selbständigkeit". (1/292) Das philosophische Fundament dafür ist die Herausarbeitung der gegenständlichen Tätigkeit des Menschen. In der Wechselwirkung zwischen menschlicher Aktivität und naturhaft gegebenen oder gesellschaftlich vermittelten gegenständlichen Objekten vollendet sich die Praxis, aus der die Bewußtheit als "unerläßliche Vorbedingung der neuen, der aktiven Anpassung an die Umgebung entspringt". Das Bewußtsein ist "seiner seinsmäßigen Genesis nach ... das unerläßliche, fundierende Moment dieses neuen Seinsprozesses". (1/244) Und deshalb sieht Lukács in der Anerkennung der ontologischen Priorität der Praxis die Voraussetzung für die theoretische Bestimmung der Spielräume menschlichen Handelns, für das Projekt einer materialistisch begründeten Ethik. Dieser Fragestellung gegenüber sei die erkenntnistheoretische Alternative einer Priorität des Denkens oder des Seins sekundär. In der Ontologie von Marx ist "jedes gesellschaftliche Sein mit Bewußtseinsakten ... untrennbar verbunden". (1/303, 675) [13] Zugleich legt Lukács viel Gewicht auf die differenzierte Begründung des materialistischen Charakters dieser Ontologie. Erstens kommt dem Sein die ontologische Priorität vor dem Bewußtsein zu - es gibt ein Sein ohne Bewußtsein, jedes Bewußtsein aber muß etwas Seiendes zur Voraussetzung haben. (1/582, 676) Das Konzept der dialektischen Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit ist ein unverzichtbarer Bestandteil dieses Ansatzes. (1/327) Zweitens wird die Genesis des Bewußtseins aus dem Sein erklärt - als "spätes Produkt" der materiellen Entwicklung und als "Funktionsbedingung einer spezifischen Seinsart". [14] Drittens anerkennt eine materialistische Ontologie dem Wesen der objektiven Wirklichkeit entsprechend "Seinsstufen": anorganische Natur, organische Natur, Gesellschaft. (2/146) Das methodische Prinzip ist jedoch nicht auf diese Unterscheidung beschränkt. "Die materialistische Wendung in der Ontologie des gesellschaftlichen Seins, zustande gekommen durch die Entdeckung der ontologischen Priorität der Ökonomie in ihm, setzt eine materialistische Ontologie der Natur voraus." (1/566, 562) LukácsÂ’ Plädoyer für eine Ontologie meint also keine Schmälerung der erkenntnistheoretischen Fragestellung. Wogegen er sich wendet, ist die Dominanz der Erkenntnistheorie, die Gefahr einer unzulänglichen Orientierung des philosophischen Denkens auf die wirkliche Beschaffenheit des gesellschaftlichen Seins. Und es gelingt m.E. Lukács mit diesem Ansatz, der Rolle des Ideellen, des Bewußtseins, in Geschichte und Gesellschaft gerecht zu werden, ohne den Materialismus aufzugeben. Lukács macht Ernst mit der Überlegung Lenins, daß "der Gegensatz zwischen Materie und Bewußtsein nur innerhalb sehr beschränkter Grenzen von absoluter Bedeutung" ist, nämlich "in den Grenzen der erkenntnistheoretischen Grundfrage, was als primär und was als sekundär anzusehen ist. Außerhalb dieser Grenzen ist die Relativität dieser Entgegensetzung unbestreitbar." [15] Lukács überschreitet diese Grenze, ohne sie aufzugeben oder zu verwischen. Indem er den Unterschied und den Zusammenhang der ontologischen und der erkenntnistheoretischen Fragestellung ausleuchtet, vermag er die Funktion des Ideellen zu akzentuieren, ohne sie als Einschränkung oder Relativierung seines Abgeleitetseins aufzufassen. Ein weiterer Beleg dafür, daß die in diesem Sinne ‚welterzeugende‘ Rolle des Bewußtseins keinen logischen Gegensatz zu seinem Widerspiegelungscharakter darstellt.

Fehlentwicklungen im marxistischen Denken

Ehe wir im Folgenden die Ausführung dieser Position skizzieren, müssen wir auf die Frage nach dem Bezugspunkt der ‚Wende‘ zurückkommen. Daß Lukács selbst die ‚Ontologie‘ als Rückkehr zu Marx und Wiedererweckung seiner Methode verstanden hat, wurde erwähnt. Gleichwohl markiert sie eine ‚Wende‘, und zwar in bezug sowohl auf fehlerhafte Entwicklungen im marxistischen Denken des zwanzigsten Jahrhunderts als auch auf Defizite im Werk von Marx und Engels selbst. Wiederholt bezieht sich Lukács auf Friedrich Engels, der in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts schematische und mechanistische Tendenzen im Verständnis des historischen Materialismus beklagt hatte. In seinen berühmten ‚Altersbriefen‘ führte er dies unter anderem darauf zurück, daß Marx und er selbst dem Gedanken der Wechselwirkung aller Momente der geschichtlichen Totalität gegenüber der Herleitung der ideellen aus den materiellen Prozessen nicht genügend Beachtung geschenkt hätten. [16] In der Nachfolge von Marx und Engels sieht Lukács zwei Entwicklungen, in denen diese Fehlstellen Ausdruck erlangen und zugleich die Mängel des vormarxschen Materialismus und Idealismus reproduziert werden. Einerseits habe - als Reaktion auf idealistische Positionen von Theoretikern der II. Internationale wie Bernstein und Cunow - die Theorie einen Akzent von "falscher Objektivität", von "unaufgelöster Dinghaftigkeit" erhalten. Ökonomische Beziehungen seien - so sein Einwand gegen Bucharin 1925 - nicht konsequent genug auf gesellschaftliche Beziehungen von Menschen zurückgeführt worden. [17] Gesellschaftliche Erscheinungen seien nach wie vor nach dem Vorbild von Naturprozessen interpretiert worden. Zahlreiche Nachfolger von Marx hätten dem vulgärmechanistischen Vorurteil Tribut gezollt, "aus der objektiven Gesetzlichkeit der Ökonomie eine Art spezieller Naturwissenschaft" zu machen. Ökonomische Gesetze seien derart fetischisiert worden, "daß der einzelne Mensch als ein völlig einflußloses Objekt ihrer Wirksamkeit erscheinen mußte." (1/227) Auf der anderen Seite sei bei dem Bemühen um die Würdigung der ideellen Triebkräfte der Geschichte deren nicht auf die Gesellschaft reduzierbare seins­mäßige Verankerung ignoriert worden. Über der Spezifik des gesellschaftlichen Seins sei dessen Verbindung mit dem Sein überhaupt, beispielsweise die Dialektik von Biologie und Ökonomie, zu kurz gekommen. (2/150) In diesen Zusammenhang stellt Lukács auch Fehler von ‚Geschichte und Klassenbewußtsein‘. Prozeßhaftigkeit sei nicht als universelle Erscheinung verstanden, sondern nur für das gesellschaftliche Sein reklamiert worden. (1/37f) Der historische Materialismus sei unabhängig von einem "ontologisch dialektisch-materialistischen Weltbild" begründet worden. Ähnliche Ansätze sieht Lukács bei Gramsci und Sartre. (1/38, 57; 2/151) Entschieden wendet sich Lukács auch gegen die theoretische Verwässerung des Materiellen im gesell­schaftlichen Sein, z.B. die Reduktion ökonomischer Verhältnisse auf geistige durch Max Adler. (2/298)

Die Arbeit als Modell der gesellschaftlichen Praxis

Die Ausführung des vorstehend skizzierten Ansatzes muß darauf hinauslaufen, die Spezifik des gesellschaftlichen Seins auf dem Hintergrund des Seins überhaupt, die Einheitlichkeit und die Verschiedenheit der anorganischen, der organischen und der gesellschaftlichen Seinsart zu zeigen. Diese Analyse gipfelt für Lukács in der Darstellung der Arbeit. Die Arbeit vermittelt den Übergang vom anorganischen und organischen zum gesellschaftlichen Sein. In ihr realisiert sich die Wechselbeziehung zwischen Mensch (Gesellschaft) und Natur auf ursprüngliche und direkte Weise, während alle anderen Momente dieser neuen Seinsform bereits "rein gesellschaftlichen Charakters" sind. (2/9) Die Arbeit enthält im Kern alle Bestimmungen, die das Wesen des Neuen am gesellschaftlichen Sein ausmachen. Sie ist in mehrfacher Hinsicht als Modell dieses Seins und der gesellschaftlichen Praxis anzusehen. (2/46ff) Erstens: Das wesentlich trennende Moment der Arbeit gegenüber der biologischen Auseinandersetzung der Lebewesen mit ihrer Umwelt sieht Lukács in der Rolle des Bewußtseins. Das Bewußtsein hört auf, als bloßes Epiphänomen der Reproduktion zu fungieren. Das Produkt der Arbeit ist vielmehr ideell beim Beginn des Arbeitsprozesses bereits in der Vorstellung des Arbeiters vorhanden. Natürlich erinnert Lukács in diesem Zusammenhang an MarxÂ’ Analyse im ‚Kapital‘. Es geht aber noch um etwas anderes. "Es scheint vielleicht auffallend, daß gerade bei der materialistischen Abgrenzung des Seins der organischen Natur vom gesellschaftlichen Sein, dem Bewußtsein eine derart ausschlaggebende Rolle zugeschrieben wird." Man dürfe jedoch nicht vergessen, daß die "hier auftauchenden Probleme (ihr höchster Typus ist der von Freiheit und Notwendigkeit)" nur bei einer wahrhaft aktiven Rolle des Bewußtseins "gerade ontologisch - einen Sinn erhalten können". [18] Wo es kein Bewußtsein in diesem Sinne gibt, können auch derartige Probleme nicht auftreten. Und umgekehrt müssen sie auftreten, wo das Bewußtsein diese tragende Funktion ausübt. Zweitens: Die Arbeit vollzieht sich vermittels teleologischer Setzungen, die ihrerseits Kausalreihen hervorrufen. Mit dem Problem eines materialistischen Teleologie-Verständnisses hatte Lukács sich schon im ‚Jungen Hegel‘ intensiv auseinandergesetzt - unter Bezugnahme auf Lenin, der in Hegels Sicht der Dialektik von Zweck und Mittel (Werkzeug) Ansätze des historischen Materialismus sah. [19] Wesentlich dabei sind vier Gesichtspunkte: - In der Arbeit geht die ideell hervorgebrachte teleologische Setzung der materiellen Verwirklichung voraus. - Dies geschieht im Rahmen einer real unauflösbaren Komplexität. Eine ideelle Setzung ohne materielle Realisierung bleibt eine reine Vorstellung. Und die materielle Realisierung kann ohne vorangehende Setzung nicht stattfinden - die Natur hat kein Wasserrad hervorgebracht. (2/297f, 343) - Die erkenntnistheoretische Priorität des Materiellen steht außer Frage. Materielle Gegebenheiten entscheiden über die Richtigkeit und den Erfolg der Setzung. (2/352) - Lukács unterstreicht, daß gesellschaftliches Geschehen zwar auf teleologischen Setzungen beruht, selbst in seiner Entwicklung aber kausalen Charakter trägt. Jede entwickelte Gesellschaft wird im wesentlichen von Aktivitäten bewegt, die teleologischen Ursprungs sind. Sie konstituiert sich gleichwohl aus Kausalzusammenhängen, die "nie und nirgends, in keiner Beziehung teleologischen Charakters sein können." [20] Die Bedeutung dieses Konzepts für das Verständnis von Gesellschaft und Geschichte unterstreicht Lukács, wenn er die teleologischen Setzungen verallgemeinernd als "Handlungsstrukturen" bezeichnet. (2/114) [21] Ihre Struktur im einfachen Arbeitsprozeß kann natürlich nur als abstraktes Modell gelten. Lukács unterscheidet verschiedene Typen von Setzungen je nach dem Objekt, auf das sie sich beziehen. In dem Maße, in dem sie sich auf komplexe gesellschaftliche Gegenstände oder Situationen, z.B. das Verhalten anderer Menschen oder das Selbst, beziehen, nimmt die Vielfalt der Determinanten, die auf sie einwirken, zu. (2/109) Und der Weg von der Entscheidung zum praktischen Erfolg oder Scheitern gestaltet sich immer verschlungener. (2/53) Drittens: Die teleologischen Setzungen tragen Alternativcharakter. Sie fußen auf Entscheidungen, die ihrerseits in eine Vielzahl von Erkenntnisprozessen, Erfahrungen, Bedürfnissen etc. eingebettet sind. Die "Alternativentscheidungen eines konkreten Menschen" wertet Lukács als das "unmittelbare ‚Element‘ des gesellschaftlich-geschichtlichen Geschehens, das trotz seiner inneren Komplexität als Bestandteil gesellschaftlicher Komplexe gerade seinshaft nicht mehr zerlegt werden kann, sondern so wie es ist, in seinem Geradeso­sein als Element zu behandeln ist." (2/232) Genannt werden müssen einige weitere Bestimmungen, die Lukács mit dieser Analyse verbindet und die zugleich die modellhafte Bedeutung der Arbeit für das Wesen des gesellschaftlichen Seins erhellen: - Als Moment des gesellschaftlichen Seins gehen teleologische Setzungen mit einer "Subjekt-Objekt-Dualität" einher. Darin sieht Lukács die ontologische Grundlage für die Phänomene des Sollens [22] und des Wertens. Das Sollen reguliert eine gewissermaßen vorgängige Beurteilung der Setzungen nach dem Kriterium gegebener Ziele. Diese werden ihrerseits wesentlich von Werten beeinflußt. (2/62, 67) Damit erhöhen sich nicht nur die Erfolgschancen realen Handelns. Die historische Ausprägung und Vervollkommnung dieses ‚Regelmechanismus‘ muß als wesentliche Seite menschlicher Subjektivitätsentwicklung angesehen werden. Das Sollen appelliert an bestimmte Seiten der "Innerlichkeit" des Subjekts. "Die Selbstbeherrschung des Menschen, die notwendigerweise zuerst als Wirkung des Sollens in der Arbeit auftaucht, die wachsende Herrschaft seiner Einsicht über die eigenen spontan biologischen Neigungen, Gewohnheiten etc. wird durch die Objektivität des Prozesses geregelt und gelenkt; diese ist aber ihrem Wesen nach im Naturdasein des Objekts, der Mittel etc. der Arbeit fundiert." (2/66) Im Sollen sieht Lukács das Auftreten einer neuen Praxisform, einer "umgedreht" determinierten Praxis. Setzungen sind "Sollensbeziehungen, Akte, in denen nicht die Vergangenheit in ihrer spontanen Kausalität die Gegenwart bestimmt, in denen vielmehr die teleologisch gesetzte Zukunftsaufgabe das bestimmende Prinzip der auf sie gerichteten Praxis ist". (2/67) Auch diese theoretische Würdigung der enormen Möglichkeiten wie der tatsächlichen Bedingtheit subjektiver Einflußnahme auf das Geschehen gehört zu einer realistischen Geschichtsbetrachtung. - Der adäquaten Beurteilung der Rolle des Menschen in den ge­schichtlichen Abläufen dient auch die Bestimmung des Menschen als "antwortendes Wesen". Der Mensch reagiert nicht einfach auf äußere Bedingungen. Er artikuliert seine Reaktionen auf entsprechende Herausforderungen als Antworten auf Fragen, in die nicht nur die Verarbeitung der natürlichen, sondern nicht minder die der selbstgeschaffenen Umgebung eingeht, in der nicht nur die gegebene objektive Konstellation von Gegenständen, sondern die Subjektivität eine gewichtige Rolle spielt. (2/250) Arbeit ist nicht nur Befriedigung von Bedürfnissen, sondern Resultat von Entscheidungen über verschiedene Möglichkeiten, Zielen zu entsprechen. Die gegebene Situation wird von einem "denkenden und setzenden Subjekt" als Frage gedeutet. (1/54) Dieses Wechselspiel von Frage und Antwort birgt Entwicklungsmöglichkeiten in sich, von ihm gehen modifizierende Einflüsse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse wie auf die menschlichen Fähigkeiten aus. - Konsequenzen für das Geschichtsbild ergeben sich daraus, daß der Mensch seine Alternativentscheidungen und Setzungen zwar bewußt vollzieht, aber niemals in Kenntnis aller Voraussetzungen, Umstände und Folgen dieses seines Handelns. Lukács akzentuiert damit einen individuellen bzw. subjektiven Pol der von Marx und Engels erörterten Spontaneität gesellschaftlicher Prozesse. Unter anderem hieraus ergibt sich für Lukács ein Argument gegen einen "metaphysisch extrapolierenden universalistischen Rationalismus". (1/637) Wenn Lukács also die Arbeit als Modell gesellschaftlicher Praxis ansieht, so ist das m.E. nicht nur im Sinne der geschichtsphilosophischen Wertungen der Arbeit durch Marx und Engels zu verstehen. Die Einsicht in die fundamentale Rolle der Arbeit bei der Menschwerdung, in ihre Funktion als "ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens", in die Rolle von Arbeitsmitteln als Gradmesser humaner Potentiale und als "Anzeige gesellschaftlicher Verhältnisse" [23] - all das ist für Lukács selbstverständlich. Zugleich geht er darüber hinaus. Ihn interessiert die Arbeit als Ort der elementaren und zugleich für das gesellschaftliche Sein spezifischen Wechselwirkung von Materiellem und Ideellem, von Subjektivem und Objektivem. Und er schließt von der Struktur der Arbeit auf bestimmte Strukturelemente der gesellschaftlichen Praxis. Charakteristische Merkmale menschlichen Handelns und gesellschaftlicher Aktionen werden herausgearbeitet, ohne deren Berücksichtigung das gesellschaftliche Geschehen zu einem irrealen, abstrakten Schema erstarren würde. Zugleich warnt Lukács immer wieder davor, diese Modellwirkung der Arbeit als einfache Verallgemeinerung oder logische Deduktion zu verstehen. Zwischen dem Modell und den "späteren, viel komplizierteren Varianten" besteht ein Verhältnis der "Identität und Nichtidentität". (2/66) Es würde den hier gesetzten Rahmen sprengen, die Konsenquenzen dieses Ansatzes für das Gesellschafts- bzw. Geschichtsbild der ‚Ontologie‘ im einzelnen zeigen zu wollen. Abgesehen davon, daß Lukács nicht den Darstellungsprinzipien früherer Lehrbücher über dialektischen oder historischen Ma­terialismus folgt. Die ‚Ontologie‘ bietet keinen systematischen Abriß der verschiedenen Schichten oder Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Probleme der Ökonomie, des Klassenkampfes, der Politik, der Ideologie, des Rechts etc. werden selbstverständlich erörtert. Aber stets unter dem Gesichtspunkt ihrer Bewegung und Entwicklung, ihrer Besonderheiten als Momente des gesellschaftlichen Seins, als Produkt und Bedingung bewußten menschlichen Handelns. Alltagsleben, Unmittelbarkeit und Vermittlung, Homogenität und Heterogenität, Ereignis und Gesetz, Determinismus, Persönlichkeit und Individualität, Entfremdung, soziale Erkenntnis, die Ungleichmäßigkeit des Fortschritts, die widerspruchsvolle Synthese von Handlungen und sozialen Prozessen zu gesellschaftlichen Totalitäten und deren historische Reproduktion nehmen einen gewichtigen Platz ein. Immer wieder zergliedert unter dem Aspekt des ständigen Ineinanderübergehens von teleologischen und kausalen Zusammenhängen, das sich "auf allen gesellschaftlichen Ebenen der menschlichen Aktivität in immer neuen, vermittelteren und verwickelteren Formen stets neu reproduziert". [24] Lukács bietet auf diese Weise eine inhaltliche, konkrete Alternative zu schematischen und mechanistischen Zügen der materialistischen Geschichtsauffassung. Er stellt nicht abstrakt-isolierte Bereiche gegenüber, sondern widmet seine Aufmerksamkeit den vermittelnden Momenten der Entwicklung gesellschaftlicher Totalitäten bzw. der Wechselwirkung zwischen ihnen. Wenige Streiflichter mögen der Illustration dienen.

Individuum, Gattung, Menschheit

Das ontologisch ausschlaggebende Kriterium für den Prozeß der Menschheitsentwicklung habe Marx in der Entwicklung der Gattungsmäßigkeit gesehen. Die Existenz von Einzelexemplar und Gattung ist eine elementar objektive Grundeigenschaft jedes Seienden. Für die Natur gilt, was Marx in Auseinandersetzung mit Feuerbach als "stumme" Gattung, als eine die "vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit" bezeichnet. [25] Die Gattung existiert unmittelbar nur in den Einzelexemplaren. Die neue Qualität der "Gesellschaftlichkeit als neue Weise der Gattungsmäßigkeit" (1/34) ergibt sich aus der aktiven Auseinandersetzung des Menschen mit der Umwelt, aus der Arbeit und deren gesellschaftlichen Konsequenzen. Ein neuer Typus der Beziehungen zwischen Einzelexemplar und Gattung bildet sich heraus. Einerseits ist das Gattungsmäßige, das menschliche Wesen, nicht mehr ein dem Einzelexemplar innewohnendes Abstraktum, sondern das "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" (Marx). Der Mensch entwickelt sich objektiv in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, und er setzt sich zu ihnen in Beziehung. Er ist in die Lage versetzt und gezwungen, "das Denken der Welt auf den gesamten weitesten, objektiven wie subjektiven Umkreis seines Daseins auszudehnen und seine Ergebnisse zum organischen Bestandteil seiner eigenen Existenz zu machen". (1/39) Es gibt nicht mehr nur das isolierte Einzelexemplar und eine "stumme" Gattung, eine bloße Verallgemeinerung. Die zu Individuen werdenden Einzelnen erheben sich vielmehr "zu einer immer deutlicher werden Stimme, ... zur seiendgesellschaftlichen Synthese ... mit der in ihnen selbstbewußt gewordenen Menschengattung. [26] Andererseits nimmt die menschliche Gattung eine "äußere" Gestalt an. Sie erhält und reproduziert sich im Prozeß ihrer Geschichte, unterliegt einer Höherentwicklung und tritt in wechselnden Seinsformen in Erscheinung. Die "letzthinnigen" Triebkräfte des Gesamtprozesses ergeben sich aus der Ökonomie, die ihrerseits durch teleologische Setzungen vollzogen wird - die Ökonomie ist Produzent und Produkt des Menschen." (1/51) Auf diese Weise entwickelt sich die menschliche Gattung zu "einer gegliederten, innerlich differenzierten Totalität." Charakteristisch für LukácsÂ’ Herangehen ist, daß er den "prinzipiell uneinheitliche(n) Charakter" dieser Gattungsmäßigkeit als das "entscheidende Neue" früheren Gattungsformen gegenüber betont. Das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse könne "unmöglich in einer einheitlichen Weise auf die von ihm umfaßten Menschen" wirken, was bereits in den primitivsten Formen der Arbeitsteilung sichtbar werde. Je mehr Gesellschaftlichkeit die Reproduktionsprozesse auszeichnet, desto größer die spontanen Differenzierungen und Pluralitäten in der gesellschaftlichen Praxis, desto vielfältigere Entscheidungen und Reaktionsweisen sind gefordert. Darin ist eine der sozialen Grundlagen der Ausbildung des Menschen zur Individualität zu sehen. Die Reproduktion der jeweiligen Totalität ruft einerseits Anlaß, Charakter, Spielraum etc. der Handlungen der Einzelmenschen hervor. Andererseits wird sie in ihrer Gesamtbewegung von diesen Einzelimpulsen und Akten nicht unwesentlich mitbestimmt. (1/51)

Notwendigkeit und Freiheit

In LukácsÂ’ Darlegungen zur Dialektik von Notwendigkeit und Freiheit könnte man einen strukturellen und einen historischen Aspekt unterscheiden. Angelegt ist die Einheit von Notwendigkeit und Freiheit bereits in der widersprüchlichen Einheit der teleologischen Alternativentscheidungen mit ihren kausalen Voraussetzungen und Folgen. [27] Der Mensch muß wählen zwischen den Möglichkeiten eines Spielraums. [28] In gesellschaftlich-historischer Sicht beschreibt der Marxismus bestimmte historisch übergreifende Grundlinien vor allem der ökonomischen Entwicklung: Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit verkürzt sich, die Gesellschaftlichkeit des Reproduktionsprozesses erhöht sich, ursprünglich kleinere Menschengruppen integrieren sich zu größeren - was allerdings "für das Leben der Menschen und Völker die schwierigsten, zugespitztesten Konflikte aufwirft". [29] Die historische Entwicklung des materiellen Lebensprozesses erweitert so den Möglichkeitsspielraum für die freie Selbstbetätigung des Menschen und bringt eine Ausdehnung der Zahl und der Tragweite menschlicher Entscheidungen, d.h. eine Steigerung menschlicher Fähigkeiten mit sich. Die Freiheit des Menschengeschlechts erweist sich als Ergebnis seiner eigenen Tätigkeit. Dabei ist Lukács sich des gegensätzlichen Charakters der Beziehungen nicht nur zwischen indidividueller und Gattungsentwicklung, sondern auch der zwischen der Steigerung menschlicher Fähigkeiten und der Entwicklung menschlicher Persönlichkeiten durchaus bewußt. Auf der Grundlage und jenseits dieses Reiches der "Notwendigkeit" bestimmt Lukács - mit Marx - Freiheit als "menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt". Bei dieser Ausweitung des Problems zeigt sich nun wieder die Spezifik des Ansatzes von Lukács und eine interessante Durchdringung von deskriptiven und normativen Aspekten. Erstens ist natürlich "Reich der Freiheit" als Attribut eines künftigen Gesellschaftszustandes zu verstehen, geknüpft an geschichtliche Voraussetzungen. Die Menschheit muß den "Zwangscharakter der eigenen Selbstreproduktion" überholen, damit der gesellschaftliche Weg für menschliche Tätigkeit als Selbstzweck freiliegt. [30] Zweitens hält Lukács die Realisierung einer so verstandenen Freiheit in gewisser Hinsicht schon in der bisherigen Geschichte für möglich. Kriterium dafür ist eine bestimme geistige und praktische Beziehung zwischen Individuum und Gattung. Aufhebung der "stummen" Gattungsmäßigkeit bedeutet zunächst die Herausbildung praktischer Bewußtheit über die gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhänge. Dieses Bewußtsein verbleibt jedoch im Rahmen der "Partikularität". Eine "höhere Gattungsmäßigkeit" sieht Lukács in dem Streben nach einer Konvergenz zwischen persönlicher und Gattungsentwicklung verwirklicht, in einer auf Gattungsmäßigkeit intentionierten Haltung, die zugleich als "wahrhafte und konkrete Erfüllung des Einzellebens" gilt. (1/204 ff) Große Kunst und große Philosophie "sowie die beispielgebenden Verhaltensweisen einzelner handelnder Menschen" wirken in diese Richtung. Sie werden "ohne Zwang im Gedächtnis der Menschheit aufbewahrt" und akkumulieren sich als Bedingungen dafür, "die Menschen für ein Reich der Freiheit innerlich vorzubereiten". [31] In anderen Worten: "Die zum eigenen Lebensinhalt gewordene Überzeugung (die freilich auch bloß Gefühl oder Ahnung sein kann) von der Realität der Gattungsmäßigkeit für sich ist die stärkste Waffe gegen das Entfremdetwerden, das dem Menschen zur Verfügung steht." (2/555) Drittens: Zwischen Notwendigkeit und Freiheit bleibt ein unaufhebbares Spannungsverhältnis. Lukács unterstreicht, daß sowohl die objektive Erweiterung des Spielraums für Freiheitsmöglichkeiten als auch die freie Selbstbetätigung Produkt menschlicher Tätigkeit und historischer Entwicklung sind. "Die erste aber die einer notwendigen Entwicklung, die zweite des richtigen, menschenwürdigen Gebrauchs des notwendig Hervorgebrachten ... Der Mensch muß seine Freiheit durch eigene Tat erwerben." [32] Vorstehende Skizze versteht sich als Beitrag zur philosophischen Diskussion um das Spätwerk von Georg Lukács. Meine Auswahl aus dem reichen Fundus der "Ontologie" steht ebenso zur Diskussion wie alle Einschätzungen. Meine spezifische Blickrichtung ist die widerspruchsvolle Beziehung zwischen der ‚Ontologie‘ und der Entwicklung des Marxismus im Gefolge der Oktoberrevolution. Einerseits war Lukács spätestens seit Mitte der zwanziger Jahre in diesen Diskurs involviert, hat er in diesem geistigen Rahmen gewirkt. Andererseits waren Schriften von Lukács nicht selten Gegenstand der Kritik von Repräsentanten des offiziellen Marxismus-Leninismus. Die außerordentliche Bedeutung der ‚Ontologie‘ - in Zusammenhang mit ‚Demokratisierung heute und morgen‘ [33] - sehe ich darin, daß Lukács das Fazit seiner Position bzw. seiner Kritik an den Fehlentwicklungen des Marxismus-Leninismus unzweideutig artikuliert, ohne den Grundansatz von Marx und von Lenin zu sprengen. Lukács vermag Defizite oder Irrwege zu benennen und substantielle Alternativen zu bieten, weil seine Maßstäbe die stringente Logik der materialistischen Geschichtsauffassung sowie die objektiven Erfordernisse einer sozialistischen Praxis sind. Zu einer - bislang ausstehenden - historisch sachgemäßen Wertung der marxistisch-leninistischen Denkrichtung hat Lukács nicht zuletzt mit seinen Bemerkungen zum Verhältnis von Theorie und Politik, zu einer verhängnisvollen Unterordnung von Theorie unter Erfordernisse der Taktik entscheidendes beigesteuert. Meiner Meinung nach ergibt sich daraus auch ein wichtiger Gesichtspunkt für die zeitgemäße Aufbereitung und Aneignung des theoretischen Erbes von Lukács selbst. Betrachtet man die Debatten um "Geschichte und Klassenbewußtsein" in den zwanziger Jahren, um die Blum-Thesen, die Auseinandersetzungen am philosophischen Institut in Moskau Anfang der dreißiger Jahre oder auch Äußerungen zu den in den siebziger Jahren vorab veröffentlichten Einzelkapiteln der ‚Ontologie‘, so fällt auf, daß - in der Regel sehr weitgehende - Urteile und Wertungen nur selten am Text des Kritisierten orientiert waren. Das Bemühen, die Argumentation und die Gedankengänge des betreffenden Werkes zu rekonstruieren, um darauf die Kritik aufzubauen, fehlte weitgehend. Vorherrschend war das Bestreben, tatsächliche oder vermeintliche politische Wirkungen einer Auffassung, einer These oder eines Buches zu attackieren, und das durch diese oder jene Textstelle zu belegen. Dieses Verfahren ist gewiß kein Privileg des marxistisch-leninistischen Diskurses. Eine Auffassung muß nicht falsch sein, weil sie politisch intendiert ist - und eine an politischen Prinzipien orientierte Kritik kann theoretisch durchaus berechtigt sein. Lukács wollte politisch wirken. Worum es hier einzig und allein geht, ist, festzuhalten, daß etliche Arbeiten von Lukács es verdienen, in dieser Hinsicht neu gelesen zu werden. Anzustreben wäre, die politische Dimension der betreffenden Auseinandersetzung konkret auf die gegebene Situation zu beziehen, um die theoretische Substanz ohne Einschränkung zu ihrem Recht kommen zu lassen. Die weitere Erschließung der "Ontologie" könnte dafür als Beispiel dienen. Sie steht erst am Anfang. [1] Nicolas Tertullian, Gedanken zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, angefangen bei den Prolegomena, in: Rüdiger Dannemann/Werner Jung (Hg.), Objektive Möglichkeit. Beiträge zu Georg Lukács ‚Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins‘. Frank Benseler zum 65.Geburtstag. Opladen 1995 (im Folgenden zitiert als OM), S. 150. [2] Frank Benseler (Hg.), Revolutionäres Denken - Georg Lukács. Eine Einführung in Leben und Werk (im Folgenden zitiert als RD), S. 232. [3] Verwiesen werden muß besonders auf die Aktivitäten Frank Benselers und der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft e.V. Paderborn. Instruktive Überblicke bieten die bereits zitierte Einführung von Frank Benseler sowie Rüdiger Dannemann, Georg Lukács zur Einführung, Junius Verlag, Hamburg 1997. Wichtige Anregungen und Hinweise geben Arbeiten von Hans Heinz Holz, Leo Kofler, Thomas Metscher, Werner Mittenzwei und Werner Seppmann sowie: Manfred Buhr/Jozsef Lukács (Hg.), Geschichtlichkeit und Aktualität, Berlin 1985 - die Materialien des internationalen Symposions der Akademie der Wissenschaften der DDR aus Anlaß des 100. Geburtstages von Georg Lukács. [4] Nicolas Tertullian, OM, S. 165. [5] Der vorliegende Beitrag verfolgt vor allem die Absicht, den Leser mit einigen Gedankengängen von Lukács in der ‚Ontologie‘ bekannt zu machen. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, daß diese Schrift - verglichen mit der Aufmerksamkeit beispielsweise für ‚Geschichte und Klassenbewußtsein‘ im aktuellen Marxismus-Diskurs viel zu wenig Beachtung findet. Die Entscheidung für die unvermeidliche Auswahl und Beschränkung sowie alle Wertungen bedürfen der Diskussion. [6] Frank Benseler, Der späte Lukács und die subjektive Wende im Marxismus - Zur ‚Ontologie des gesellschaftlichen Seins‘, in: OM, S. 127; Rüdiger Dannemann, Lukács zur Einführung, a.a.O., S. 94. [7] Nicolas Tertullian, OM, S. 161; es sei daran erinnert, daß Alfred Schmidt 1969 ‚Geschichte und Klassenbewußtsein‘ das Verdienst zuschrieb, einen "Neuansatz" zu der Marxschen Frage zu enthalten: Wie ist der vom Idealismus entwickelte Begriff welterzeugender Subjektivität materialistisch umzuarbeiten? Furio Cerutti, Detlev Claussen u.a.; Geschichte und Klassenbewußtsein heute, Amsterdam 1971, S. 9; realisiert wurde dieser Ansatz freilich erst mit der ‚Ontologie‘. [8] Georg Lukács, Die ontologischen Grundlagen, in: RD, S. 267. [9] Georg Lukács, Prolegomena. Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, 1.Halbband, herausgegeben von Frank Benseler, Darmstadt und Neuwied; Georg Lukács, Prolegomena. Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, 2.Halbband, in Verbindung mit dem Lukács-Archiv Budapest herausgegeben von Frank Benseler, Darmstadt und Neuwied 1986 (Im folgenden beziehen sich Band- und, durch Schrägstrich getrennt, Seitenzahlen in Klammern im Text auf dieses Werk). [10] RD, S. 266. [11] Rüdiger Dannemann, Lukács zur Einführung, a. a. O., S. 88f. [12] Hans Heinz Holz, Leo Kofler, Wolfgang Abendroth, Gespräche mit Georg Lukács, herausgegeben von Theo Pinkus, Reinbek 1967, S. 123. [13] Die ontologische Auffassung des Bewußtseins vornehmlich in seiner für die Entwicklung des gesellschaftlichen Seins unentbehrlichen Funktion hat natürlich gravierende Konsequenzen für die Ideologietheorie, die Lukács im zweiten Halbband der ‚Ontologie‘ ausführlich darlegt. Vgl. dazu Erich Hahn, Reichweite und Grenze des Marxschen Ideologiekonzepts, in: Topos, Heft 13/14, Bielefeld 1999. [14] RD, S. 267 und 1/244. [15] W. I. Lenin, Werke, Bd.14, Berlin 1962, S. 143. [16] Friedrich Engels, Briefe über den historischen Materialismus (1890-1895), Vorbemerkung von Friedrich Richter, Berlin 1979. [17] Georg Lukács, N. Bucharin: Theorie des historischen Materialismus (Rezension), in: Georg Lukács, Schriften zur Ideologie und Politik, ausgewählt und eingeleitet von Peter Ludz, Darmstadt und Neuwied 1973, S.190. [18] RD, S. 269. [19] Georg Lukács, Der junge Hegel, Aufbau-Verlag Berlin 1954, S. 389 ff; W. I. Lenin, Werke, Bd. 38, Berlin 1964, S. 175 ff; vgl. Friedrich Engels, Dialektik der Natur, MEW, Bd. 20, Berlin 1962, S. 497. [20] RD, S. 271, 275f. [21] Rüdiger Dannemann schreibt, daß die ‚Ontologie‘ "die Bedingungen und Strukturen menschlichen Handelns untersucht". Rüdiger Dannemann, Lukács zur Einführung, a.a.O., S. 95. [22] Vgl. Georg Lukács, Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog. Redaktion Istvan Eörsi, Frankfurt 1981, S. 235. [23] Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, MEW Bd. 23, Berlin 1962, S. 195, 199. [24] RD, S. 280. [25] Karl Marx, Thesen über Feuerbach, MEW Bd. 3, Berlin 1958, S. 6. [26] RD, S. 279. [27] RD, S. 280. [28] Gespräche mit Georg Lukács, a. a. O., S. 103. [29] RD, S. 278. [30] RD, S. 281. [31] RD, S. 283. [32] RD, S. 281f. [33] Vgl.besonders: Georg Lukács, Demokratisierung heute und morgen. Herausgegeben von Laszlo Sziklai. Budapest 1985.