Feindbild Islamismus

Der Weg zur neuen Weltunordnung

in (06.12.2001)

Zunehmend wird der Orient als das Übel schlechthin ausgemacht. Daß dabei Völkerrecht wie Rechtsstaatlichkeit auf den Müllhaufen der Geschichte gekehrt werden, scheint fast keinen zu interessieren.

Seit dem 11. September ist nichts mehr, wie es war. Zum ersten Mal erlebten die USA einen Angriff auf ihrem eigenen Territorium. Ein Angriff, der als Zäsur erscheinen mag, organisiert - wenn man den bisherigen Ermittlungsergebnissen glauben darf - von einer transnational vernetzten, territorial nicht zu verortenden Gruppe, gegen die sich die klassischen Instrumente des Staatsapparats wie Militär, Polizei, Geheimdienste sogar der Supermacht USA als wehrlos erwiesen haben. Dies ist selbst Ausdruck der Globalisierung im Bereich der Sicherheitspolitik. Auch auf diesem Gebiet handeln - wie schon in der Ökonomie, auf den internationalen Finanzmärkten oder in der Ökologie - nicht mehr staatlich organisierte und vertraglich eingebundene oder einbindbare Akteure. Sie demonstrieren den Staaten, daß ihre Souveränität längst durchlöchert und der Abschied von der "Westfälischen Ordnung" 1 endgültig gekommen ist.

Und es scheint, als seien die erschreckenden Ereignisse in New York und Washington der Beweis für die gerade einmal acht Jahre alten Thesen des amerikanischen Politologen und Sicherheitsberaters in der Reagan-Administration Samuel P. Huntington, der, ausgehend von der durchaus richtigen Hypothese, daß die Kriege des 21. Jahrhunderts nicht mehr ausschließlich Kriege zwischen den Nationalstaaten sein werden, flugs den ›Kampf der Kulturen‹ propagierte 2 und ›den Islam‹ als die neue und größte Bedrohung ›des Westens‹ ausmachte. Diese Erfindung eines neuen Feindbildes mußte umso leichter gelingen, als der Islam parallel mit der Implosion der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Vertragssystems schon während des Golfkrieges als neue (alte) Bedrohung stilisiert wurde. 3

Aufbauend auf den Arbeiten vor allem der Orientalisten des 19. Jahrhunderts, die die imperialistische Überlegenheit des Okzidents mit der rassisch und kulturell bedingten Unterlegenheit des Orients rechtfertigten 4 , wurde der Orient als das Übel schlechthin ausgemacht, als die neue, ›dem Westen‹ drohende Gefahr. In der simplen Dialektik von ›Gut‹ gegen ›Böse‹ wurde schlicht Kommunismus durch Islam ersetzt. 5 Und diese Dichotomie erfüllt ihren Zweck nicht nur auf internationaler Ebene, sondern auch im zwischengesellschaftlichen und innergesellschaftlichen Bereich.

So scheint es beinahe, als ob die Huntingtonsche Vision vom Kampf der Kulturen zur self-fulfilling prophecy geworden ist: Die Gefahr des ›islamischen Fundamentalismus‹ wird zu einer neuen globalen Bedrohung hochstilisiert, die den recht einfachen Zweck verfolgt, dem ›Ich‹, dem ›Guten‹, gegenüber dem ›Anderen‹, dem ›Bösen‹, Legitimität zu verschaffen. Daß dabei Völkerrecht wie Rechtsstaatlichkeit 6 auf den Müllhaufen der Geschichte gekehrt werden, scheint fast niemand mehr zu interessieren. Denn: Nachdem die Nationalstaaten als ausschließliche Akteure des internationalen Systems abzudanken beginnen, wofür der Globalisierungsprozeß zahlreiche Indizien liefert, suggeriert der "Kampf der Kulturen" Endzeitstimmung und Existenzangst zugleich. Und zur Rettung der einzigartigen westlichen Kultur 7 erscheinen dann alle Mittel legitim.

Der politische Islam - Widerstandsform gegen die westliche Dominanz

Der orientalistische Diskurs über die Inferiorität der Muslime war jedoch nicht nur Ideologie, er hatte auch harte materielle Bestandteile. So wurde er genutzt zur Rechtfertigung und Zementierung imperialistischer Herrschaft, zur Diskriminierung und zum Ausschluß der Muslime vor allem vom Bildungswesen, was den Kolonisierten oft den Zugang zu freien Berufen und hohen Ämtern in der Verwaltung erschwerte. Besonders kraß war die Instrumentalisierung der Religionszugehörigkeit zum Zwecke der Diskriminierung von Muslimen beispielsweise in Algerien, wo die Kolonisierten zwar mit allen Pflichten französische Staatsbürger waren, jedoch von der Wahrnehmung ihrer bürgerlichen Rechte ausgeschlossen wurden, indem sie einem besonderen "muslimischen Rechtsstatut" unterstellt wurden. 8 Diese Art der Diskriminierung verstärkte die Identifizierung der Muslime mit ihrer Religion. Bereits die islamische Reformbewegung (die heute vermutlich Fundamentalismus genannt würde) unter der geistigen Führung von Jamal Eddine al Afghani und Mohamed Abduh ist als eine solche identitätsstiftende Gegenreaktion zu verstehen. Nach Peters wurde "auf diese Weise ... aus dem Islam für viele Muslime etwas, was in ihrem Bewußtsein überwiegend - und bei manchen von ihnen sogar ausschließlich - ein Wesenselement ihrer kulturellen Identität darstellt, das gegen äußere Angriffe verteidigt werden muß, und nicht so sehr eine Art des Gottesglaubens, der Entdeckung von Ziel und Sinn des Lebens und eine ideale Gesellschaftsordnung. Um diese neue Aufgabe erfüllen zu können, mußte der Islam zu etwas werden, auf das man stolz sein konnte" 9 .

Als identitäre und gegen den Kolonialismus gerichtete politische Bewegung verwoben sich islamische Identitätskonzepte mit nationalistischen Vorstellungen. In geradezu paradigmatischer Weise gilt dies für die Identitätsformel des algerischen Nationalismus: "Der Islam ist meine Religion, Arabisch meine Sprache, Algerien mein Vaterland". Aber auch in vielen anderen arabischen Ländern verbanden sich religiöse Identitätsvorstellungen mit nationalistischen Ansprüchen. So ist es kein Zufall, daß - außer im mehrheitlich christlichen Libanon und in der Türkei des Mustapha Kemal "Atatürk" - der Islam in sämtlichen Staaten des Nahen Ostens Staatsreligion ist. Und selbst in der Hochphase des säkularen arabischen Nationalismus wurden die an sozialistischen Modellen orientierten Entwicklungsstrategien mit den egalitären Forderungen des Koran legitimiert. Die einzige Ausnahme bildete die BaÂ’ath-Partei in Syrien und im Irak.

Doch weder die am kapitalistischen Modell orientierten modernisierungstheoretischen noch die sich auf sozialistische Konzepte berufenden Entwicklungsstrategien brachten den gewünschten wirtschaftlichen Erfolg. Im Gegenteil, beide verschärften die sozialen Gegensätze. Hinzu kam, daß dieses Scheitern im Falle der eher sozialistisch orientierten Länder zeitlich weitgehend zusammenfiel mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des ›sozialistischen Lagers‹. Das Anwachsen von sozialer Ungerechtigkeit und die Verschärfung der Antagonismen innerhalb der Gesellschaften konnten so leicht interpretiert werden als Folge dieser Entwicklungsmodelle, die - ›kapitalistisch‹ oder ›sozialistisch‹ - beide aus ›dem Westen‹ importiert waren und denen eines gemeinsam war: der Atheismus, der aus islamischer Sicht die Grundlage des westlichen Systems darstellt. Auf der Erscheinungsebene war es so nicht schwierig, die herrschenden ›Eliten‹ als Handlanger des Westens zu brandmarken, profitierten sie doch selbst von der ›Entwicklung der Unterentwicklung‹, indem sie sich als Staatsbürokratien Pfründen und Privilegien aneigneten, während die breiten Massen zunehmend verarmten. So ist es sicherlich zutreffend, die sozio-ökonomische Entwicklung in diesen Ländern als einen Prozeß zu bezeichnen, der deren Gesellschaften in eine dünne Schicht von Modernisierungsgewinnern und eine breite Masse von Modernisierungsverlierern spaltete. 10

Ohne Zweifel hat die Iranische Revolution eine katalytische Wirkung auch auf die islamistischen Bewegungen in den sunnitischen Ländern gehabt, zeigte sie doch, daß ein Volksaufstand den Umsturz eines verhaßten Regimes bewirken kann, ebenso wie die Neuordnung einer Gesellschaft auf der Basis islamischer Prinzipien. Vor dem Hintergrund der wachsenden sozialen Unzufriedenheit und der Suche nach eigener Identität wurde sie zu einem politischen Signal, welches das Anwachsen der Bewegungen in den einzelnen Staaten verstärkte. Die Hinwendung zum Glauben, der Aufbau breiter sozialer Netzwerke vor allem in Ägypten, aber auch in Algerien und Jordanien verschafften den islamistischen Organisationen, die in ihrer übergroßen Mehrzahl alles andere als gewaltbereit sind, Vertrauen und Legitimität.

Das Dilemma: Stabilität ohne Legitimität

Dabei ist es jedoch absurd, wie Huntingtons Modell vom ›Kampf der Kulturen‹ suggeriert, das Aufbegehren in den islamischen Ländern und die zahlreichen sich auf islamische Prinzipien berufenden sozialen Bewegungen als ein geschlossenes Ganzes zu verstehen. Zu verschieden sind die jeweiligen nationalen geschichtlichen Prägungen, zu unterschiedlich die jeweiligen Interessen der einzelnen Gruppierungen, und - folgerichtig - die jeweiligen Interpretationen der islamischen Quellen für aktuelle politische Zielsetzungen. Denn es geht den islamistischen Bewegungen weniger um die Herstellung irgendwelcher ›gottesstaatlicher‹ politischer Systeme als um die Eroberung der politischen Macht und die Vertreibung der autoritären und diktatorischen Regime, die seit Jahrzehnten die orientalischen Gesellschaften im polizeistaatlichen Griff halten, die politische Herrschaft zu ihrer privaten Bereicherung benutzen und jede Legitimität verloren haben. 11

Eine Ironie dieser makropolitischen Entwicklung ist, daß eben diese Regime, um wenigstens Teile ihrer Legitimität zurückzugewinnen, selbst eine Islamisierung der Gesellschaft vorantreiben (Alkoholverbot, Abbau der Frauenrechte etc.), dadurch den Islamismus befördern, selbst aber die verlorene Legitimität in den Augen ihrer Bevölkerungen auch dadurch nicht zurückgewinnen können. Daher ist der Islamismus, wenn man denn versucht, die unterschiedlichen Bewegungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, "...nicht in erster Linie ein Revolte gegen die Moderne, sondern vielmehr ein Aufstand gegen die ungerechten politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse auf der Welt. In dieser Hinsicht ist der islamische Fundamentalismus eine typische Dritte-Welt-Bewegung, was man weder vom christlichen noch jüdischen Fundamentalismus behaupten kann". 12

Es kann daher nicht verwundern, daß gerade die mehr oder weniger korrupten, die eher mehr als weniger autoritären bis repressiven Regime der Region gewissermaßen als arabische Kronzeugen Samuel Huntingtons die ›islamistische Gefahr‹ beschwören, um damit ihre andauernde und oft brutale Repression nicht nur der Islamisten, sondern aller Oppositionsgruppen zu rechtfertigen. 13

Die Verweigerung des innenpolitischen Dialogs, die systematische Verhinderung jeder politischen Partizipation müssen zwangsläufig Widerstand erzeugen, der im Extremfall das Instrument des Terrors als Form der politischen Artikulation gewählt hat und möglicherweise verstärkt wählen wird. Kommt es dann tatsächlich zu terroristischen Akten, wird dies zum Vorwand genommen, jede Form der politischen Liberalisierung zu verhindern und (nahezu) jede Form der Repression zu rechtfertigen. Unter den gegebenen politischen Bedingungen trifft die Aussage zu, "daß Begriffe wie ›Terrorismus‹ relativ sind und sich leicht für die Kriminalisierung politischer Gegner mißbrauchen lassen. So können in autoritären Regimen damit auch Oppositionsgruppen kriminalisiert werden, gerade weil sie demokratische Ziele verfolgen" 14 .

Auch der von staatlicher Seite betriebene Gegenterrorismus, die teilweise Steuerung terroristischer Aktionen durch die Geheimdienste 15 wird durchaus als Mittel verwendet, mit dem Zweck, einerseits vom Ausland Unterstützung im Kampf gegen den ›Terrorismus‹ einzufordern, andrerseits innenpolitisch Demokratisierungsprozesse zu verweigern und brutalste Formen der Repression zu legitimieren.

Der inflationäre Gebrauch der Vokabel Demokratie macht es darüber hinaus schwierig zu erkennen, worum es wirklich geht. Natürlich werden in fast allen Ländern der Region Wahlen veranstaltet, deren Ergebnisse auch der unvoreingenommenste Beobachter schon im voraus kennt. Die Reduzierung des Demokratiebegriffs auf das formale Instrument der Wahlen ermöglicht es, die Frage nach den gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen und den institutionellen Rahmenbedingungen, unter denen die Willensäußerungen des Souveräns stattfinden, erst gar nicht zu stellen. Denn, wann und wo immer eine Frage der Systemtransformation ansteht, was den Westen interessiert, ist es der Erhalt der Stabilität, des status quo, nicht aber die demokratische Legitimation von Herrschaft und deren öffentliche Kontrolle. François Burgat hat diesen ganz offensichtlich gewollten Selbstbetrug des Westens treffend auf den Punkt gebracht: "Hören wir auf, die Stimmzettel, die durch die Trichter der psychologischen und ökonomischen Kriegsführung geschoben werden ... mit denen der Volksabstimmung zu verwechseln. Der Abstand, den wir entstehen lassen zwischen dem ›Legal-Institutionellen‹ und dem politisch ›Realen‹ in der Welt unserer arabischen Nachbarn trägt in sich gefährliche politische Schizophrenien, nicht aber Frieden und Stabilität. ...wir bedecken unsere eigenen Augen mit einem Schleier, der viel gefährlicher ist als alle Tschadors: mit dem der Desinformation." 16

Nun darf nicht übersehen werden, daß die Regime der Region, wie bereits oben erwähnt, sich allesamt durch Berufung auf den Islam (nicht nur in ihren Verfassungen!) zu legitimieren suchen. Dies gilt in besonderer Weise für Saudi-Arabien und die große Mehrheit der Golfstaaten mit ihrer ultraorthodoxen Sittenordnung, die in Saudi-Arabien es den Frauen sogar verbietet, eine Fahrerlaubnis zu erwerben. Dies gilt ebenso für Pakistan, in dem die sich in korrupter Bereicherungswut übertreffenden Militärdiktatoren Teile der Körperstrafen der shariÂ’a eingeführt haben, um so ihre Treue zum Islam unter Beweis zu stellen. Dies gilt auch für das ›sozialistische‹ Algerien, das neben schärfster Bekämpfung des Alkoholkonsums und jeder Art von Promiskuität 1987 ein Personenstandsrecht eingeführt hat, das Frauen schlimmer diskriminiert, als dies in der Islamischen Republik Iran der Fall ist. Auf eine Aufzählung weiterer erhellender Beispiele soll hier verzichtet werden.

Festzuhalten ist, daß der politische Islam und die Politisierung des Islam während der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts in fast allen Ländern der Region von den Regimen als Gegenkraft gegen kritische Intellektuelle und Studenten systematisch gefördert wurde, weil man darin ein nützliches Instrument zur Erhaltung der Macht erblickte. Und festzuhalten ist auch, daß dem Westen die auf Prinzipien des Islam sich beziehenden Regime und Bewegungen zumindest bis Ende der achtziger Jahre und zum Teil bis heute als willkommene Bündnispartner erschienen. Dies gilt nicht nur für den inzwischen allenthalben diskutierten Krieg gegen die Sowjetunion in Afghanistan, der von Saudi-Arabien und der CIA organisiert und finanziert wurde 17 , sondern auch für die Muslimbruderschaft in Ägypten während der Regierungszeit Gamal abdel Nassers, für die Anfangszeit der Islamischen Heilsfront in Algerien und nicht zuletzt in subdominanter Analogie für die palästinensische hamas, die vom israelischen Geheimdienst zwecks Schwächung der PLO gefördert wurde.

Folge des Krieges in Afghanistan sind auch die Tausende so genannten ›Afghanen‹, Freiwillige, die als Kämpfer nach Pakistan in die Ausbildungslager und dann nach Afghanistan gingen und sich jetzt als hochqualifizierte Berufsterroristen allen möglichen Guerilla- Bewegungen und Gruppierungen als Söldner zur Verfügung stellen, von den algerischen "Bewaffneten Islamischen Gruppen" (GIA) bis zu den tschetschenischen Aufständen, von den muslimischen Gruppierungen im Bosnien-Krieg über die UCK im Kosovo bis nach Saudi-Arabien, wo ›afghanische‹ Kommandos für die Anschläge gegen US-Einrichtungen verantwortlich sind.

Das legitimatorische Dilemma, in dem sich gerade die durchaus als fundamentalistisch zu bezeichnenden islamischen Staaten befinden, soll hier exemplarisch kurz am Beispiel Saudi-Arabiens skizziert werden: Um beim Aufmarsch für den zweiten Golfkrieg die Stationierung amerikanischer Truppen (einschließlich ›freizügig‹ gekleideter Soldatinnen) rechtfertigen zu können, bemühte das Regime den obersten Richter des Landes, Chikh Abdelaziz Bin Baz, der die Präsenz der US-Truppen als konform mit der shariÂ’a rechtfertigen mußte. 18 Dennoch war es der Mehrheit der Bevölkerung - und dies nicht nur in Saudi-Arabien - nicht zu vermitteln, daß nun die Ungläubigen die Heiligen Stätten des Islam vor den Rechtgläubigen (Irakern) schützen sollten.

Daß der Golfkrieg weniger der Befreiung Kuwaits (und der Zerstörung des Iraks) diente als der dauerhaften Stationierung von US-Truppen am Golf zwecks militärischer Kontrolle des Ölreichtums der Region, dürfte inzwischen unbestreitbar sein. 19 Daß aber gerade diese Präsenz für die Menschen in der Region im allgemeinen, für die muslimischen Gläubigen im besonderen eine Provokation darstellt, sollte endlich im Westen zur Kenntnis genommen werden. Gleichzeitig illustriert diese Situation das Schwinden der Legitimität und Akzeptanz der arabischen (aber auch beispielsweise der pakistanischen) Regierungen bei der eigenen Bevölkerung. Dies erklärt, weshalb sowohl Saudi-Arabien wie das von den USA abhängige, geradezu hörige Regime in Kairo es sich nicht leisten können, Basen für den Aufmarsch gegen Afghanistan zur Verfügung zu stellen oder sich in eine der Golfkoalition ähnelnde Allianz einbinden zu lassen: Selbst in diesen ultraautoritären Staaten gibt es Völker. Und die Politik der Regime kann nicht ungestraft frontal gegen die allgemeine Meinung betrieben werden. Auch die Schraube der Repression findet ein Ende, der Druck von oben könnte zur Explosion führen.

So ist es nicht zufällig, daß gerade die Stabilität der konservativsten, das heißt der prowestlichsten Staaten der Region am gefährdetsten erscheint. Eine erstaunliche Ausnahme bilden hier nur die beiden Monarchien Jordanien und Marokko, die sich dadurch auszeichnen, daß es dort Ansätze zu Reformen in Richtung auf Demokratie und Anfänge eines politischen Pluralismus gibt. Im Gegensatz zu übrigen Regimen der Region erscheint allein der oft als gottesstaatlich apostrophierte Iran wesentliche stabiler. Auch sind zumindest ansatzweise demokratische Entscheidungen möglich. Hinzu kommt, daß der Iran sich als anti-amerikanisches Bollwerk und konsequenter und glaubwürdiger Feind Israels darstellen kann.

Und hier liegt einer, wenn nicht der wichtigste Schlüssel westlicher, das heißt vor allem US-amerikanischer Politik im Nahen und Mittleren Osten. Über viele Jahrzehnte konnten die arabischen und viele islamische Staaten ihr innenpolitisches und wirtschaftliches Versagen zumindest teilweise damit vertuschen, daß sie ihre Bevölkerung im Haß gegen Israel agitierten und so von den innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken vermochten. Camp David, das Ende des Ost-West-Konflikts, der sogenannte Friedensprozeß und die Einbindung in US-amerikanische Politikkonzepte des (früheren Terroristen Nr. 1) Yassir Arafat hatten zur Folge, daß die Regierungen nun dieses Instrument nicht mehr nutzen können.

Krieg als Anti-Terror-Politik?

Gerade die Lebensbedingungen der Palästinenser haben sich jedoch seit Beginn des Friedensprozesses kontinuierlich verschlechtert und sind im letzten Jahr seit Sharons Regierungsantritt unerträglich geworden. Im Irak sind in den letzten zehn Jahren nach Feststellungen von UNICEF und der Weltgesundheitsorganisation über eine Million Kinder zwischen null und fünf Jahren an den Folgen des von den USA und Großbritannien im Sicherheitsrat der UNO durchgesetzten Embargos gestorben. Der Bürgerkrieg in Algerien hat mittlerweile fast 200.000 Todesopfer und Tausende ›Verschwundene‹ gefordert, der Westen aber sieht weg und investiert in die Erdöl- und Erdgasförderung. Zynisch wird der hungernden und von den Taliban terrorisierten afghanischen Bevölkerung mit Hilfe von Flugblättern (wer kann sie lesen?) der Unterschied zwischen Lebensmittelpaketen und Splitterbomben erklärt. Und alles deutet darauf hin, daß der Bombenkrieg auch im Monat ramadhan fortgeführt werden wird, jener Zeit, die durch das kollektive Fasten die Geschlossenheit der islamischen Welt symbolisiert.

Zwar mögen die Bomben den US-Bürgern zeigen, daß ihr Präsident Stärke demonstrieren kann. Als Waffe gegen Terroristen sind sie untauglich, ja kontraproduktiv, denn sie produzieren nur neuen Haß bei jenen, die wehrlos Opfer dieser Kriegsmaschinerie werden. Und gelänge es tatsächlich, den zum internationalen Terroristenkommandanten hochstilisierten Usama bin Ladin ›zur Strecke zu bringen‹, er würde zum Märtyrer all jener, die sich von den USA unterdrückt und gedemütigt fühlen - und einer Hydra gleich würden zahllose neue Köpfe des Terrorismus nachwachsen. In perverser Weise stützt solche Politik geradezu das Kalkül derer, die sie zu bekämpfen vorgibt.

Ob das pakistanische Regime und sein Geheimdienst politisch den Drahtseilakt überleben, den USA dauerhaft die geforderte logistische Unterstützung zu gewähren und zugleich die eigene Bevölkerung niederzuhalten, ist nicht nur eine offene Frage, es ist auch eine Frage der Zeit. Auch die Vorsicht der Regierungen in Riad und Kairo zeigt, wie labil die Lage im eigenen Lande zu sein scheint. Und das alltägliche Morden der israelischen Armee in den palästinensischen Gebieten ist eine brennende Lunte, deren Länge niemand kennt. Sicher ist nur: Sie wird immer kürzer. Kommt es in einem der Staaten der Region zu einer Explosion, so könnte dies einen Flächenbrand auslösen, mit dem nach über zehn Jahren das Kalkül Saddam Husseins aufgehen könnte, der hoffte, die Intervention der USA in Kuwait und gegen Irak würde zumindest in der arabischen Welt zum Aufstand führen. Nun aber geht es scheinbar um "den Islam". Die islamische Welt aber ist größer und komplizierter. Die verunglückte und deshalb schnell zurückgezogene Formel Präsident Bushs, die westliche Welt stehe vor einem ›Kreuzzug‹ wurde dort als Fanal verstanden, und die fortgesetzte Bombardierung Afghanistans, der Druck auf die Regierungen der Region, sich der Politik USA und des Westens zu unterwerfen, verstärkt nur das Gefühl weiterer Demütigung. Folgerichtig wird solche Politik weiterer Radikalisierung Vorschub leisten und die ›gemäßigten‹ Regime noch mehr destabilisieren.

Werner Ruf - Jg. 1937; Prof. Dr., Promotion 1967 in Freiburg i. Br., Professuren an: New York University, Université Aix-Marseille III, Universität Gesamthochschule Essen, seit 1982 Professor für Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Gesamthochschule Kassel; jüngste Monografien: "Die neue Welt-UN-Ordnung. Vom Umgang des Sicherheitsrats mit der Souveränität der Dritten Welt" (Münster 1994), "Die algerische Tragödie. Vom Zerbrechen des Staates einer zerrissenen Gesellschaft (Münster 1997).

1 Der Westfälische Frieden von 1648 gilt allgemein als die Geburtsstunde des modernen Internationalen Systems. Wurde dort doch zum ersten Male das seither das Völkerrecht bestimmende Souveränitätsprinzipfestgeschrieben, das auf anerkannten territorialen Grenzen und der souveränen Macht des Staates basiert.

2 Vgl. Huntington, Samuel: The clash of civilisations?, in: Foreign Affairs, Nr. 3/1993, pp. 22-49; Ders.: Der Kampf der Kulturen, München/Wien 1996.

3 "Folglich bedeutete der Zusammenbruch des Ost-West- Systems 1989/90 einen tiefen Einschnitt in die Selbstlegitimation. Fehlte nun das ›Andere‹ als Projektionsfläche für die faktische Antithese in der eigenen Gesellschaft, drohte ein Defizit, ja eine Lücke in der Beschreibung des ›Wir‹. Der Kuwait-Krieg, der propagandistisch schon seit Ende August 1990 geführt wurde, konnte innerhalb kürzester Zeit diese Lücke wieder schließen. Aus dem Osten wurde der Orient, aus dem Kommunismus der Islam, aus Stalin Saddam Hussein. Die Antithetik, die für den Westen bestimmend ist, wirkte nur noch radikaler. (...) Der Islam wurde als Prinzip des Orients ausgemacht, als Bewahrheitung des irrationalen, gegenaufklärerischen Fundamentalismus, als Universalie, die nicht nur Ideologie ist, sondern allumfassend Gesellschaft, Kultur, Staat und Politik beherrschen will. Der Islam wird nun (Â…) als gesamtkulturelle Antithese zum Westen und seiner universalistischen Identität. Der Islam gerät so zur Begründung des Gegen-Westens, zur Gegen-Moderne, ja zur Gegen-Zivilisation." Schulze, Reinhard: Vom Antikommunismus zum Antiislamismus. Der Kuwait-Krieg als Fortschreibung des Ost-West-Konflikts, in: Peripherie, Nr. 41/1991, S. 7.

4 So spricht Ernest Renan von "...der schrecklichen Schlichtheit des semitischen Geistes, die den menschlichen Verstand jeder subtilen Vorstellung, jedem feinsinnigen Gefühl, jedem rationalen Forschen unzugänglich macht, um ihm immer die gleiche Tautologie ›Gott ist Gott‹ entgegenzuhalten." Renan, Ernest: Oeuvres Complètes, Bd. 2, Paris 1942, p. 333; zitiert nach Hourani, Albert: Der Islam im europäischen Denken, Frankfurt/M. 1994, S. 45; vgl. auch die wichtigen und einschlägigen Arbeiten von Edward Said: Orientalism, London 1978 und Aziz el al-Azmeh: Islams and Modernity, London 1993.

5 Für diese Tradition steht bis heute beispielsweise der Orientalist Bernhard Lewis (vgl. exemplarisch Lewis, Bernhard: Islam in History, London 1973 und den fast schon agitatorischen Aufsatz The Roots fo Muslim Rage; in: The Atlantic Monthly, Bd. 266, (September 1990).

6 Vgl. etwa die Resolution 1368 des UN-Sicherheitsrates, der unter Verweis auf Art. 51 der UN-Charta die USA zur "individuellen und kollektiven Selbstverteidigung" ermächtigt, ohne die zweite Hälfte dieser entscheidenden Bestimmung zu zitieren, daß dieses Recht nur so lange gilt, "bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat" (vgl. hierzu auch Stuby, Gerhard: Internationaler Terrorismus und Völkerrecht, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 11/2001, S. 1330-1341). Auf innerstaatlicher Ebene gehen damit einher die Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit, wie sie sich in den Massenverhaftungen in den USA zeigen, und der Versuch zum Abbau von Rechtsstaatlichkeit, wie sie in den Gesetzesentwürfen von Otto Schily vorgesehen sind.

7 Diese kulturrassistische Prämisse macht Huntington deutlich in seinem Aufsatz The West unique not universal (in: Foreign Affairs, Nr. 6/1996, pp. 28-46), wo er (p. 35) feststellt, daß individuelle Freiheit, Demokratie und Menschenrechte nur der westlichen Kultur eigen sind. Dies bedeutet, daß die anderen Kulturen, allen voran der Islam, unfähig sind, diese fundamentalen Errungenschaften zu entwickeln oder zu adaptieren.

8 Vgl. Werner Ruf: Die algerische Tragödie. Vom Zerbrechen des Staates einer zerrissenen Gesellschaft, Münster 1997, insbes. S. 20-24.

9 Rudolf Peters: Erneuerungsbewegungen im Islam vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und die Rolle des Islams in der neueren Geschichte: Antikolonialismus und Nationalismus, in: Ende, W./Steinbach, U. (Hrsg.): Der Islam in der Gegenwart, Hamburg 1989, S. 109.

10 Vgl. exemplarisch Graham E. Fuller: The clash of ideas, the next ideology, in: Foreign Policy 89, Frühjahr 1995, pp. 145-158; Ibrahim A. Karawan: The islamist impass, in: Adelphi Paper 314, London 1997.

11 Vgl. Werner Ruf: Demokratie in der arabischen Welt - Ein Widerspruch in sich selbst?, in: Entwicklung und Zusammenarbeit, Heft 9/1998, S. 228-231.

12 Metzger, Albrecht: Der Himmel ist für Gott, der Staat für uns. Islamismus zwischen Gewalt und Demokratie, Göttingen 2000, S. 19.

13 Vgl. Schulze, Reinhard: Säkularismus und Religion in westlichen und islamischen Gesellschaften von heute, in: Die Wahrnehmung des Islam in Europa und Nordamerika. Arbeitspapier Nr. 19 des Instituts für Internationale Politik, Göttingen 1993, S. 22.

14 Jünemann, Annette: Die Mittelmeerpolitik der europäischen Union: Demokratisierunsprogramme zwischen normativer Zielsetzung und realpolitischem Pragmatismus, in: Frankreich Jahrbuch 1997, Opladen 1997, S. 102.

15 So kann inzwischen als gesichert angenommen werden, daß zumindest eine nicht unerhebliche Zahl der gräßlichen Massaker in Algerien vom militärischen Sicherheitsdienst zumindest gesteuert werden (vgl. hierzu die einschlägigen Berichte von amnesty international, Algeria watch: Algerien, Infomappe Nr. 2, Berlin, Oktober 1997; Zitzlaff, Kristian: Im Dunkel des algerischen Schlachthauses. Der Verdacht des versteckten Staatsterrorismus in Algerien verdichtet sich; in: ami (Antimilitarismusinformation), Heft 1-2 (Januar/Februar 1998), S. 79-86; vgl. auch die authentischen Berichte von Souaidia, Habib: La sale guerre, Paris 2001 und Yous, Nasroulah: Qui a tué à Bentalha?, Paris 2000). In diese Richtung deutet auch die Zusammenarbeit des pakistanischen Geheimdienstes mit dem Taliban-Regime (vgl. Chossudovky, Michel: The Role of PakistanÂ’s Military Intelligence (ISI) in the September 11 Attacks, [http://globalresearch. ca/articles/CHO111A.h tml], 2. November 2001.

16 Burgat, François: LÂ’islamisme en face, Paris 1996, p. 275.

17 Vgl. hierzu das Interview mit Zbigniew Brzezinski, dem ehemaligen Sicherheitsberater der US-Präsidenten Carter und Reagan in Le Nouvel Observateur vom 20. Januar 1998. Brzezinski erklärt dort, daß die USA schon vor dem sowjetischen Einmarsch die militanten Oppositionellen massiv unterstützten und daß er eine Aktennotiz für Carter verfaßt habe, in der er eine sowjetische Militärintervention als wahrscheinliche Reaktion betrachte. Auf die Frage, ob die USA diese gezielt provoziert hätten, antwortet Brzezinski: "Das ist nicht ganz korrekt. Wir haben die Russen nicht gedrängt zu intervenieren, aber wir haben bewußt die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß sie es tun."

18 Vgl. hierzu ausführlicher: Nahost-Jahrbuch 1990, S. 135-140.

19 Vgl. Ruf, Werner: Das "vitale Interesse" am Öl; in: Ruf, W. (Hrsg.): Vom Kalten Krieg zur Heißen Ordnung, Münster 1991, S. 74-82 sowie Ders.: Die neue Welt-UN- Ordnung, Münster 1994, insbesondere S. 108-119.