Rosa Luxemburg und die Programmdebatte der PDS

Wenn das Ziel Sozialismus verschwindet, wenn die Verbindung zur Vergangenheit gekappt wird, dann entscheidet der Pragmatismus mit theoretischer Begleitung neuer Kautskys.

Aus: Beilage zu Z 46, Juni 2001, 47-50

Es gibt viele Berufungen auf Rosa Luxemburg. Gerade die PDS wird mit solchen Berufungen nicht müde, hat ihre Stiftungen nach ihr benannt. Zugleich wird, jetzt auch im Entwurf des Parteiprogramms von Dieter Klein, Michael und André Brie im Widerspruch zu Rosa Luxemburg von der Unmöglichkeit einer anderen Gesellschaft ausgegangen. "Der demokratische Sozialismus entsteht in und aus der Gesellschaft oder überhaupt nicht". Dieser Satz ist entweder banal, denn der Sozialismus kann ja nicht von Außerirdischen herbei geführt werden, oder aber er besagt, dass es nur noch um eine Veränderung der bestehenden Gesellschaft gehen kann. Dem entspricht auch die Formulierung: "Die Möglichkeiten moderner Gesellschaften können völlig gegensätzlich genutzt werde, barbarisch oder gerecht, herrschaftlich oder emanzipativ, ausbeuterisch oder solidarisch". Wenn dann davon die Rede ist, dass dieser Sozialismus über den Kapitalismus hinausweise, dann muss daran erinnert werden, dass Wegweiser bekanntlich den Weg, den sie weisen, nicht gehen.

Wenn wir uns heute fragen, ob man Rosa Luxemburg für oder gegen diese Position in Anspruch nehmen kann, dann ist zweierlei erforderlich. Erstens ist zu fragen, was Rosa Luxemburg zu Sozialismus und Demokratie gesagt hat und zweitens, ob das heute, unter gänzlich veränderten Bedingungen, noch gelten kann.

1.

Rosa Luxemburg hat keine Demokratietheorie entwickelt. Sie hat aber marxistische Demokratieauffassungen für ihre Zeit entwickelt und vorgelebt. Ihre Sichtweise auf die bürgerliche Demokratie, auf ihre Bedeutung für das Proletariat ist vom Endziel, dem Jenseits der heutigen Gesellschaft her bestimmt, das nur durch die Massen verwirklicht werden könne. Die sozialdemokratische Bewegung stünde dabei zwischen zwei Klippen, "dem Aufgeben des Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels" (Ges. Werke 1/1, S. 443). Das Endziel ist für sie nicht eine Vision, die man haben oder nicht haben kann. Es ist Maßstab heutigen Handelns. Ich behaupte, so erklärte die siebenundzwanzigjährige junge Frau im Oktober 1998 auf dem Parteitag der SPD in Stuttgart, "dass für uns als revolutionäre, als proletarische Partei keine praktischere Frage existiert als die vom Endziel." "Was macht uns dann in unserem alltäglichen Kampfe zur sozialistischen Partei?" - fragte sie und gab zur Antwort: "Es ist nur die Beziehung dieser drei Formen des praktischen Kampfes (gewerkschaftlicher Kampf, Kampf um Sozialreform und Kampf um Demokratisierung U.-J. H.) zum Endziel", der Eroberung der politischen Macht. Dieses Ziel wiederum ergäbe sich aus unserer Anschauung, "dass die kapitalistische Gesellschaft sich in unlösbare Widersprüche verwickelt, die im Schlussresultat eine Explosion machen, einen Zusammenbruch, bei dem wir" die verkrachte Gesellschaft als Syndikus liquidieren werden. Dieses Endziel aber würde von Bernstein abgelehnt (ebd., S. 236f. 240 f.).

Aus dieser Position ergaben sich ihre Konsequenzen für die künftigen Auseinandersetzungen zur Steuerbewilligung, zur Regierungsbeteiligung, zum Massenstreik, zur Unterstützung von Rüstung und Krieg. Bernsteins Frage, wieviel Sozialismus in einem Fabrikgesetz stecke, beantwortete sie mit beißendem Hohn, "dass in dem allerbesten Fabrikgesetz genau soviel Sozialismus steckt wie in den Magistratsbestimmungen über die Straßenreinigung und das Anzünden der Gaslaternen, was ja auch ‚gesellschaftliche Kontrolle' ist." (Ebd., S. 394) Die Sozialdemokratische Partei wurde von Wahl zu Wahl stärker, gewann mehr Mandate, konnte im Parlament jedenfalls im öffentlichen Auftreten mehr bewirken. Rosa Luxemburg blieb aber, auch in Anbetracht der realen Möglichkeiten bei der Gesetzgebung, bei ihrer Auffassung vom absoluten Vorrang der außerparlamentarischen Wirksamkeit. 1907 erklärte sie in einer Rede: "Wir unterschätzen die parlamentarische Arbeit nicht, aber mir müssen uns auch darüber klar sein, dass wir als geborene Minderheitspartei sehr wenig Einfluß auf die Gesetzgebung haben. Was wir an Gesetzen zugunsten der Arbeiter erreicht haben, das ist nicht der Zahl unserer Abgeordneten zu danken, sondern dem Druck der Massen, die hinter ihnen stehen." (Ges. Werke, Bd. 2, S. 191 ff.) Die Ablehnung des Massenstreiks durch Karl Kautsky kommentierte sie beissend: "Himmelstürmende Theorie und Ermattung in der Praxis", "revolutionäre Perspektiven in den Wolken - und Reichstagsmandate als einzige Perspektive in der Wirklichkeit." (Ebd., S. 414, 418, 420)

Der Kriegsausbruch, die Kapitulation der SPD hatten ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. "Der Sieg des Sozialismus wird nicht wie ein Fatum vom Himmel herabfallen. Er kann nur durch eine lange Kette gewaltiger Kraftproben zwischen den alten und den neuen Mächten erkämpft werden". Sie zitierte Friedrich Engels, der vom Dilemma der heutigen bürgerlichen Gesellschaft gesprochen hätte, "entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei. ... Dieser Weltkrieg - das ist ein Rückfall in die Barbarei." (Ges. Werke Bd. 3, S. 53 ff., 61f.)

Im Sommer 1918 hat Rosa Luxemburg die Oktoberrevolution in Russland uneingeschränkt begrüßt und zugleich grundsätzliche Kritik vor allem an Beschränkungen der Demokratie geübt. Es müsse um die Ersetzung der bürgerlichen durch sozialistische Demokratie gehen, nicht um deren Aufhebung.

Der unzerbrechliche Kern ihrer Überzeugung war, daß der Kapitalismus die Lebensgrundlage der Menschheit zerstört, sie der Barbarei zuführt, daß es nur einen Ausweg gibt, den Sozialismus als andere Gesellschaftsordnung; und daß der Sturz der alten und der Aufbau der neuen Ordnung das Werk der aufgeklärten Massen sein müsse. Dabei wußte sie durchaus um die Schwankungen der Menschen, auch um ihre Manipulierbarkeit. Aber ihr Ausgangspunkt war ein Marxismus, der Einsicht in historische Gesetze verband mit einem sich daraus ergebenen notwendigen und möglichen Ziel, das von den Massen unter Führung einer revolutionären Partei erkämpft werden muss. Dass sie damals mit dieser Position eine wirksame Kraft darstellte, zeigte der Hass ihrer Gegner in der bürgerlichen Gesellschaft, aber auch in der eigenen Partei, zeigt ihr blutiges Ende.

2.

Was aber bleibt heute? Das Ziel ist in große Ferne gerückt, zunehmend wird nur noch von einer Vision gesprochen, die gleichsam unseren Feierabend vergoldet, aber für das Tagesgeschäft ohne Bedeutung ist. Die Einheit von Ziel und Tagespolitik war aber gerade das Anliegen von Rosa Luxemburg. Nun lässt sich das leichter sagen, wenn man die Revolution gleichsam hinter der nächsten Straßenecke erwartet. Sagt uns in nichtrevolutionären Zeiten die große Revolutionärin noch etwas oder kann sie im Grunde nur noch dazu dienen, um Zitate gegen Lenin und für die Freiheit des Andersdenkenden zu liefern?

Ich meine, im Sinne von Rosa Luxemburg ist zunächst die Frage zu beantworten, in welcher Welt wir uns heute befinden, ob die Besorgnisse Rosa Luxemburgs hinsichtlich der Barbarei, nicht zuletzt des Krieges, auch heute zutreffen, ob nicht neue Bedrohungen, etwa der Umwelt sogar hinzugekommen sind.

Wir haben eine Epoche vor uns, in der ein entfesselter Kapitalismus sich die ganze Welt total unterordnet und dann diese Welt nicht zuletzt durch die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts zu Grunde richten kann. Die Herrschaft des Kapitals ist, auf einer neuen technischen Grundlage, umfassender als vor 19l4. Den Optimismus Luxemburgs hinsichtlich wachsender Gegenkräfte können wir heute wohl nicht mehr teilen.

Wir haben damit eine außerordentlich widersprüchliche Situation. Die Gefahren sind heute teilweise andere als zur Zeit Rosa Luxemburgs, aber keineswegs geringer. Aber vornehmlich in den Metropolen sind die Widerstandskräfte erheblich schwächer. Georg Fülberth hat schon vor einiger Zeit diese Situation auf den Begriff gebracht: "Mag auch die gesamte Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft ein ständig wiederholter Beweis für die je aktuelle Unmöglichkeit des Sozialismus gewesen sein, so ist sie zugleich das anschaulichste Argument für seine Notwendigkeit." (ND v. 15./16.1.1994) Die Versuchung ist ungleich größer als damals, sich auf den Tageskampf zu beschränken, das sozialistische Ziel endgültig in eine unverbindliche Vision zu verwandeln und auch die Verbindungen zum untergegangenen Sozialismus zu kappen. Auf Rosa Luxemburg kann man sich dafür freilich nicht berufen. Für sie ergab sich aus der Analyse des Kapitalismus die Notwendigkeit, die Massen antikapitalistisch aufzuklären. Die Aufgabe des Endziels aber schließt diese Aufklärung aus. Ist eine andere Gesellschaft unmöglich, ist der Kapitalismus - modern oder nicht - das letzte Wort der Geschichte, so muss man sich in dieser Gesellschaft einrichten, in ihr ankommen. Ich weiss, dass die Ablehnung einer solchen Haltung für jemanden, der 73 Jahre alt ist, leichter ist als für denjenigen, der vierzig oder fünfzig ist, um seinen Lebensunterhalt kämpfen muss. Dabei ist Aufklärung bei Rosa Luxemburg stets mit Aktion verbunden, mit Widerstand, und, wenn die Verhältnisse es ermöglichen, auch mit Reformen. Die von Rosa Luxemburg nachgewiesenen Gefahren der Regierungsbeteiligung und des Nurparlamentarismus, des Bürokratismus und Konservatismus von Vorständen und Apparaten, der Verwandlung der Theorie in eine bloße Begleitmusik der Praxis, sind auf die Dauer tödlich für eine Partei, die das Ziel einer anderen Gesellschaft hat. Es kann natürlich auch eine Sozialdemokratische Partei geben, aber eben nur eine.

Wir sollten deshalb jedenfalls nicht hinter Vivian Forrester, oder um einmal jemand anders zu zitieren, hinter Karl Raddatz zurückbleiben. Raddatz, Literaturkritiker in der Zeit, schrieb in seiner positiven Rezension der rückhaltlosen Analyse der Epoche von Noam Chomsky, dessen grundsätzliche Analyse des Systems er akzeptiert: "Staats-Monopol-Kapitalismus ist fraglos zu entscheidenden Teilen die politökonomische Struktur unserer Gesellschaft." Eigentlich, so schließt er dann, "sind wir alle aufgefordert zu fragen, wie wohl eine postkapitalistische Gesellschaftsordnung aussehen könnte. ... Die Aufgabe des neuen Jahrhunderts ist es, das Undenkbare zu denken". (Die Zeit Nr. 43/2000) Wenn das Ziel des Sozialismus im Nebel verschwindet, wenn die Verbindung zur Vergangenheit gekappt wird, dann fehlt der Partei die dritte Dimension, entscheidet der Pragmatismus mit theoretischer Begleitung neuer Kautskys.