Über die Kunst, Begriffe zu fluten

Die Karriere des Konzepts "Gender Mainstreaming"

Wird mit dem EU-Konzept "Gender Mainstreaming" nun endgültig die Ungleichbehandlung von Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft beseitigt? Zu schön, um wahr zu sein!

Olympe de Gouges forderte 1791 in ihrer Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin als Kontrapunkt zur Deklaration der Französischen Revolution:"Â…auf dass die Erklärung allen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft ständig vor Augen, sie unablässig an ihre Pflichten erinnertÂ… Die weibliche Bevölkerung, die gleich der männlichen Beiträge leistet, hat das Recht, von jeder öffentlichen Instanz einen Rechenschaftsbericht zu verlangen".1 Die Verfasserin wurde dafür guillotiniert, das Urteil lautete: "Anschlag auf die Volkssouveränität".2

Frauenpolitische Aktivitäten, das Ringen um Gleichberechtigung und Eliminierung aller Formen von geschlechterbezogener Unterdrückung wurden in der Geschichte der Frauenbewegungen im Spannungsfeld von frei assoziierten Bewegungen und Obrigkeitsinstanzen artikuliert. Die Spielräume haben sich an den Stellen erweitert, an denen Obrigkeitspolitik sich demokratisch legitimieren musste und damit gezwungen war, in einen Dialog mit den vielfältigen Strömungen der Frauenbewegungen einzutreten. Die Chancen auf Erweiterung der Rechte und Zugangsmöglichkeiten von Frauen waren, wie das Eingangszitat spiegelt, da besonders eng gezogen (und sind es immer noch), wo totalitäre Strukturen alle Formen von Emanzipationspolitik, damit auch Frauenpolitik, beschneiden.

Mit der Herausbildung des Nationalstaates und der sozialen Bewegungen im 19. Jahrhundert waren nicht nur konkrete Kämpfe um den Bildungszugang von Frauen und ihre arbeitsrechtliche Besserstellung verbunden, sondern zugleich auch immer der Anspruch auf Verallgemeinerung der partikularen Interessen: "Wir hoffen unter den deutschen Männern der Überzeugung Bahn zu brechen, dass es sich in der Frauenbewegung um einen Fortschritt in der Menschheitsentwicklung handelt".3 Und auch in der Weimarer Republik, als sich die Spielräume der Frauen durch die Erkämpfung des Wahlrechts und demokratisch legitimierte staatliche Strukturen erweiterten, wurde der Anspruch auf welt- und menschheitsbedeutenden Fortschritt durch die Frauen sowohl von Frauen selbst als auch von Männern bekräftigt: "Â… so wird die Frau von morgen nicht nur dem Manne, sondern auch der Welt ein neues Glück bringen".4 Den Frauenbewegungen ist damit genuin der Anspruch auf Hegemonie und Universalität eingeschrieben. Allerdings verbirgt sich hinter jedem Allgemeinheitsanspruch eine konkrete Politik, die sich bei genauerem Hinsehen als eine interessengeleitete und durchaus unterschiedliche, mehr oder weniger herrschaftsstabilisierende oder -destabilisierende, entziffern lässt.

Aufschlussreiche Geschichte

Der Anspruch der autonomen Frauenbewegung wie der gewerkschaftlich orientierten in der Bundesrepublik der 1970er Jahre, war dabei immer darauf gerichtet, staatliche Akzeptanz insofern zu erlangen, als der Staat gefordert wurde, frauenpolitische Initiativen gesetzlich zu verankern und Gelder für frauen- und gleichstellungspolitische Räume und Aktivitäten zur Verfügung zu stellen. In dieser Logik ist die Institutionalisierung von Frauenpolitik in Form von Gleichstellungsbeauftragten und Gleichstellungsgesetzen, Frauenvertreterinnen, Frauenarbeitskreisen etc. eine gewollte Folge von auf Hegemoniegewinn ausgerichteter Frauenpolitik. Nicht unmittelbar institutionelle und in die Staatsapparate eingebundene Frauenpolitik blieb dennoch ein Charakteristikum demokratischer Bewegungsformen in der Bundesrepublik. Auf dieser Basis gelang auch ein Paradigmenwechsel in der Frauenpolitik dahingehend, dass die Machtverhältnisse und Ungleichheiten unter Frauen thematisiert werden konnten. Lesben, Migrantinnen und behinderte Frauen artikulierten ihre speziellen Lebens- und Diskriminierungsformen und stellten damit den hegemonialen Emanzipationsanspruch unter dem Label "Frau" in Frage.5

In der ehemaligen DDR wurde Gleichstellungspolitik, (auch Forderungen aus der Tradition der Frauenbewegung, wie z. B. das Recht auf Arbeit, Abtreibung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie) zur Staatspolitik erhoben und von oben nach unten praktiziert. Dadurch wurden zwar reale Emanzipationsprozesse in Gang gesetzt, aber gleichzeitig wurden alle Formen, die Alternativen zu staatlich verordneten Modellen bieten wollten, ihrer Legitimation und ihrer Möglichkeiten beraubt. Dieses Modell einer Top-Down-Politik liefert somit einen Indikator für die Vor- und Nachteile einer von oben verordneten Gleichstellungspolitik. Diese Erfahrungen können bei der Analyse der "Gender Mainstreaming"-Politik hilfreich sein, die erklärtermaßen ein Top-Down-Prinzip ist.

Wie kam es dazu, dass in der Gleichstellungspolitik das Konzept des "Gender Mainstreaming" international und national zu einer Option staatlicher Institutionen deklariert wurde? Zunächst gab es offensichtlich eine Begriffsdefinition seitens nicht näher legitimierter oder benannter ExpertInnen:

"The Group of Specialists agreed upon the following definition: Gender mainstreaming is the (re)organisation, improvement, development and evaluation of policy processes, so that a gender equality perspective is incorporated in all policies at all levels and at all stages, by the actors normally involved in policy-making.

The definition of gender mainstreaming highlights the goal of mainstreaming, the process, the objects and active subjects of mainstreaming. The objects of mainstreaming are all policies at all levels and at all stages, while the active subjects of mainstreaming are the ordinary actors. Gender mainstreaming can mean that the policy process is reorganised so that ordinary actors know how to incorporate a gender perspective. It can also mean that gender expertise is organised into the policy process by including gender expertise as a normal requirement for policy-makers." 6

Zum ersten Mal tauchte der Begriff des "Gender Mainstreaming" 1985 bei der Weltfrauenkonferenz in Nairobi auf. Ausgangspunkt für die jetzige Initiative war dann die Weltfrauenkonferenz in Beijing 1995. Sie fand Eingang in das vierte Aktionsprogramm der Europäischen Gemeinschaft zur Gleichstellungspolitik, das nach langer Blockade durch die Bunderepublik 1996 mit halbiertem Budget in Kraft trat und dann im Amsterdamer Vertrag von 1999 geregelt wurde. Grundsätzlich wird "Gender Mainstreaming" als Politik von EntscheidungsträgerInnen formuliert, des weiteren als "Doppelstrategie", da spezielle Programme und Haushaltsmittel zur "Chancengleichheit" - hier ist nicht die Rede von Frauenförderung - den "Gender Mainstreaming"-Ansatz ergänzen sollen.7

Umgesetzt wurde "Gender Mainstreaming" zuerst in entwicklungspolitischen Organisationen und auf UN-Ebene (UNDP, OECD, ILO, WHO, IOM u.a.), dann folgte ab 1996 die Umsetzungsstrategie auf EU-Ebene, zunächst in den skandinavischen Ländern und den Niederlanden. Die rot-grüne Bundesregierung gab 1999 "Gender Mainstreaming" als Leitlinie aus, erste Schulungen in den Ministerien haben im Jahr 2000 begonnen. Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt hat bislang als einzige Landesregierung einen Beschluss zur Umsetzung von "Gender Mainstreaming" gefasst, hierbei wurde der Schwerpunkt zunächst auf Schulungsmaßnahmen und Initiativen im Bereich der Beschäftigungspolitik gelegt. Auf kommunaler Ebene hat die Bezirksverordnetenversammlung Mahrzahn einen Beschluss zu "Gender Mainstreaming" verabschiedet.8

Zweischneidige Erfolge

Gleichstellungspolitik hat sich damit zur offiziellen Leitlinie europäischer und auch internationaler Politik entwickelt, und das ist eine neue Qualität in der Geschichte der Frauenbewegung. Die Frauenbewegungen könnten als realen Erfolg werten, dass ihre an die Staatspolitik gerichteten Forderungen nun endlich von dieser in eine globale und universale Dimension erhoben worden sind. Bemerkenswert bei der offiziellen Präsentation dieser Politik ist jedoch die Ausblendung ihrer Geschichte und die der Frauenbewegung, einschließlich der Nichtbeachtung der Vielfalt von Interessengegensätzen und Auseinandersetzungsprozessen in hierarchisch strukturierten Gesellschaften.9 Die EU oder auch die UN können sich mit dieser Politik ein Profil verleihen, das den Eindruck erweckt, es sei wesentlich aus den Institutionen selbst heraus entstanden. Die Universalisierung von Gleichstellungspolitik erscheint als ein notwendiges Resultat der Zentralisierung von staatlicher Machtpolitik zum Wohle aller Frauen und Männer. Verloren geht damit auch ein Stück weit die Heterogenität der Frauenbewegungen selbst, die Unterschiede und Hierarchien der Frauen und Frauenbewegungen untereinander, die Produktivität der Diskussion solcher Unterschiede und Gegensätze, kurz die Meinungsvielfalt.

Das immer wieder hervorgehobene Ziel des neuen Konzepts ist die Herstellung von Gleichheit zwischen den Geschlechtern unter Beachtung von Differenz: "Gender equality means an equal visibility, empowerment and participation of both sexes in all spheres of public and private life. Gender equality is the opposite of gender inequality, not of gender difference, and aims to promote the full participation of women and men in society."10

In die Politik eingegangen sind die Debatten der feministischen Wissenschaft um die Begriffe "Gender", "Gleichheit" und "Differenz". Die Repräsentantinnen dieser Entwicklungsprozesse, die Frauenrechtlerinnen und feministischen Wissenschaftlerinnen, sind jedoch unsichtbar geworden. Aus der Vielfalt der Diskussionen wurde eine offizielle Definition ohne jegliches Referenzsystem gebastelt: "Gender is a socially constructed definition of women and men. It is the social design of a biological sex, determined by the conception of tasks, functions and roles attributed to women and men in society and in public and private life. It is a culture-specific definition of femininity and masculinity and therefore varies in time and space. The construction and reproduction of gender takes place at the individual as well as at the societal level. Both are equally important. Individual human beings shape gender roles and norms through their activities and reproduce them by conforming to expectations. There is a growing awareness that gender has to be considered also at a political and institutional level. Policies and structures play a very important role in shaping the conditions of life, and in doing so, they often institutionalise the maintenance and reproduction of the social construction of gender. A history of discrimination and restraining roles is unconsciously written into everyday routines and policies."11

Der in der feministischen Diskussionen differenzierte und durchaus umstrittende "Gender"-Begriff12 wird auf eine willkürliche Festlegung und eine ganz bestimmte Politikform reduziert. In den Dokumenten wird kein Bezug genommen auf die Entwicklung dieses Begriffs, auf die unterschiedlichen Diskussionen, die darum geführt werden und auf seine differenzierenden Inhalte. Es erfolgen keine Verweise auf feministische Theoretikerinnen, die diesen Begriff entwickelt haben, keine Erwähnung des Begriffs "Feminismus" in irgendeiner Form. Der "Gender"-Begriff wird vereinheitlichend besetzt. Dies kann nur funktionieren, wenn politische Geschichte und Geschichte von Frauenpolitik darin nicht mehr vorkommen darf. In einer solchen Ausübung von Definitionsmacht findet dann auch die Kombination mit dem Begriff "Mainstreaming" ihre Logik. Im Mainstream zu schwimmen galt in der Geschichte der Frauenpolitik immer eher als zu vermeiden, weil der Mainstream als gegen die Artikulation differenter Interessen und Minderheiten gerichtet aufgefasst wurde. Nun sollen alle in einem Strom mitschwimmen und die Seitenarme und kleinen Bäche etc. darin einmünden und auf- oder untergehen.13

Als Begründungen für diese neue Gleichstellungspolitik werden angegeben: Verschwendung von Ressourcen, das heißt der Arbeitskraft und Potentiale von Frauen, die Menschenrechte, Langsamkeit der bisherigen Entwicklung der Frauengleichstellung (bei bisherigem Tempo wäre nach UN-Statistik im Jahr 2490 gleiche Beteiligung in allen Bereichen hergestellt), der unzureichende Charakter der bisherigen Frauenförderpolitik, ihr Mangel an Konsequenz und Überprüfbarkeit.

Diesen Einschätzungen werden allerdings keine Analysen zugrundegelegt. Die Frage, wo und wodurch Gleichstellungspolitik bislang auch erfolgreich war und wo sie aus welchen Gründen versagt hat, wäre aber ein wichtiger Indikator dafür, was beibehalten und ausgebaut, und was verändert werden sollte. Es wäre auch ein Beitrag zur Sichtbarmachung von Frauenpolitik, ihrer vielfältigen Möglichkeiten und ihrer Lebendigkeit.

Das Instrumentarium

"Gender Mainstreaming"-Politik setzt auf den Einsatz eines differenzierten Instrumentesystems:

- Öffentlichkeitsarbeit: Kampagnen, Publikationen, Broschüren, Schulbücher etc.

- Netzwerkarbeit. NGOS, Wirtschaftskontakte, Projektvernetzung, national und internationale Kooperationen

- spezielle Programme:Ausschreibungen für Projekte, EU, Bund, Land, Kommune, Frauenförderprogramme, Schaffung von Haushaltstiteln

- Monitoring:Evaluation aller Maßnahmen, Qualitätssicherung, Erstellung, Einhaltung und Kontrolle von Ziel- und Zeitplänen

- Bildungsarbeit:Gender-Trainings: Bewusstseinsherstellung, Instrumentevermittlung, Wissensvermittlung, Herstellung von Gender-Kompetenz

- Wissenschaft: Verstärkung der Forschung zu Geschlechter- und Gleichstellungspolitik, Etablierung als Wissensgebiet, wissenschaftliche Begleitforschung

- umfassende Gleichstellungsstatistiken: Herstellung von Sichtbarkeit, harte und weiche Daten (Statistik und Befragung)

- top-down-Prinzip:sichtbares Engagement der Führungsebene: Schulung, Vorbildcharakter, Verantwortlichkeit, Transparenz der Umsetzungswege. Schaffung von Koordinierungs-und Kontrollstrukturen, flying experts, "Gender Mainstreaming"-Beauftragte, think tanks regelmäßig auf die Tagesordnung der Gremien

- Gleichstellungsprüfung (Gender-Proofing = Gleichstellungsverträglichkeitsprüfung): Gender-Statement, Gender-Expertise

- Gender Impact Assessment (GIA) = Gleichstellungsverträglichkeitsprüfung: Bewertung der geschlechterbezogenen Relevanz. Beschreibung der aktuellen und zukünftigen Situation bezüglich der Entscheidung; Analyse der Strukturen und Prozesse. Aufzeigen der Auswirkungen auf Strukturen und Prozesse; positive oder negative Endbeurteilung der Maßnahme

- SMART (simple method to assess the relevance of policies to gender): An welche Zielgruppen richtet sich die vorgeschlagene Maßnahme? Gibt es Unterschiede zwischen Frauen und Männern in dem vorgeschlagenen Politikbereich bezüglich Rechte, Ressourcen etc.?

Gender-mainstreaming-Instrumente sind (analog zu den Maßnahmen, denen derzeit der gesamte öffentliche und öffentlich geförderte Sektor unterworfen ist) Qualitätssicherungsprozesse mit dem Ziel einer leistungsorientierten Mittelvergabe. Dies bietet zwar zum ersten Mal die Möglichkeit, dass Gleichstellungspolitik nicht nur dem Zufall und good-will konsequenzenlos überlassen bleibt, sondern sich legitimieren muss, aber andererseits wird die Frage nach demokratischer Kontrolle und Umverteilungsprozessen als Aushandlungsprozessen wenig gestellt. Die Fassung von politischen Prozessen in eine Art Kennzifferpolitik kann durchaus vorteilhaft sein, da die Sinnhaftigkeit und der Nutzen politischen Handelns fassbar wird. Das könnte auch eine Chance sein, Menschen für Politik zu interessieren, vorausgesetzt ihre eigenen Interessen kommen zum Zuge und werden einbezogen und zur Grundlage gemacht.

Allerdings ist der wirkliche Erfolg von "Gender Mainstreaming" angesichts der Probleme im entwicklungspolitischen Bereich durchaus anzuzweifeln. Auf EU-Ebene sind die Regierungen bemüht, regelmäßig über Erfolge und "best practice" zu berichten. Als solche werden z.B. genannt:

England, Niederlande, Norwegen: Erstellung eines Handbuchs aufgrund von Trainings und Seminaren, Gleichstellungsorientierte Personalpolitik im öffentlichen Sektor (Management)

Luxemburg:(Leonardo da Vinci Programm): Unterstützung junger Frauen beim Einstieg in die IT-Branche, Unterstützung junger Frauen bei der Integration in den Arbeitsmarkt

Österreich: Trainingsmassnahmen, Seminare für Frauen in Teilzeitstellen

Irland/Schweden: Frauen in die Elektronikindustrie, Untersuchung der Berufswünsche von Mädchen und Jungen in Oberschulen

Frankreich: Rolle und Autonomie von Frauen in Familienbetrieben, Erfassung der Situation. Integration von Frauen in Notunterkünften, Verkauf von Second-Hand-kleidern, Kreativtrainingsprogramme (Dokumentation der eigenen Situation)

Griechenland: Ermutigung von Frauen zum Unternehmerinnentum

Deutschland: Neue Berufschancen, Qualifizierung von Frauen für die Sicherheitsbranche (Schwerpunkt Migrantinnen)

Nordirland: NGO Zusammenarbeit zur bessereren Integration von Alleinerziehenden, Erstellung einer Broschüre

Italien: Soziale Exklusion von alten Frauen in Entwicklungsländern, Studie

Finnland: Familien mit behinderten Kindern, Trainingsprogramm

Schweden: Bekämpfung von Frauenhandel, Erstellung einer Datenbank von NGOs und Vernetzungsstrategien

Es handelt sich um sehr unterschiedliche Projekte. Bemerkenswert ist, bezogen auf die Strategien der einzelnen Länder, dass es keine umfassenden Pläne und langfristigen Zielsetzungen und entsprechende koordinierende Maßnahmen gibt. Dies wäre bei einem Anspruch auf Generalisierung und Universalisierung doch eine zunächst vorzunehmende Maßnahme. "Gender Mainstreaming" zerfällt also bei genauerem Hinsehen wieder in interessengeleitete Einzelmaßnahmen. Diese orientieren sich offenbar vorrangig an wirtschaftlichen Effizienzkriterien und sozialer Befriedung. Informationen über nicht gelungene Projekte und abgelehnte Projekte werden nicht erteilt.

Modernisierte Hierarchiepolitik

Bei den beschriebenen Projekten handelt es sich vorrangig um Bewusstseinsbildungs- und Informations- und Aufklärungsmaßnahmen. Erfolge bewegen sich innerhalb von Statusgruppen. Die Erhöhung des Frauenanteils in der Politik und in Führungspositionen nützt den ohnehin schon privilegierten Frauen und die Verbesserungen der Situation von marginalisierten Frauen bewegen sich auf der Ebene ihres Status und auf der Ebene Hilfe zur Selbsthilfe zu liefern.

Der "Gender"-Begriff im Sinne eines Spiels mit Geschlechterrollen findet keinen Niederschlag in Projekten, welche zum Beispiel sein könnten: Maßnahmen zur Rekrutierung von Männern für die häusliche Pflege, Männer zu Schreibkräften ausbilden, eine Woche Rollentausch von Männern und Frauen in einer Abteilung etc. Offenbar steht die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nur in so weit in Frage, als Frauen in Männerberufe rekrutiert werden oder Frauenarbeit aufgewertet werden soll. Transsexuellenprojekte, Lesben- und Schwulenprojekte finden sich nicht in den Programmen: Bei der Suche nach diesen Stichwörtern auf den Internetseiten der EU finden sich "0 Fundstellen". Ähnlich verhält es sich bei der Eingabe der Begriffe "behinderte Frauen" oder "alte Frauen", auch hier gibt es nur wenige bis gar keine Einträge und Projekte.

Der Anspruch der feministischen "Gender"-Debatte, Geschlechterrollen als konstruierte und dekonstruierbare vorzuführen, scheint in der Vorgabe von "Gender Mainstreaming" nicht politikfähig zu sein. Vielleicht verweist gerade das aber auch auf die Schwachstellen der Genderdiskussionen, nämlich ihre Ausblendung der Gewalt der materiellen, kapitalistischen Grundlagen der Geschlechterhierarchien und der Grenzen einer ideologischen Dekonstruktion derselben.

"Gender Mainstreaming"-Prozesse wurden, auch wenn sie von der UN-Frauenkonferenz angeregt wurden, in der Folge über die EU, ihre Länderregierungen und mit ihnen verflochtene Weltorganisationen installiert. Damit einhergehende oder dem vorausgehende Basisdiskussionen über Sinn, Zweck und Inhalt einer solchen Politik sind nicht erkennbar oder dokumentiert. Kritische Diskussionen glänzen durch Abwesenheit. Dies ist umso bemerkenswerter, als die ideologische Verbreitung und Veröffentlichung von Gendermainstreaming Politik in allererster Linie eine Sache von Internetpräsenzen ist. Während wir nur wenige Buchpublikationen finden, gibt die Suchmaschine zum Stichwort "Gender Mainstreaming" über 30000 Seiten aus. Sie dienen ausschließlich der Präsentation und Propagierung des Konzepts. Interaktive Formen der Auseinandersetzung wie Mailinglisten, offene Diskussionsforen und Newsgroups werden für diesen Prozess nicht in Anspruch genommen. Das ist leicht ohne die Frauen zu machen, sind doch in den Ländern, die sich "Gender Mainstreaming" zur offiziellen Leitlinie gemacht haben, Frauen bei netzpolitischen Aktivitäten deutlich unterrepräsentiert. In den USA hingegen, wo wir die meisten und weitreichendsten politischen Netzaktivitäten von Frauen finden, ist "Gender Mainstreaming" kein Thema. Gerade im Geburtsland der "Gender"-Theorie scheinen die Frauen immun gegen das "Mainstreaming" zu sein, vielleicht ein Effekt der weniger auf staatliche Interventionen ausgerichteten Politik. Möglicherweise deutet die Verflechtung von EU-Politik und Entwicklungspolitik hinsichtlich des "Gender Mainstreaming" auf die Verzahnung von rest- und neokolonialen Interessen im Prozess von Gleichstellungspolitik hin.

Hier existiert ebenso wie bezüglich des gesamten "Gender Mainstreaming"-Prozesses noch reichlich Klärungs- und Diskussionsbedarf.

Große Aufgaben

"Gender Mainstreaming" ist eine modernisierte Gleichstellungspolitik in Form einer modernisierten Hierarchiepolitik. Dem Widerspruch, dass die patriarchalen Mächte sich nun selbst zum Hauptakteur ihrer Abschaffung ausrufen, sollten die Frauen mit der Forderung nach und der Praxis von Demokratieprozessen begegnen. Dabei geht es um viel und entscheidendes:

Die Wiederherstellung einer Dynamik von Kritik und Alternativforen, die Rückeroberung der Definitionsmacht über Begriffe und ihre politischen Implikationen, die Sichtbarmachung von Geschichte, die Organisierung einer alternativen Netzpolitik von Frauen, die Herstellung einer Transparenz der Vergabesysteme, die Demokratisierung der Entscheidungsinstanzen, die Eroberung von Initiativen zur realen Veränderung: auf dem Arbeitsmarkt, in den Bereichen Antidiskriminierung, Interkulturalität, Gleichberechtigung und gleiche Förderung (auch auf der Bewusstseinsebene) unterschiedlicher Lebensformen, Recht auf materiell gesichertes Leben und individuelle Entfaltung ohne Diskriminierung, Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes, Recht auf ein humanes Leben ohne Vorleistung und Leistung.

Ziel der Frauenbewegungen müsste die radikale Anerkennung des Rechts sein, dass kein Mensch aufgrund seines Geschlechts, seiner Herkunft oder seines Wunsches, an einem selbst gewählten Ort zu leben, seiner sexuellen Orientierung, seiner körperlichen Befindlichkeit, seiner Klassenzugehörigkeit über einen anderen Menschen verfügen, ihn an- oder zurechtweisen oder herabsetzen darf. Damit wäre das alte feministische Universalitätsprinzip als Prinzip der Herrschaftsfreiheit zu reformulieren.

Anmerkungen

1) Hannelore Schröder (Hg.): Die Frau ist frei geboren. Texte zur Frauenemanzipation, Bd. 1. München 1979, S. 1ff

2) ebd.

3) vgl. Elke Frederiksen: Die Frauenfrage in Deutschland. Texte und Dokumente. Stuttgart 1981, S.53f

4) vgl. Friedrich Marcus Huebner: Die Frau von morgen wie wir sie wünschen. Frankfurt/M., S.24

5) vgl. Birgit Rommelspacher: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht, Berlin 1995

6) Gender mainstreaming. Conceptual framework, methodology and presentation of good practices. Final Report. www.dhdirhr.coe.fr/equality/Eng/Final%20Report%20Mainstreaming.html

7) vgl. Fortschrittsbericht der Kommission über Folgemaßnahmen zu der Mitteilung: Einbindung der Chancengleichheit in sämtliche politischen Konzepte und Maßnahmen der Gemeinschaft, Brüssel 1999. Die Formulierung der "Doppelstrategie" wird häufig so gelesen, als müsse es sich dabei zwangsläufig um die Möglichkeit spezieller Frauenförderprogramme handeln. Die Formulierung im Fortschrittsbericht lässt dies allerdings offen: Chancengleichheitsprogramme müssen nicht identisch mit Frauenprogrammen sein.

8) In der Praxis zeigte dieser Beschluss das Problem, dass die zugeordneten Institutionen nicht in der Lage waren, ihn umzusetzen, weil ihnen die Kenntnis der Instrumente fehlt, zugleich wurden Frauenprojekte mit dem Hinweis auf "Gender Mainstreaming" nicht mehr befürwortet.

9) Zita Küng hat in einem Vortrag der historischen Dimension eine klare Absage erteilt: "es geht um eine geschlechterbezogene Sichtweise, nicht mehr um eine Frauengeschichte". Das, was Frauen in jahrezehntelanger Arbeit sichtbar gemacht haben, soll nun ebensowenig noch eine Rolle spielen wie der Anspruch der Frauen selbst auf Emanzipation und andere Gesellschaftsmodelle: "Sie sehen: Gender mainstreaming hat nichts mehr zu tun mit irgendwelchen Frauen, die sich gleichstellen wollen. Es hat auch nichts mehr damit zu tun, mit Leidenschaft der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen". Vgl. Zita Küng: Gender mainstreaming versus Gleichstellungspolitik. Sackgasse oder neue Politik für Frauen? Vortrag am Renner-Institut Wien v. 21.11.2000

10) Gender mainstreaming Final Report, a.a.O.

11) Gender mainstreaming, Final Report, a.a.O.

12) Zu Geschichte, Entwicklung und Implikationenen des "Gender"-Begriffs in der feministischen Wissenschaften siehe den Beitrag von Ruth Holm. Pia Grund und Bettina Störtzer in diesem Heft

13) vgl. Heike Weinbach: Gender mainstreaming: mehr geSCHLECHT als geRECHT? In: Politikwechsel in der Wissenschaftspolitik hg. von Benjamin Hoff und Petra Sitte, Berlin 2001

Dr. Heike Weinbach ist Philosophin, Gestaltpädagogin und Frauenbeauftragte an der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin.