Recht auf Faulheit

Allen, die sich der vermeintlichen Alternative zwischen Arbeitssucht und Recht auf Faulheit nicht unterwerfen wollen, bleibt ein Ausweg: Änderung der Bedingungen der Reichtumsproduktion, der Verteilu

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Mit Bundeskanzler Schröder hat die deutsche Republik wieder Anschluss an das Weltniveau gefunden. Endlich ein Kanzler, der nicht nur blendend regiert, sondern auch durch Ideen und Intellekt besticht. Auch wenn es ihm und seinem geistigen Compagnon Tony Blair die politische Linke in Europa noch nicht richtig gedankt hat, wächst doch die Schar derer, die neidvoll zugeben: mit Themen wie "Zivile Bürgergesellschaft" und "Strategie des Dritten Weges" wird das Regieren im 21. Jahrhundert auch geist- und lustvoller.

Seine jüngste Intervention hat der Vorstandsvorsitzende der Deutschland AG über die Bild-Zeitung lanciert: "Bei uns gibt es kein Recht auf Faulheit". Diese Attacke auf den realexistierenden Sozialismus im Turbokapitalismus hat gesessen.

Seit langem untergräbt eine gewisse Sorte von Systemoppositionellen die ökonomischen und moralischen Fundamente unserer Republik. Diese Leute behaupten doch glatt, angesichts der enormen Produktivität und des hohen gesellschaftlichen Wohlstandsniveaus herrschten nur deshalb so trost- und lustlose Zustände, weil die Lohnabhängigen von der Arbeitssucht nicht lassen können. Anders ausgedrückt: nicht Alkohol, Tabak, Haschisch oder Heroin sind die modernen Opiate für das Volk, sondern das Grundübel ist die Arbeit. Diese Leute haben Erfolg, und der ist messbar. Schon haben sich knapp vier Millionen Menschen in die soziale Hängematte des Arbeitslosenversicherung fallen lassen, weitere Millionen frönen dem Recht auf Faulheit über die Sozialhilfe und weitere leben einfach so für sich dahin, ohne gesellschaftliche Ansprüche geltend zu machen. Tag für Tag werden es mehr. Mittlerweile überlegen selbst "Leistungsträger", dem Spiel "Arbeiten ohne Ende" zu entsagen, bevor sie die deutsche Variante des japanischen Karoschi ereilt.

Die Agitation der Systemopposition stützt sich in ihrer Kritik am kapitalistischen Arbeitsethos auf eine Ausarbeitung von Karl Marx' Schwiegersohn Paul Lafargue. Dieser klagte schon 1883: "Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht."

Jahrzehntelang fand das Plädoyer für das Recht auf Faulheit kaum Gehör. Doch rund ein hundert Jahre später zeigen sich die ersten Erfolge in der Suchtbekämpfung. Lohnabhängige wenden sich in größerer Zahl von den Gewerkschaften, den Brutstätten der Arbeitsliebe, ab. Zu Recht: zum Verzichten ist man auf sie nicht angewiesen. Doch in einer Hinsicht hapert es noch: Die Umsetzung der Forderung nach Entkoppelung von Einkommen und Arbeit kommt nicht so recht voran, so dass sich das bürgerliche System - sei es durch die in Aussichtstellung des Suchtpräparats, sei es durch Repression - immer wieder gehaupten kann.

Nun hat also Schröder selbst der Offensive der Lafargue-Jünger den Kampf angesagt. Den Arbeitsunwilligen drohen schärfere Sanktionen. Wer künftig, um aus der Arbeitssucht herausfzufinden, nicht mehr arbeiten wolle, der könne nicht mehr mit der "Solidarität der Gesellschaft" rechnen. Künftig sollen Sozialagenturen - ein Hybridprodukt aus Arbeitsamt, Sozialhilfebürokratie, Polizei- und Spitzeldienst - allen Arbeitsunwilligen konkrete Vorschläge für die Befriedigung ihrer Sucht unterbreiten: Umschulung, Jobs im Niedriglohnsektor, befristete oder geringfügige Beschäftigung, und schließlich - für diejenigen, die die Sucht wieder voll gepackt hat - einen unbefristeten Arbeitsplatz mit jede Menge Überstunden am Wochenende oder zu nachtschlafender Zeit.

Wer hätte dies gedacht: eine linke, sozialdemokratisch-grünökologische Regierungskoalition fördert nicht nur mit allen ihr zur Verfügung stehenden Machthebeln die Umverteilung zugunsten der Unternehmer und Couponschneider, pflegt rassistische Vorurteile auch in Zeiten lebensbedrohender fremdenfeindlicher Attacken ("das Boot ist voll") - sie eröffnet in ihrem Zentralorgan "Bild" den Angriff auf die einzig wahre Systemopposition: Ende mit dem jahrzehntelang im "Rheinischen Kapitalismus" tolerierten und staatlich unterstützten "Recht auf Faulheit".

Zugleich ist damit auch die umstrittene Frage eines modernen Revisionismus in der europäischen Sozialdemokratie entschieden. Hatte doch selbst Bernstein noch das Recht auf Faulheit verteidigt, als die Kapitalisten und ihre Wasserträger den Lohnarbeitern die Lehre von der Enthaltsamkeit predigten. Über ein Jahrhundert später ist klargestellt: die Sozialdemokratie ist und bleibt die Partei der Arbeitssucht und mit der massenwirksamen Aussage im Zentralorgan der Springer-Presse hat ihr Chef unterstrichen: Die SPD steht gradlinig und unverdrossen zur kapitalistischen Gesellschaft und der ihr eigentümlichen Verteilungsverhältnissen.

Schröders Überraschungscoup hat die Lafargue-Anhänger getroffen. Wie sollen sie zurückschlagen? Wie können sie die Ausstiegswilligen, die nun angesichts der Bedrohung mit gekürztem Arbeitslosengeld und gestrichener Sozialhilfe verunsicht sind, bei der Fahne halten? Eine Hoffnung bleibt ihnen: dass die kapitalistische Ökonomie garnicht in der Lage ist, für alle Süchtigen genügend Arbeitsplätze - welcher Qualität auch immer - anbieten.

Allen, die sich der vermeintlichen Alternative zwischen Arbeitssucht und Recht auf Faulheit nicht unterwerfen wollen, bleibt ein Ausweg: Änderung der Bedingungen der Reichtumsproduktion, der Verteilungsverhältnisse und der politischen Repräsentanz.